Das Problem mit der 'Natur'

Wenn Kunsthistoriker von "Natur" sprechen, meinen sie damit gewöhnlich nicht die Natur im ökologischen Sinn. Im kunsthistorischen Kontext meint das Phänomen vielmehr die äußerlich sichtbare Wirklichkeit. 'Nach der Natur' zu arbeiten, muss nicht heißen, dass man einen Baum malt. Es kann auch bedeuten, dass man auf einem Industriegelände sitzt und einen Hochofen malt. Aber man muss sich körperlich 'draußen' befinden und den Hochofen materiell, also 'wirklich' vor sich haben. (Der klassische Gegensatz zur 'Natur' ist entsprechend das Atelier.)

 

Lange Zeit galt als das höchste Ziel von Kunst, die sichtbare Wirklichkeit möglichst 'richtig' darzustellen. Noch heute beurteilen Laien gelegentlich die "Qualität" von Kunst daran, wie gut es ein Maler versteht, etwas abzubilden, was er in der Wirklichkeit vor sich sieht. Ein Porträt beispielsweise soll in dieser Sichtweise vor allem wiedererkennbar sein, dann ist der Künstler 'gut', der es geschaffen hat. (In Wirklichkeit ist dies eine handwerkliche Kategorie, keine künstlerische.)

 

Tatsächlich gab es eine Zeit innerhalb der nun gut 1200 Jahre währenden Geschichte der abendländischen Kunst (Anm. 1), in der es das vorrangige Ziel der Künstler war, Wirklichkeit möglichst wirklichkeitsgetreu darzustellen, sie auf ihren Tafeln und Leinwänden also möglichst genau nachzuahmen (Fachbegriff: Mimesis). Dieses Bemühen wurde maßgeblich gefördert durch die Entwicklung der Technik der Ölmalerei und durch die Erfindung der Regeln der Fluchtpunkt- oder Linearperspektive (auch Zentralperspektive genannt). Beides fand im frühen 15. Jahrhundert statt. Das erste wird gewöhnlich verbunden mit dem Namen der Brüder Hubert und Jan van Eyck (was historisch nicht ganz stimmt), das zweite geschah in Italien durch den Architekten und Mathematiker Filippo Brunelleschi.

 

Nachfolger des Robert Campin (Meister von Flémalle?), Jungfrau mit Kind, um 1440; London, National Gallery

 

Bilder wie diese Darstellung der Maria mit dem Jesuskind, etwa in der Mitte des 15. Jahrhunderts vermutlich von einem Schüler des Robert Campin gemalt, zeigen nicht nur die meisterhafte Beherrschung der neuen Technik der Ölmalerei (Anm. 2), sie legen auch Zeugnis davon ab, wie sehr die neuen Möglichkeiten dieser Technik den Künstler dazu animieren, seine Umgebung genau und immer genauer zu beobachten. Noch im Jahrhundert zuvor hatten sich die Künstler weitgehend auf die theologischen Inhalte ihrer Bilder konzentriert. Die Aspekte der Technik der Malerei als Möglichkeit der Nachahmung der Natur - eigentlich: von Wirklichkeit - hatten sie nur in Ausnahmefällen genutzt.

Das ist beispielsweise an der wegen ihrer Herkunft so genannten Glatzer Madonna gut zu beobachten, die etwa in der Mitte des 14. Jahrhunderts entstanden ist: Die Darstellung ist ganz auf die thronende, mit einer großen Krone gekrönte Madonna und ihren riesigen Thron konzentriert, der sie - Maria - als "Thron Salomos", als "Sitz der (göttlichen) Weisheit", letztlich also Maria als Thron für Christus, den 'neuen Salomo', deutet. Die Architektur des Throns wie auch Engel, Löwen und nicht zuletzt die kleine Stifterfigur zu ihren Füßen werden vom Maler nicht eigens thematisiert, sie sind eher Randphänomene. Künstlerisch faszinieren sie den Betrachter nicht in der gleichen Weise, wie es die zahlreichen Details im Werk des Campin-Nachfolgers tun. Dort gibt es von den Schnitzereien an der Kommode im Vordergrund bis zu dem Ausblick aus dem Fenster im Hintergrund so viele Dinge, die den Blick des  

 

 

 

 

 

 

Glatzer Madonna, böhmisch, um 1350; Berlin, Staatliche Museen zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz, Gemäldegalerie

 

Betrachters auf sich ziehen und seine Bewunderung erregen, dass es leicht geschehen kann, dass über der faszinierten Betrachtung der eigentliche, theologische Sinn des Bilds ins Hintertreffen gerät.

  

Die einzige Ausnahme bei der Glatzer Madonna bildet die Rückenlehne des Throns, auf dem die Gottesmutter Platz genommen hat. Die auffällige Struktur soll, so wird in der Forschung angenommen, wahrscheinlich auf Zedernholz hinweisen, womit der Maler einen weiteren theologischen Hinweis auf den Bau des Tempels durch den legendären König Salomo gibt, denn dort spielte das kostbare, golden schimmernde Zedernholz im Verein mit anderen wertvollen Materialien eine große Rolle.

Auch der Campin-Nachfolger stellt Materialien dar: Da ist beispielsweise der goldene Kelch, der am rechten Bildrand auf der Kommode steht. Da sind verschiedene Hölzer wie das der Kommode, der dahinterstehenden Bank und des Fenster-Ladens, der so auffällig den Blick auf sich zieht und ihn durch das Fenster hindurch auf die Stadt im Hintergrund weiterleitet. Da ist Stein, mit dem beispielsweise der Kamin eingefasst ist. Da sind unterschiedliche Stoffe, die die Gewänder Mariens oder Gegenstände im Raum umhüllen und fast druchweg in einem deutlich übertriebenen Faltenwurf gezeigt wird; da ist sogar weich wirkender Pelz, mit dem das Gewand Mariens an den Armen verbrämt ist und der offenbar sogar als Futter des gesamten Obergewands der Gottesmutter dient. Nicht zuletzt sind da Haut und Haare der dargestellten Personen und das kostbare Buch mit seinen aus Pergament gefertigten, bemalten und beschriebenen Buchseiten. Da sind Stickereien mit Goldfäden und Edelsteinen auf einer Borte am Gewand Mariens.

Und da ist nicht zuletzt jener eigenartige, offenbar geflochtene Schirm, der vor das Feuer im Kamin gerückt ist, damit keine Funken in den Raum hinein fliegen können (übrigens ist oberhalb des Schirms auch ein ganz kleines Stückchen des Feuers selbst zu sehen - die Darstellung einer lodernden Flamme ist das vielleicht schwierigste Problem innerhalb der Technik der Malerei, dem sich ein Maler stellen konnte und kommt daher nur ganz selten oder, wie hier, in sehr kleinen Ausschnitten vor).

An gerade dieser Stelle wird aber auch das umwälzend Neue dieser neuen Art der Malerei deutlich, ein Phänomen, das vielleicht zum ersten Mal innerhalb der Geschichte der Kunst seit der Zeit der frühen Karolinger (8./9. Jahrhundert) überhaupt begegnet, das aber gewissermaßen den Weg der Kunst zu sich selbst, einen Weg der unaufhaltsamen Emanzipation der Kunst aus der bis dahin selbstverständlichen Indienstnahme durch Theologie und Kult deutlich macht.

"Das umwälzend Neue dieser neuen Art der Malerei" mag für das 14. Jahrhundert überraschend klingen. Ich meine damit das Folgende:

Die so genannten Frühen Niederländer, zu denen der Nachfolger Robert Campins, der die "Madonna vor dem Kaminschirm" malte, gehört, hatten also beschlossen, das, was sie sahen - die 'Wirklichkeit' oder, wie der Kunsthistoriker sagt, die 'Natur' -, nach Möglichkeit ganz genau so wiederzugeben, wie sie es sahen. Das galt für die Textilien ebenso wie für andere Materialien, selbst wenn das streng theologisch ohne Belang und damit ohne unmittelbare Bedeutung für die (thologische) Aussage des Bilds war.

Dieser Beschluss allerdings hatte Konsequenzen, die weiter reichten, als die Künstler selbst das vielleicht erwartet hatten. Denn es bedeutete im Umkehrschluss, dass von nun an Dinge nicht mehr dargestellt werden durften, die es in der 'Natur' nicht gab!

Wenn wir uns daraufhin die Glatzer Madonna ansehen, dann sind da nicht nur die auffallenden Größenunterschiede, sondern da sind auch beispielsweise die Nimben, die Christus und Maria als heilig kennzeichnen. U.a. diese beiden, im Bild sichtbaren Merkmale weichen von der 'Natur' ab: dort gibt es sie nicht.

Masaccio, Der Zinsgroschen, 1425–1428; Florenz, Santa Maria del Carmine, Brancacci-Kapelle

 

 

 

 

Noch Masaccio, der wohl als erster die von Brunelleschi entwickelten Regeln der Fluchtpunktperspektive in ein Bild umsetzte (Dreieinigkeit, 1427; Florenz, Santa Maria Novella) und damit Furore machte, fasste Nimben bzw. einen Heiligenschein ganz materiell als goldene Scheibe hinter dem Kopf der entsprechenden Person auf und unterzog sogar sie der perspektivischen Verkürzung, was mitunter zu kuriosen Ergebnissen führte, wie beispielsweise auf seinem "Zinsgroschen"-Fresko in der Brancacci-Kapelle in Florenz zu beobachten ist.

 

 Die Frühen Niederländer allerdings zogen eine andere Konsequenz: Heiligenscheine sind in der Natur nicht sichtbar. Jan van Eyck, einer der frühesten der Frühen Niederländer, deutete sie zumindest als Lichtschimmer oder als Strahlenkranz und deutete einen solchen an, indem er Lichtstrahlen hinter dem Kopf der von ihm dargestellten Heiligen zeigte.

 

Hubert(?) und Jan van Eyck, Genter Altar, geöffneter Zustand (Detail: Maria der Deesis-Gruppe), Fertigstellung 1432; Gent, S. Bavo

 

 

Doch der Campin-Nachfolger, der die "Madonna vor dem Kaminschirm" malte, ging weiter: Bei ihm bekommt weder die Gottesmutter, noch der - im Übrigen ungewöhnlich kindlich aussehende - Jesus-Knabe einen solchen tatsächlich nicht existenten Heiligenschein.

Allerdings bekam er dann ganz offensichtlich Angst vor der eigenen Courage. Immerhin brach er damit mit einer Tradition, die schon Jahrhunderte zurückging. Einen Heiligen ohne Heiligenschein darzustellen, mochte ihm als allzu mutig, wenn nicht gar als Sakrileg erscheinen, das entsprechend den wütenden Protest der frommen Betrachter bzw. Beter und vielleicht andere Konsequenzen für den Maler nach sich ziehen würde.

Seine Lösung: Er positionierte den Schirm, der vordergründig die Stube Mariens vor dem Funkenflug schützen sollte, so, dass er exakt - also nicht ungefähr und damit zufällig - hinter der Gottesmutter zu stehen kommt und auf diese Weise optisch die Funktion eines Nimbus übernimmt. So stellt er zwar auf der einen Seite nichts dar, was nicht tatsächlich mit den leiblichen Augen in der 'Natur' zu sehen ist, auf der anderen Seite aber zeichnet er die Gottesmutter optisch trotzdem aus, als hätte sie einen Nimbus!

Im Übrigen ist auch die Maria, die das Christus-Kind stillt (Fachbegriff: Maria lactans), ein Typus der Mariendarstellung, die sich erst im späten Mittelalter verbreitet (berühmte Darstellung: Jean Fouquet, Madonna mit Kind umgeben von Engeln, um 1450; Antwerpen, Königliches Museum der Schönen Künste).

Dieser Typus mag mit dem zunehmenden Interesse an 'realistischen' Darstellungen der Gottesmutter zu tun haben, das im Zuge der immer genaueren Beobachtung der Wirklichkeit durch die Künstler erwacht war.

Der Campin-Nachfolger, der die Madonna vor dem Kaminschirm malte, ging in seinem Bemühen um ein wirklichkeitsnahe Darstellung sogar so weit, die blauen Adern zu zeigen, die unter der Haut der entblößten, rechten Brust der Gottesmutter sichtbar werden, wie auch einen Tropfen Muttermilch, der aus der Brust hervorkommt.

Vor diesem Hintergrund fällt andererseits nun aber auch auf, dass der Knabe schon deutlich älter ist als ein Neugeborener. Aber der Künstler stellt ja auch nicht die Szene der Geburt Christi dar. Und auch die Kleidung Mariens entspricht erkennbar nicht den historischen Umständen des Lebens Mariens. Das erkennbare Bemühen um eine wirklichkeitsnahe Darstellung schließt also tatsächlich noch nicht den historisch-kritischen Blick auf die Geschichte ein, der sich erst im Zuge der Aufklärung entwickeln sollte.

In einer Hinsicht aber ist diese Malerei wirklich neuartig: Sie stellt den theologischen Gehalt der Geschichte nicht mehr durch Symbole und Metaphern dar, sondern sie erhebt den Anspruch, die Welt - die 'Natur' - so zu zeigen, wie sie tatsächlich zu sehen ist. Damit tritt die Malerei ein Stück weit aus der Indienstnahme - man mag auch 'Gängelung' dazu sagen - der Theologie heraus und erhebt eigene Ansprüche, denen sich die theologische Aussage in gewisser Weise einfügen muss. Symbole und Metaphern, der eigentliche, theologische Gehalt eines Bilds, werden auf diese Weise für den Betrachter schwieriger zu erkennen, aber die Kunst der Ausführung eines solchen Werks bekommt von ästhetischen Standpunkt aus einen wesentlich höheren Rang. 

 

Dies ist ein weiterer, grundlegender Schritt der Kunst auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit, an deren (vorläufigem) Ende sie irgendwann, Jahrhundert später, ihren Wert überhaupt nur noch in sich selbst sehen wollte (l'art pour l'art). Allerdings gehört dazu auch, dass bis dahin das alte, christliche Weltbild in sich zusammengefallen ist und kein neues, verbindliches an seine Stelle getreten ist.


Anmerkungen

(1) Im Sinn der akademischen Definition der 'abendländischen Kunst' beginnt deren Geschichte im Zeitalter der Karolinger, etwa mit der Gestalt Karls des Großen (747/48-814); dieser Definition zufolge gehören weder die spätantike/frühchristliche, noch die byzantinische Kunst (noch die Kunst der Völkerwanderungszeit) zur 'abendländischen' Kunst. Selbstverständlich sind die gegenseitigen Bezüge jedoch eng.

(2) Während der Künstler die Ölmalerei und ihre Möglichkeiten, mit ihrer Hilfe die unterschiedlichen Materialien überzeugend darzustellen, beherrscht, zeigen u.a. die Bodenfliesen, dass er zwar eine Ahnung, aber kein konkretes Wissen über die Regeln der Fluchtpunktperspektive hat. Wenn man nämlich die Linien, die in den imaginären Raum hinein führen, weiterführt, so treffen sie nicht in einem einzigen Fluchtpunkt zusammen, wie es Brunelleschis Methode vorsieht; dies ist das eigentliche Geheimnis, das in der zeitgleichen, italienischen Malerei zu den verblüffenden Illusionen von Raum auf einer zweidimensionalen Bildfläche führt, die der Campin-Nachfolger nur auf intuitive Weise herstellen kann - was er indessen auf ziemlich überzeugende Weise schafft.