Hier finden Sie folgende Texte:

  • Ein unbeachtetes Detail mit faszinierenden Folgen
  • Wie funktioniert kunsthistorische Forschung? Ein Beispiel

 

Ein unbeachtetes Detail mit faszinierenden Folgen

Der Band "Woran stirbt Jesus Christus? Und warum?" über die Kreuzigungstafel des Isenheimer Altars steht kurz vor der Veröffentlichung - da plagen mich als Autor Zweifel. Habe ich einen bestimmten Aspekt des Bilds genügend gewürdigt? Oder gehört er gar nicht in das Buch? - Letzteres kann ich mit Sicherheit verneinen, aber Ersteres? Sollte dieses Detail nicht einen größeren Stellenwert, damit mehr Raum in dem Buch erhalten? Bisher verweise ich nur in einer Anmerkung darauf, um den 'Gang der Erzählung' nicht zu stören.

 

Worum geht es?

 

Es geht um ein Detail, das wir die ganze Zeit, wenn wir den Isenheimer Altar betrachten, vor Augen haben, es aber gewöhnlich nicht beachten - jedenfalls ist es mir in der Forschungsliteratur, soweit ich mich erinnern kann, bisher nicht begegnet. Und mir selbst ist es erst vor einiger Zeit aufgefallen.

 

 

Das Detail tritt an zwei Stellen auf: ganz am oberen Bildrand (Bild oben) und ganz am unteren (Bild unten), dort, wo die Bildtafel auf den Bildrahmen trifft.

 

 

Worauf es mir ankommt, ist die Stellung des Kreuzes zum Bildrahmen. Man könnte auch sagen: die Entfernung des Kreuzes zum Bildrahmen, vielmehr: die Nähe. Das Kreuz ist so gemalt, dass es oben und unten vom Bildrahmen angeschnitten wird.

 

Der Bildrahmen kennzeichnet die Bildebene - also die Ebene, auf der das zweidimensionale Bild gemalt ist, - wie der vordere Bühnenrand jene Ebene bezeichnet, hinter der alles spielt, das auf der dreidimensionalen Bühne zu sehen ist. Alles Dargestellte muss sich aus Gründen der Logik hinter dieser Bildebene (dem Bühnenrand) befinden, hinter dem Bildrahmen also, in dem Raum, der sich hinter dem Bildrahmen öffnet. Was an diesen Rahmen - oben und unten, nicht an den Seiten - anstößt oder von ihm gar angeschnitten wird, muss räumlich gesehen von hinten an ihn anstoßen oder ihn gar nach vorne hin überschreiten.

 

So markiert beispielsweise in der Mailänder Pietà von Giovanni Bellini (um 1460; Mailand, Pinacoteca di Brera) die Brüstung am unteren Bildrand zugleich den vorderen Rand des Bilds (bzw. der Bühne). Die Hand Christi, die auf dieser Brüstung liegt, suggeriert gewissermaßen schon deren Überschreitung nach vorne, in den Raum des Betrachters hinein ('suggeriert' meint, dass diese Hand die Überschreitung zwar andeutet, sie tatsächlich aber nicht vollzieht). Strenggenommen hängt der Zettel, der sich an der vorderen Wand der Brüstung befindet, bereits im Raum des Betrachters vor dem Bild (der optische Effekt ist hier jedoch noch verhältnismäßig gering).

Wenn wir unter diesem Gesichtspunkt nun die beiden oben gezeigten Bilder der Kreuzigungstafel des Isenheimer Altars betrachten, die ich bewusst mit dem Bildrahmen zeige, dann fällt auf, dass die vordere Kante des Kreuzstamms unmittelbar an den Bildrahmen anstößt, so wie es auch der Saum des Kleids der Maria Magdalena tut (Bild oben). Die vordere Kante des nur ganz leicht schräg gestellten Kreuzstamms stimmt also mit der Bildebene, dem vorderen Rand des Bild- oder Bühnenraums, weitgehend überein. Das heißt der Kreuzstamm liegt genau auf dieser (Bild-)Ebene. Die vordere linke Ecke des Kreuzstamms stößt, wenn man sich das Kreuz dreidimensional vorstellt, von hinten direkt an die Bildebene an - wäre diese durch einen Gazestoff sichtbar gemacht, würde das Holz des Kreuzstamms dort an diesen Stoff stoßen, ihn vielleicht sogar ein Stück nach vorne drücken.

 

Wenn dies aber so ist - und daran kann bei genauem Hinsehen kein Zweifel bestehen - wo befindet sich dann der Körper Christi, der an diesem Kreuz hängt (wenn wir ihn uns ebenfalls dreidimensional vorstellen)? Auf welcher Seite des erwähnten Gaze-Stoffs wäre das Schild mit der Inschrift "INRI" zu finden? Und wohin ragt das so auffällige, ausladende Suppedaneum (Fußbrett) mit den noch weiter hervor ragenden Füßen Christi?

 

 

Die Antwort lautet: der Körper Christi, der am Kreuz hängt, muss sich räumlich gesehen vor der Bildebene befinden.

Wenn der Gazestoff auf der Höhe des Bildrahmens gespannt ist und die Vorderseite des Kreuzstamms von hinten an ihn anstößt, können sich Suppedaneum, Füße und der Körper Christi nur vor ihm befinden, damit im Raum des Betrachters vor dem Bild.

 

Wenn das aber so ist, dann lässt sich auch die eigentartige Haltung der Maria Magdalena erklären. Denn sie kniet zwar (fast) ganz am vorderen Bild- oder Bühnenrand und damit wirklich unter dem Kreuz, aber um von diesem Punkt aus dem Gekreuzigten ins Gesicht sehen zu können, muss sie sich von ihr aus gesehen zur Seite neigen, das bedeutet: vor die Bildebene, geradezu aus dem Bild heraus. Tatsächlich neigt sie sich dem Betrachter entgegen, in dessen Raum vor dem Kreuz hinein.

 

 

Wir kennen ähnliche Überschreitungen des Bildraums nach vorne von anderen Beispielen in der Kunstgeschichte. Ich habe oben bereits eines von mehreren Beispielen des Giovanni Bellini gezeigt. Ein geradezu spekakuläres Beispiel innerhalb der italienischen Kunstgeschichte bietet Andrea Mantegna mit seiner "Beweinung Christi".

 

Andrea Mantegna, Beweinung Christi, um 1490-1500; Mailand, Pinacoteca di Brera

 

Auch hier ist die Bildebene oder der vordere Bühnenrand durch den vorderen Rand der Steinplatte gekennzeichnet, auf der der tote Christus liegt. Über diesen Rand jedoch ragen die Füße Christi hinaus und reichen damit optisch in den Raum des Betrachters vor dem Bild hinein.

 

Nördlich der Alpen ist es vor allem Jan van Eyck, der mit dieser Grenze spielt, und dies noch sehr viel früher, als es die Italiener tun. Dabei geht er subtiler vor, als es beispielsweise Mantegna tut. In der (Doppel-)Tafel der "Verkündigung" des Genter Altars (fertiggestellt 1432; Gent, St. Bavo) lässt er einen Schatten des realen Bildrahmens in das Bild hinein fallen. Im "Verkündigungs"-Diptychon der Sammlung Thyssen-Bornemisza (1439; Madrid) treibt er das Verwirrspiel noch weiter.

 

Hier verwischt er die Grenzen zwischen Kunst und Realität so weit, dass sie kaum noch aufzulösen sind (schon gar nicht mit einer Reproduktion; die Auflösung ist allein am Original möglich, wo zu erkennen ist, wo der reale Rahmen aufhört und das gemalte Bild beginnt). Dabei nutzt er nicht nur die Möglichkeit, die Grenze zwischen Bildraum und Betrachterraum zu überschreiten (Schatten und Engelsflügel scheinen deutlich vor dem Bildrahmen zu sein), sondern er vermischt auch die verschiedenen Kunstgattungen: er malt Skulpturen. Nur so ist es auch möglich, dass die Taube des Heiligen Geists ohne eine sichtbare Halterung vor der schwarzen Marmorplatte zu schweben scheint.

 

Aber es gibt noch andere Möglichkeiten für eine solche optische Überschreitung des Bildraums in den Betrachterraum hinein.

 

Francesco del Cossa, Verkündigung, 1470-72; Dresden, Staatliche Kunstsammlungen

 

 

Der aufmerksame Betrachter entdeckt beispielsweise auf dieser "Verkündigung" von Francesco del Cossa - vielleicht etwas irritiert - eine Schnecke, die zu Füßen des Erzengels Gabriel durch das Bild zu kriechen scheint. Ist das ein Scherz?

Der Dresdener Sammlungskatalog versucht der Schnecke, die - so wörtlich! - "am unteren Bildrand entlang kriecht", eine theologische Bedeutung zu geben, indem er die Schnecke als ein "Symbol für die Reinheit Mariens" bezeichnet. Wer jedoch genauer hinieht, erkennt, dass die Schnecke ebenso 'falsch' dargestellt ist, wie der Katalogtext sie falsch beschreibt.

Diese Detailvergrößerung, die zudem den realen Bildrahmen mit einbezieht, zeigt, dass die Schnecke perspektivisch nicht etwa den Bodenplatten des Bildraums entsprechend konstruiert ist, so dass sie sich über diese Platten hinweg bewegt, sondern dass sie stattdessen so gemalt ist, als wenn sie über den Bildrahmen kriechen würde.

Wäre sie ein Teil des gemalten Bildraums - würde sie also der Realitätsebene des Engels und der Maria angehören -, müsste sie in Aufsicht, also von oben, zu sehen sein, so wie es das Gewand des Erzengels ist, das sich etwas weiter links ebenfalls am unteren Bildrand befindet. Tatsächlich ist die Schnecke jedoch direkt von vorne gezeigt, als würde sie über den Rahmen des Bilds kriechen und sich damit vor der Bildebene, im Raum des Betrachters vor dem Bild befinden.

 

Alle diese Beispiele zeigen, wie Maler mit der Grenze zwischen Bild- und Betrachterraum spielen. Ob dahinter ein theologisches/spirituelles Konzept steht - um beispielsweise die Bedeutung der dargestellten Szene für die Gegenwart des Bildbetrachters deutlich zu machen -, soll an dieser Stelle dahingestellt bleiben.

Michelangelo Caravaggio, Evangelist Matthäus, 1602; ehemals Berlin, SMB-PK (verschollen)

 

Ob beispielsweise der ungewaschene, linke Fuß des bäuerlichen Evangelisten Matthäus, der in Caravaggios Altarbild deutlich über die Bildebene hinausragt und zudem dem zelebrierenden Priester am Altar unmittelbar vor Augen gestanden hätte, wirklich eine solche theologische Bedeutung hatte, erscheint zweifelhaft. Hier scheint es eher um einen spektakulären Effekt gegangen zu sein, um die Demonstration handwerklich-künstlerischer Virtuosität - vielleicht entsprach es aber auch ganz einfach Caravaggios ganz eigener Art von Humor (jedenfalls wurde das Bild von den Auftraggebern nicht zuletzt aus diesem Grund nicht angenommen, Caravaggio musste stattdessen eine neue, harmlosere Version des Bildvorwurfs malen).

 

In jedem Fall ist es überraschend, dass wir eine solche Rafinesse ausgerechnet bei Mathis Gothart Nithart finden, der gemeinhin als ein zwar großartiger, für seine Zeit jedoch eher konservativer Maler gilt. Tatsächlich scheint er mit einigen seiner Werke noch gewissermaßen mit einem Bein im Mittelalter zu stehen (z.B. das "Schneewunder" vom Marie-Schnee-Altar, um 1519; Freiburg im Breisgau, Augustinermuseum).

 

 

Auch der Größenunterschied an der Kreuzigungstafel des Isenheimer Altars wird gemeinhin so erklärt, dass Mathis sich des eigentlich überholten, künstlerischen Mittels bedient habe, die bedeutsamste Gestalt seines Bilds den Regeln der Fluchtpunktperspektive zum Trotz in seinen Proportionen zu vergrößern, etwas, das wir aus dem Mittelalter als 'Bedeutungsperspektive' kennen.

 

Nach den oben geschilderten Beobachtungen wäre die (Über-)Größe des gekreuzigten Christus jedoch noch auf eine andere Weise zu erklären: Sie könnte der Tatsache geschuldet sein, dass der Körper Christi deutlich vor dem Bildrahmen hängt und damit dem Betrachter theoretisch sehr viel näher ist als die Figuren, die hinter dem Bildrahmen, innerhalb des Bildraums verharren. Vor diesem Hintergrund wäre geradezu zwangsläufig, dass der Gekreuzigte größer dargestellt wird. Nur so kann er optisch aus der Bildebene heraus, vor den eigentlichen Bildraum treten.

 

 

Ob eine Darstellung dieser Zusammenhänge, die eine eigene Untersuchung wert wäre (zu der es bereits einige Literatur gibt), den 'Gang der Erzählung' des Buchs über die Kreuzigungstafel des Isenheimer Altars in der Reihe "einblicke" eher stört, werde ich in den kommenden Tagen entscheiden müssen. Vielleicht gelingt es ja, den Gedanken zumindest anzudeuten und auf diese Weise zum genaueren Hinsehen und Weiterdenken zu animieren.

 

Wie funktioniert kunsthistorische Forschung? Ein Beispiel

Unter Kunstliebhabern wird gelegentlich kunsthistorische Forschung unterschätzt. Anders als bei den Naturwissenschaften scheint Kunst jedem zugänglich zu sein und eine Wissenschaft unnötig; ihre Erkenntnisse werden nicht selten belächelt, angezweifelt, ignoriert oder sogar aus subjektiven Erwägungen korrigiert mit dem einfachen Argument: "ich sehe das eben anders".

 

Dass trotz aller Wissenschaftlichkeit auch kunsthistorische Erkenntnisse Ergebnisse wissenschaftlicher Analysen sind und in diesem Sinn zwar gut begründet, aber dennoch - wie es bei den Geisteswissenschaften allgemein der Fall ist - zeitbedingt und korrekturbedürftig sein können, dass sie immer nur so lange gelten, wie nicht ihr Gegenteil bewiesen ist, ist eine Grundeinstellung von Wissenschaft, auch und gerade von Sozial- und Kulturwissenschaften. Allerdings bedeutet dies keineswegs, dass zu korrigierende, ältere Forschungsergebnisse deswegen wertlos würden. Sie sind Stufen auf einer Treppe, die langsam immer weiter hinauf führt - wahrscheinlich ohne jemals an ein Ende zu kommen - und an der jede einzelne Stufe wichtig ist.

 

Ein Beispiel

Die 1960er/70er Jahre waren eine Zeit, in der innerhalb der Wissenschaft der Kunstgeschichte der Blick intensiv auf das Studium von Quellen, von Schriftdokumenten gelenkt wurde. Auch dies war ein Fortschritt, denn in der Zeit davor hatte man sich auf rein kunstimmanente Phänomene konzentriert - "Stilkritik" hatte das Thema geheißen und war seinerseits ein Fortschritt gegenüber der vorhergehenden Zeit gewesen. Nun aber wurde die Stilkritik abgelöst durch eine gewisse Vorform von Interdisziplinarität - in die Interpretationen der Kunstwerke wurden schriftliche Zeugnisse einbezogen, auch und gerade solche, die nicht explizit Kunst zum Thema hatten, sondern eher die Geistesgeschichte der Zeit geprägt oder ausgedrückt hatten.

 

Abbildung 1: Mathis Gothart Nithart, genannt Grünewald, Johannes der Täufer (Isenheimer Altar, Schauseite 1/ Werktagsseite: Kreuzigung Christi), 1512-1516; Colmar, Unterlinden-Museum

 

 

 

Der Kunsthistoriker Ewald M. Vetter (1922-2006) hat sich intensiv mit Mathis Gothart Nithart beschäftigt, der damals noch "Matthias Grünewald" genannt wurde. (Es geht hier nicht darum, die Forschungserkenntnisse bezüglich dieses Namens, der auf einen Irrtum zurückgeht, aufzuzeigen - allerdings wäre dies ebenfalls ein gutes Beispiel für Erkenntnisfortschritte und Korrekturen kunsthistorischer Forschung). Im Zusammenhang des Isenheimer Altars behandelte er in einem Vortrag (veröffentlicht 1968 in den Sitzungsberichten der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Phil. Hist. Klasse, Supplemente, 1968/2) unter anderem die Gestalt des Täufers Johannes und seinen berühmten, überdimensionierten Zeigefinger, mit dem er auf den Gekreuzigten weist.

Er räumt gerade dieser Gestalt viel Raum ein und seine Darstellung zeugt von großer Fach- und Sachkenntnis, die die Kenntnis vieler zeitgenössischer Texte mit einschließt: "Riesenhaft und von dem Auftrag, Zeugnis abzulegen, ganz erfüllt, scheint alle seine Kraft versammelt in dem Zeigegestus, der den Größeren bezeichnet: Ilum oportet crescere me autem minui." (S. 29 [Anm. 1 -  Anmerkungen siehe unten/Textende]) In den Augen Vetters bildet die Gestalt des Täufers "den Schlüssel zum Verständnis des gesamten Darstellungsprogramms". (S. 29)

 

Schon seine ersten Beobachtungen verknüpft Vetter mit dem heilsgeschichtlichen Hintergrund, der sich aus dem Bibeltext ergibt, und mit derKenntnis, die wir von dort über Johannes den Täufer haben. Er nimmt vor allem den Ausspruch des Täufers in den Blick, in dem er Christus als das "Lamm Gottes" bezeichnet hatte (Joh 1,29). Von dort geht er unmittelbar auf die Predigten Geilers von Kaisersberg ein, dann auf den Finger des Täufers, der seit dem 6. Jahrhundert "als Reliquie im Abendland verehrt" wurde, und auf die Legende, die damit zusammenhängt (S. 29), dann auf die Geschichte der Ikonographie des Johannes, die bis in konstantinische Zeit zurückgeht, auf Darstellungen des 6., 7., 11., 14. und 15. Jahrhunderts, schließlich auf ikonographische Varianten und auf theologische Implikationen, die sich aus diesen Varianten ergeben. Auch der Bezug zur Liturgie, in der das Wort vom "Lamm Gottes, das hinwegnimmt die Sünde der Welt", eine bedeutende Rolle spielt, fehlt nicht.

 

Als dem Isenheimer Bild ähnlichstes Vergleichsbeispiel führt Vetter ein Triptychon an, das 1468 vom Meister des Breslauer Barbara-Altars für den Kanonikus Peter von Wartenberg gemalt wurde.

Abbildung 2: Meister des Breslauer Barbara-Altars, Johannes der Täufer (Triptychon des Kanonikus Peter von Wartenberg, linke Tafel), 1468; Breslau, Dom

 

 

 

Das Bild fasziniert, da es der Darstellung Johannes' des Täufers am Isenheimer Altar tatsächlich sehr ähnlich ist, einschließlich des Buchs und der auffälligen Zeigehand. Vetter zufolge fügt der namentlich nicht bekannte Meister die Gestalt "der Kreuzgigung des Mittelbildes auf dem linken Flügel als Prediger der Buße und als Künder der vollzogenen Erlsöung bei" (S. 32).

Interessanterweise verweist Vetter auch auf den offenkundigen Widerspruch der darin besteht, dass angesichts der Kreuzigung die Mission Jesu - die der Bibel zufolge darin besteht, die Menschheit zu erlösen und den Beginn der Gottesherrschaft herbeizufüren - doch ausweglos und zu Ende zu sein scheint und dass der Täufer dennoch in diesem Zusammenhang prophetisch wirksam wird. Allerdings geht er im nächsten Satz schon wieder über das Bild hinaus, führt eine Predigt Bernhards von Clairvaux an und konzentriert sich wiederum auf den Bezug zum "agnus Dei", der auf der Breslauer Altartafel durch das Spruchband hergestellt wird, das den Täufer begleitet und das u.a. in einem Hymnus des 15. Jahrhunderts thematisiert werde, den Vetter wörtlich zitiert. Davon ausgehend spekuliert er über jene Stelle, die wohl in dem Buch aufgeschlagen ist, das der Isenheimer Täufer in seinen Händen hält, jedoch nicht zu entziffern ist, und führt dafür ein Zitat des Propheten Jesaja an, in dessen Sinn er das Lamm zu Füßen des Täufers auf dem Isenheimer Altar deutet.

 

Und gerade hier erkennen wir einen typischen Zug der kunsthistorischen Forschung der 1960er und 70er Jahre, die maßgeblich durch Erwin Panofsky (1892-1968) geprägt worden ist. Diese Forschung ist so sehr auf die mehr oder weniger zeitgenössischen Schriftquellen fixiert, dass sie den genauen Blick auf das Bild, um das es eigentlich geht, vernachlässigt. "Über die Bilder selber", so fasste es Hans Belting 1994 zusammen, "hat man sich wenig Gedanken gemacht." Man habe sie über all der Lektüre in den Quellentexten gleichsam "vergessen". (Anm. 2)

Tatsächlich scheint Vetter bei der Lektüre all der gelehrten Literatur übersehen zu haben, dass es sich bei dem Zitat auf dem Isenheimer Altar, das Mathis dem Johannes in den Mund gelegt hat, eben nicht um das bekannte Zitat vom "Lamm Gottes" handelt! Während es auf dem Breslauer Triptychon auf dem Schriftband zu lesen ist, dass den Täufer begleitet - "Ecce agnus dei qui tollis peccata mundi" -, handelt es sich bei dem Zitat in Isenheim um ein anderes Wort des Täufers:

"Ilvm oportet crescere / me avtem minvi" - "Jener muss wachsen, ich aber muss kleiner werden"

 

Kann, ja darf man diesen Unterschied einfach übersehen? Darf man sich darüber hinwegsetzen, ihn unberücksichtigt lassen? Kann es sein, dass Vetter ihn einfach übersehen hat, dass er ihm nicht aufgefallen ist? Oder hielt er ihn für einen Zufall, nicht weiter von Bedeutung, vielleicht gar für einen Fehler des Malers, den er heimlich zu korrigieren suchte?

 

Vetter geht darauf tatsächlich nicht weiter ein. Er macht sich viele Gedanken über Form und Bedeutung der eigenartigen Gürtung des Täufers. Hier betont er, dass "dem so stark hervorgehobenen Gürtel Bedeutung" zukommen müsse (S. 34), was er durch zahlreiche Vergleichsbeispiele und - wiederum - die Anführung von zeitgenössischen Predigttexten belegt und zu deuten versucht. Aber im Zusammenhang des Zitats tut Vetter einfach so, als handelte es sich bei dem Ausspruch des Johannes um das bekannte "Ecce agnus Dei".

 

An einer späteren Stelle allerdings geht Vetter doch noch einmal auf das Zitat ein, und hier nimmt seine Interpretation nun fast absurde Züge an: der rote Mantel des Johannes verweise auf sein Martyrium - und dies tue auch das Zitat. Denn dem Kirchenvater Augustinus zufolge werde Johannes mit dem Schwert enthauptet, während Christus am Kreuz erhöht würde. Das Zitat deutet Vetter, vermeintlich auf der Grundlage des Augustinus, nun so, dass das "minui" ("ich muss kleiner werden") sich auf die Enthauptung beziehe, während das "crescere" ("wachsen") die Erhöhung am Kreuz meine. (S. 35f) Vetter führt eine große Zahl an mittelalterlichen Schriftzeugnissen (Honorius, Augustinus, Legenda aurea, Ambrosius) an, die diesen Zusammenhang ähnlich gesehen haben - dass sich dies jedoch auf das Zitat am Isenheimer Altar bezieht, vermag er in nicht zu belegen, und wie sollte er auch. Der Zusammenhang erscheint aus heutiger Sicht als nicht zwingend, ja willkürlich und unzutreffend. Tatsächlich kommt Vetter auf diesem Weg nicht weiter als bis zu der allgemeinen, unspezifischen und altbekannten Annahme, Johannes der Täufer erscheine auf dem Isenheimer Altar als letzter Repräsentat des Alten Bundes, der an der Schwelle zum Neuen Bund steht. Das vermag er zwar durch eine eindrucksvolle Zahl an zeitgenössischen, theologischen Quellen zu belegen (Epiphanius, Beda, Didymus Alexandrinus), aber er sagt damit nichts Neues und es ergibt sich die Frage, ob Johannes auf dem Altarbild wirklich eine so prominente Stellung einnimmt, nur um diese allgemeine Aussage zu machen.

 

Letztlich stellt sich sogar die Frage, was all die theologischen Quellen, die Vetter anführt, eigentlich mit dem Bild am Isenheimer Altar zu tun haben.

 

Und hier sehen wir nun, wie die aktuelle Forschung mit ihrem viel genaueren Blick auf die Bilder zu ganz anderen Ergebnissen kommt. Nicht zuletzt geprägt durch den Paradigmenwechsel, den Hans Belting (mit) herbeigeführt hat, steht heute eher die Befragung des Bilds als die mehr oder weniger willkürliche Hinzuziehung von historischen Quellen im Vordergrund, von denen man nicht einmal genau weiß, ob sie mit dem Bild in irgendeinem bedeutsamen Zusammenhang stehen.

 

Und diese neuartigen Formen der Analyse, die grundsätzlich das Bild selbst viel ernster nehmen, als das in der Nachfolge Panofskys geschehen war, führen dazu, dass man in der Deutung nun sehr viel weiter gehen kann - auch in der Deutung des Täufers auf der Kreuzigungstafel des Isenheimer Altar, nicht etwa durch die Hinzuziehung weiterer, neuer Quellentexte, sondern durch die Sensibilisierung für die im Bild verwendeten, spezifischen künstlerischen Mittel.

 

 

Und in diesem Zusammenhang wird u.a. die Beantwortung der obengenannten Fragen wichtig: Selbstverständlich ist es nicht ohne Bedeutung, dass Mathis ein anderes als das bekannte "Ecce agnus Dei"-Zitat wählt. Wir sind inzwischen dafür sensibilisiert, dass hinter solchen Unterschieden nicht etwa Unachtsamkeit oder gar ein Fehler, sondern eine sehr konkrete Absicht steckt, die für die Interpretation des Bilds von zentraler Bedeutung ist. Dies ist eine solche Spur oder Fährte, von der wir schon früher gesprochen haben (Anm. 3) und die zur besonderen Bedeutung dieser Darstellung führt.

 

Mathis zitiert mit dem "Ilvm oportet crescere / me avtem minvi" nicht zuletzt jenen Kontext, aus dem das Wort stammt: das Johannesevangelium (Joh 3,30) - jedoch nicht die (allzu-)bekannte Szene der Taufe Christi, sondern eine Sammlung von Aussprüchen des Täufers über Jesus, die ihn als den wahrhaftigen Messias bezeichnen (Joh 1,19–37, und 3,22–36). Auf diese Weise wird auf dem Bild der Widerspruch, den Vetter ja auch erwähnt hat, geradezu ins Groteske erhoben: Johannes spricht mit Geste und Wort Christus als den von den Propheten des Alten Testaments verheißenen Messias an, der die Heilsgeschichte vollenden und das auserwählte Volk erlösen soll. Dabei weist er mit seinem eindrucksvollen Zeigefinger allerdings auf einen entsetzlich verunstalteten, leidenden, erniedrigten, hilflosen Sterbenden hin.

 

Die auffällige Geste jedoch macht diesen offenkundigen Widerspruch - der nur dem auffällt, der intensiv das Bild ansieht und sich nicht immer wieder durch vermeintlich passende Schriftzeugnisse aus der zeitgenössischen Literatur vom Bild ablenken lässt - geradezu zum Thema des ganzen Bilds. Wie das Buch, das zweifellos auf die Prophezeiungen des Alten Testaments verweisen soll, ist der deutlich überdimensionierte Zeigefinger eine der hellsten Stellen der gesamten Bildtafel und bleibt jedem Betrachter über lange Zeit in der Erinnerung.

 

Der Zeigegestus gemeinsam mit dem Wort vom Messias werden von Mathis so inszeniert, dass ihre besondere Bedeutung bewusst betont wird. Sie verdrängen sogar alle jene erzählerischen Elemente, die wir von anderen Bildern der Kreuzigung Christi kennen. Sie sind also keineswegs zweitranging oder schmückendes Beiwerk. Stattdessen bezieht sich Mathis mit diesem offenkundigen Widerspruch zwischen der Ankündigung des Messias, auf dem die ganze Hoffnung des jüdischen Volks auf Wiederherstellung seiner Bedeutung als 'auserwähltes Volk' ruht, und der aktuellen, beklagenswerten Realität der Ermordnung eben dieses Messias ganz unmittelbar auf eine Tradition, die auf den Propheten Jesaja zurückgeht und in der Liturgie und Frömmigkeit des Spätmittelalters omnipräsent war. Bei Jesaja heißt es nämlich über diesen Messias:

 

"Viele haben sich über ihn entsetzt, so entstellt sah er aus, nicht mehr wie ein Mensch, seine Gestalt war nicht mehr die eines Menschen." (Jes 52,14)

 

Und dieses Zitat, das Mathis sehr konkret in seine Darstellung umsetzt, bezeichnet nicht etwa spitzfindige, kaum bekannte Theologie, sondern war in der Liturgie, vor allem der Karwoche - wie gesagt - omnipräsent. Gerade der Hinweis auf das von Jesaja prophezeite Leiden Christi dient der Beglaubigung der bemitleidenswerten Gestalt am Kreuz als der wahre Messias.

 

Und dies ist gerade im Hinblick auf den Zusammenhang des Altars im Augustinerspital in Isenheim und den entsprechenden Betrachtern des Altars - die in den Ausführungen von Vetter tatsächlich keinerlei Berücksichtigung finden - von ungeheurer Bedeutung. Denn auf diese Weise bekommt ihr eigenes Leid, das der Gekreuzigte mit ihnen teilt, einen geradezu heilsgeschichtlichen Sinn.

 

(Näheres dazu in dem demnächst erscheinenen 5. Band der Reihe "einblicke - Kunstgeschichte in Einzelwerken: "Woran stirbt Jesus Christus? Und warum? Die Kreuzigungstafel des Isenheimer Altars").

 

Schluss

Das intensive Quellenstudium der älteren Forschung ist bis heute von großer Bedeutung für die Analyse der Werke. Aber nun gilt es, die Bilder wieder genauer in den Blick zu nehmen, ihre Bildsprache ernstzunehmen und sie nicht durch gelehrte Zitate aus zeitgenössischer Literatur zu verdecken, sie zu "vergessen", wie es #Belting formulierte. Wer die Kreuzigungstafel des Isenheimer Altars genau betrachtet, wird noch auf zahlreiche weitere Widersprüche treffen, die alle keine 'Fehler' sind, sondern beachtet werden wollen - denn sie sind es, die das Bild in entscheidender Weise prägen und ihm eine ganz spezifische Bedeutung verleihen, die weit über unspezifische Aussagen wie die, der Täufer repräsentiere den Alten Bund, hinausgehen. (Anm. 4)

 

 

Anmerkungen

1. Alle Zitate nach: Ewald M. Vetter, Die Kreuzigungstafel des Isenheimer Altars, in: Ders., Grünewald. Die Altäre in Frankfurt, Isenheim, Aschaffenburg und ihre Ikonographie, Weißenhorn 2009, S. 29-68 (Wiederabdruck des Aufsatzes von 1968).

2. Hans Belting, Spiegel der Welt. Die Erfindung des Gemäldes in den Niederlanden, München 1994, S. 7.

3. Christof L. Diedrichs, Das Paradies bleibt verloren. Gauguins Südseebilder (= einblicke. Kunstgeschichte in Einzelwerken 2), Freiburg/Norderstedt 2016 (2. Aufl.), S. 14-18 u.ö.

4. In seinem Aufsatz von 1971 (in: Jahrbuch der Staatlichen Kunstsammlungen in Baden-Württemberg 8, 1971, S. 35-64; wiederabgedruck in "Grünewald" [wie Anm. 1], S. 69-101) geht Vetter erneut und diesmal sehr ausführlich auf die Inschrift ILVM OPORTET CRESCERE ME AVTEM MINVI ein, jedoch wiederum ohne dem Messiasgedanken die ihm entsprechende Bedeutung - nicht zuletzt für die Patienten des Antoniterspitals - beizumessen. Zudem führt auch hier seine Sammlung von biblischen und theologischen Zitaten und damit zusammenhängenden Beispielen aus der Kunstgeschichte von der Darstellung auf dem Isenheimer Altar und dem Kontext, in dem diese stand, so weit weg, dass sie kaum mehr als Interpretation der Mathis'schen Kreuzigungsdarstellung gelten kann. Eben dies indessen ist typisch für die Vorgehensweise der kunsthistorischen Forschung in und kurz nach der Mitte des 20. Jahrhunderts.