Was an John Ruskin, Jules Laforgue und Konrad Fiedler noch immer interessant ist ...

 

(Archiviert) Die Kunsttheorie John Ruskins, Jules Laforgues und Konrad Fiedlers, die Max Imdahl am Beginn seines Aufsatzes über Cézanne, Braque und Picasso (Zum Verhältnis zwischen Bildautonomie und Gegenstandssehen, in: Ders., Reflexion, Theorie, Methode. Gesammelte Schriften, Bd. 3, hg. v. Gottfried Boehm, Frankfurt am Main 1996, S. 303-380, hier S. 309-314) in ihren Grundzügen darstellt, klingt auf Anhieb möglicherweise befremdlich, zumal noch immer, obwohl mehr ein Jahrhundert vergangen ist, für das abendländische Denken schwer nachzuvollziehen ist, wie ein Denken ohne Begriffe, ein Denken über den Weg der Anschauung eigentlich aussehen soll.

 

Ihr Sinn und nicht zuletzt ihr Wert zeigt sich indessen im Zusammenhang konkreter Fragestellungen, wie der folgenden.

 

In den 1960er und 1970er Jahren erregte eine Reihe von Performances und Werken der Konzeptkunst dadurch Aufsehen, dass sie 'Betrachter' nicht mehr unbeteiligt, als außenstehende Beobachter in sicherer Distanz verharren ließen, sondern sie so sehr einbezogen, dass aus ihnen für die Aktion notwendige 'Teilnehmer' wurden, dass ohne sie die Performance also nicht hätte stattfinden oder zu Ende geführt werden können.

 

So setzte sich Yoko Ono 1964 in Tokio und 1965 in New York auf den Boden einer Bühne; das zahlreich anwesende Publikum war eingeladen, mittels einer Schere ihre Kleidung zu zerschneiden. Frauen und Männer betraten die Bühne und zerschnitten zunächst die Oberbekleidung, dann auch die Unterwäsche, bis sie Ono so sehr entblößten, dass diese mit der  Hand ihre Brüste bedecken musste.

 

Yoko Ono, Cut piece, Tokio 1964/New York 1965

 

Selbstverständlich stellt sich schon hier die Frage, was daran eigentlich Kunst sei. Es wird weder ein Werk oder 'Monument' geschaffen, das als ein Kunstwerk gelten könnte, noch hat die Aktion irgendwie mit Schönheit zu tun.

 

Aber wir können die Frage sogar noch komplizierter gestalten.

 

Während des so genannten Stanford-Prison-Experience, das 1971 von den US-amerikanischen Psychologen Philip Zimbardo, Craig Haney und Curtis Banks an der Stanford University in Kalifornien durchgeführt wurde, wurden Studenten für 15 Dollar am Tag engagiert und willkürlich in zwei Gruppen von je neun Personen aufgeteilt. Sie sollten das Leben in einem Gefängnis experimentell nachstellen. Ziel war es, das Verhalten der beteiligten Personen zu studieren.

Zu Beginn des Experiments übernahm die eine Hälfte der Studenten die Funktion der Wächter, die andere die von Gefangenen. Schon nach kürzester Zeit geriet das Experiment in eine Krise. Demütigungen und Gewalt, die die erste Gruppe der zweiten gegenüber ausübte, eskalierten in einer Weise, dass bereits nach 6 Tagen (statt der geplanten 14 Tage) das Experiment abgebrochen werden musste, um bleibende Schäden bei den 'Gefangenen' zu vermeiden.

 

Stanford Prison Experience, 1971; Stanford-University

 

Die Frage, die sich in unserem Zusammenhang stellt, ist die nach der Grenze des Kunstwerks zum psychologischen Experiment. Warum ist das eine Kunst und das andere nicht? Warum ist die Performance kein psychologisches Experiment? Was macht Yoko Onos Aktion zu einem Kunstwerk, während das Stanford-Prison-Experiment dasselbe nicht beanspruchen kann? Ist es möglich, diese Grenze genauer zu benennen oder bleibt sie diffus und überschreitbar?

 

Nach den Ausführungen Max Imdahls zu den Theorien von Ruskin, Laforgue und Fiedler gibt es klare Kriterien, mit deren Hilfe die Frage zu beantworten ist. Das Hauptkriterium ist im Grunde das Verhältnis der jeweiligen Aktion zur Begrifflichkeit, zur Sprache.

 

Das Stanford-Prison-Experience war ein psychologischer Versuch, der mittels eines sorgfältig kalkulierten Versuchsaufbaus und einer nach strengen, wissenschaftlichen Regeln verlaufenden Auswertung zu möglichst genau fass- und formulierbaren Ergebnissen führen wollte. Am Ende sollte gewissermaßen ein Begriff stehen, der die Erfahrungen aus dem Experiment 'auf den Punkt brachte' und damit handhabbar, aufgrund seiner Konkretheit für die Zukunft verwertbar machte.

 

Yoko Onos "Cut piece" dagegen funktionierte gänzlich anders. Ziel ihrer Aktion war nicht etwa das Finden eines Begriffs mittels terminologischer Abstraktion. Abstraktion bedeutet in diesem Sinn immer Aufhebung von Komplexität. Kunst aber trägt gerade dieser Komplexität Rechnung, indem sie sich der Welt nicht über Begriffe, sondern über die Anschauung nähert. Imdahl spricht in diesem Zusammenhang von dem Streben der Kunst nach einer "Entbegrifflichung der Welt" (Cézanne - Braque - Picasso, S. 309). Ein Sehen, das nicht durch Begrifflichkeit eingeschränkt ist, sondern über die Anschauung "zu immanent geregelten und ganz aus sich selbst verständlichen Systemen" vordringt (S. 312), muss weder 'auf den Punkt' bringen noch um der Formulierbarheit willen vereinfachen. Vielsagend ist beispielsweise, dass bei einer Performance gewöhnlich eine ausdrückliche 'Auswertung' fehlt: Das Wesentliche ist der Vollzug als solcher, das Geschehen, nicht aber seine begriffliche Festlegung. "Cut piece" ist eben kein psychologisches Experiment, das erst in der begrifflichen Fassung kulminiert und gerechtfertigt wird, so wie das Stanford-Prison-Experience kein Kunstwerk ist, das die Komplexität des Ereignisses so ernst nähme, dass eine begriffliche Fixierung und damit Einschränkung vermieden würde. Kunst funktioniert durch Anschauung und zielt auf Ebenen ab, die kaum über die Fixierung der Sprache zu erreichen sind.

 

Vor diesem Hintergrund könnte man unsere Frage nun sogar noch einfacher beantworten: Was eine Aktion wie Yoko Onos "Cut piece" (und nicht das Stanford-Prison-Experience) zu einem Kunstwerk macht, ist die Künstlerin (bzw. der Künstler) - ihre/seine Persönlichkeit, ihre/seine ganze Existenz und das mit dieser entwickelte und durch sie verkörperte Konzept von Kunst. Yoko Ono geht mit einem gänzlich anderen Interesse an ihr "Experiment" heran als die Wissenschaftler der Stanford University, und diesem Interesse entspricht ihr Vorgehen, das in der Anschauung, nicht in der begrifflichen Fixierung, zu seinem Höhepunkt gelangt.

 

Valie Export, Tapp- und Tastkino, München 1968

 

Während solcher Aktionen oder Vollzüge werden die Teilnehmer auf sehr viel unmittelbarere und zugleich vielschichtigere Weise angesprochen, als wenn sie sich dem Ereignis über Worte bzw. Begriffe nähern würden, und selbst die anschließende Reflexion findet auf andere Weise statt, wenn sie nicht in eine Terminologie gepresst werden muss - und das muss Kunst ja nicht, ganz im Gegenteil: sie vermeidet diese begriffliche Fixierung gerade, um stattdessen die Komplexität des Erlebnisses zu erhalten.

 

Max Imdahl nannte das, was die Kunsttheorien des späten 19. Jahrhunderts anstrebten,  "Entbegrifflichung der Welt" (S. 309) und von den genannten Theorien ausgehend führte bis zum frühen 20. Jahrhundert der Weg der Kunst über die Abstraktion zur ungegenständlichen Kunst, zur 'reinen Malerei' (*Anmerkung unten). Aber selbst wenn auch ein Kind ungegenständlich malen kann, so wird daraus ebenso wenig Kunst, wie das Stanford-Prison-Experience Kunst war, denn es steht dahinter nicht das künstlerische Konzept der Entbegrifflichung - der Wille zu einem künstlerischen Zugang zur Welt, der konstitutiv ist für die Entstehung von Kunst.

 

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* An dieser Stelle soll noch einmal auf den Unterschied zwischen Ungegenständlichkeit und Abstraktion hingewiesen werden. Abstraktion ist eine Weise der Darstellung bzw. Formgebung, die sich in erster Linie durch formale Vereinfachung auszeichnet. Auch ein Gegenstand kann auf abstrakte Weise und sogar in unterschiedlichen Graden an Abstraktion dargestellt werden (vgl. den Kubismus). Ungegenständlichkeit dagegen geht nicht von einem Gegenstand aus, beschränkt sich stattdessen auf Formen, Linien oder Farben (Imdahl nennt dies 'autonome Formgebung'). Robert Delaunays Kreisformen und Simultanscheiben zählen ebenso dazu, wie Jackson Pollocks "Drippings" und Barnett Newmans, Clifford Stills oder Mark Rothkos Werke; diese unter dem Namen "Abstrakter Expressionismus" zu fassen, ist strenggenommen also unrichtig, denn diese Form des Expressionismus ist nicht (nur) abstrakt, sondern (vor allem) ungegenständlich; richtiger wäre also der Name "Ungegenständlicher Expressionismus".