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Wie Bilder Sinn erzeugen - Prolog

Text vom 06.04.2016

 

Man kann die Frage, was eigentlich Kunst sei (die uns bisher beschäftigt hat), auch ein wenig 'tiefer hängen'. Man kann sie einschränken und konkretisieren. Auf diese Weise werden kleinere Schritte hin zur Beantwortung der 'großen' Frage möglich, die uns vielleicht weiter bringen als die Frage, die auch weiterhin über dem Ganzen steht.

Statt sich abstrakt mit 'Kunst' zu beschäftigen, kann man sich auch zunächst fragen, was eigentlich ein Bild ist, was es auszeichnet, welche Abgrenzungen man vornehmen kann und was das künstlerische Bild beispielsweise von einem technischen Bild unterscheidet. Denn Bild ist ja nicht gleich Bild, und nicht nur ein Gemälde, sondern auch die Aufnahme eines Ultraschall- oder eines Röntgengeräts ist ein "Bild" (und welche ästhetische Faszination letzteres ausüben kann, hat schon Thomas Mann im "Zauberberg" [1924] vorgeführt).

 

Um die Frage, was eigentlich ein Bild sei und wie es funktioniert, hat sich in den vergangenen 30 Jahren ein eigener Zweig der Wissenschaft gebildet und etabliert. Er hat sich den schlichten Namen "Bildwissenschaft" gegeben. Bedeutende Wissenschaftler haben sich Gedanken um das Bild gemacht, was umso wichtiger war (und ist), als seit einiger Zeit der Begriff des iconic turn durch die Kulturwissenschaften geistert und den Eindruck vermittelt, als habe nach der Hinwendung der abendländischen Kultur zur Schrift im 16. Jahrhundert nun, im 20. Jahrhundert, eine Hinwendung zum Bild stattgefunden, die die abendländische Kultur in ebenso grundlegender Weise neu prägen wird, wie es das Pendant im 16. Jahrhundert bewirkte.

 

Die Beobachtung des iconic turn, der Hinwendung unserer Kultur zum Bild, berührt also unmittelbar unser kulturelles und soziales Selbstverständnis. Wir sind Bildmenschen, suggeriert diese These, das Bild prägt unsere Kultur und damit unseren Umgang mit uns selbst in einer Art und Weise, die in seiner Bedeutung gar nicht überschätzt werden kann. Eine der Schlüsselkompetenzen unserer Zeit, darüber scheint man sich allgemein einig zu sein, besteht gerade im richtigen, d.h. kritischen, mündigen Umgang mit dem Medium 'Bild', mehr noch als in dem des Mediums 'Schrift'.

 

Wie aber geht das vonstatten? Wie ist es möglich, dass das Medium der Schrift, das die Geschichte des Abendlands einst revolutioniert hat, von einem so andersartigen Medium wie dem Bild verdrängt wird? Was macht die Faszination dieses 'neuen' Mediums aus? Und was sind die Konsequenzen für unsere Kultur und für uns selbst?

 

Der renommierte Bildwissenschaftler Gottfried Boehm, bis 2012 über 26 Jahre hinweg Ordinarius für Kunstgeschichte an der Universität Basel und von 2005 an Direktor des Schweizerischen Nationalen Forschungsschwerpunkts 'Bildkritik', hat sich seit den späten 1970er Jahren intensiv Gedanken über eben diese Fragen gemacht. In seinem 2007 erschienenen Buch "Wie Bilder Sinn erzeugen" hat er eine Reihe seiner seither entstandenen, grundlegenden Texte im überarbeiteter Form zusammengestellt.

 

In den folgenden Wochen möchte ich mich in einer Art Lektüreseminar (bzw. -blog) gern mit diesem Buch beschäftigen. Wie Bernd Stiegler in der Neuen Zürcher Zeitung schrieb, scheint auch mir dieses Buch programmatischen Charakter zu haben - es lohnt sich also, es genau zu lesen.

 

Dazu möchte ich Sie einladen: Lesen Sie mit - ob das Buch oder diesen Blog -, denken Sie mit, diskutieren Sie mit! Der Umgang mit Bildern geht weit über Kunst und Kunstbetrachtung hinaus. Er betrifft letztlich unser Verhältnis zur Wirklichkeit, die uns häufig durch Bilder erst vermittelt wird.

 

 

 

Diedrichs liest Boehm (Teil 1)

Text vom 06.04.2016

 

Beginnen wir also mit unserer Lektüre:

Gottfried #Boem, #Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin 2007

(ich verwende die Lizenzausgabe der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft; dritte Auflage, Berlin 2010)

 

S. 9 - 18: Einführung - Faszination und Argumente

 

Boehm geht bei seinen Ausführungen davon aus, dass es ein Bild vor dem 19. Jahrhundert ausschließlich in Form eines Gemäldes, also als Kunstwerk, gegeben hat. Erst mit der Fotographie, der ersten Form eines technischen Bilds, entstehe ein Bild, das nicht Kunst ist, entstehe also ein Bildbegriff jenseits der Kunst, der seit dem fortgeschrittenen 20. Jahrhundert auch das wissenschaftliche Bild mit einschließt. Das ist das entscheidend Neue, das es überhaupt erst sinnvoll erscheinen lässt, eine Frage wie 'Was ist ein Bild?' zu stellen.

 

"In einer in der Geschichte des Wissens bis dahin unbekannten Direktheit werden Bilder jetzt zu Instrumenten, die Erkenntnisse ermöglichen, die nur auf diesem Wege so zu gewinnen sind. Daten und Informationen, die sich - des Umfangs wegen - sonst kaum beherrschen ließen, werden mit der simultaneisierenden Kraft des Bildes überschaubar, gewinnen Evidenz und Überprüfbarkeit." (S. 13)

 

Dabei ist sympathisch an Boehms Ansatz, dass er nicht etwa von einer Theorie ausgeht, mit der er sich auf wiederum theoretisierendem Weg auseinanderzusetzen gedenkt, sondern vom Bild. Dieses ist es, das ihn fasziniert, ihn zu "produktivem Erstaunen" führt. Am Anfang seines Tuns also steht die "Frage nach den Bildern" (S. 9; dieser Ansatz ist umso bemerkenswerter, als er keineswegs selbstverständlich in der aktuellen, kunstwissenschaftlichen Debatte ist).

 

Bilder sind für Boehm 'bedeutungsgeladene Körper', selbst (oder gerade) wenn sie im Kinderzimmer oder in der psychiatrischen Anstalt entstehen. Ihre Bedeutung erhalten sie (zuerst und in dem Sinn, wie Boehm sich für sie interessiert) zunächst während ihrer Entstehung: dann wird eine Form mit einer bestimmten Bedeutung aufgeladen, wobei dieser Prozess bewusst oder unbewusst geschehen kann: ein Bild "zeigt, was sich nicht sagen lässt", und dies sogar noch lange bevor der Künstler/ der Schöpfer des Bilds selbst genau weiß, worum es sich dabei handeln wird. Die Faszination des Bilds besteht Boehm zufolge gerade darin, dass wir bildlich denken, selbst aber die Tiefe dieser Bilder nicht in jedem Fall ausloten können:

 

"Wir alle sind ikonischer Natur [= dem Bild verhaftet, in Bildern denkend]. Auch dann, wenn wir es vergessen haben." (S. 10)

 

Und eben dies wird die Leitfrage des Buchs sein: Wie funktioniert es, dass Bilder - nicht allein Kunstwerke - Sinn erzeugen? Dass sie mit Sinn aufgeladen werden? Und diesen letztlich sogar transportieren?

Und wir sehen schon, dass für die Beantwortung dieser Frage erst einmal geklärt werden muss, über welche Art von Bild wir überhaupt sprechen. Immerhin kann inzwischen die "gesamte Oberfläche der Welt" zum Bild werden:

 

"jeder beliebige Ausschnitt, und sei er noch so geringfügig. Alles, was sichtbar wird, kann auch Bild sein," und sei es in Form von Landkarten oder Satellitenbildern. (S. 11)

 

Dies sollte für uns eigentlich nichts besonderes mehr sein, immerhin haben wir alle selbst angefertigte Fotographien an den Wänden unserer Wohnungen hängen, in vielen Bauernhöfen hängen Luftaufnahmen vom Hof; Vulkanausbrüche oder Nordlichter werden zum ästhetisch reizvollen Farbenspiel auf dem Fotopapier - was wären bessere Beispiele dafür, dass die "Oberfläche der Welt" zum Bild werden kann, seitdem es entsprechende Technologien gibt? Buchstäblich Alles, vom Bild des Rasterlektronenmikroskops über das Ultraschall- bis zum Satellitenbild und zur Sternenkarte kann heute zum 'Bild' werden, während in der Zeit vor der Entwicklung dieser Technologien Kunstkommissionen anhand bestimmter Kriterienkataloge über die "Bildwürdigkeit" wachte, letztlich also darüber, ob ein visueller Ausschnitt, der auf eine Leinwand gebannt wurde, als 'Bild' anerkannt wurde oder nicht.

 

"Bilder entstanden in einem ausgegrenzten Raum der Legitimität und besetzten in ihm einzelne Nischen." (S. 12)

 

Erst seit der Erfindung des technisch erzeugten Bilds gibt es also Bilder, die nicht Kunst sind. Allerdings erhalten diese Bilder ihren Sinn offenbar, so vermutet Boehm, auf ganz andere Weise, als das bei einem Kunstwerk geschieht.

 

Dabei stellt sich nun auch die Frage, was Bilder überhaupt sind, was sie auszeichnet und welche Funktionen sie haben. Das aber muss, nachdem die Kunstkommissionen ihre Zuständigkeit über das 'Bild' verloren haben, in der Konsequenz jeder, der ein Bild erschafft, selbst entscheiden - ob er es bewusst oder unbewusst tut, ob es sich um ein Ultraschallbild, einen Urlaubsschnappschuss oder ein Ölbild handelt. Es gibt keine definitive, für alle Bilder gleichermaßen gültige Antwort auf diese Frage mehr.

Dieses Phänomen aber ist deswegen so interessant, weil exakt dies die Geburtsstunde der Bildwissenschaft ist. Seitdem die Welt "bis in ihre Atome hinein zum Bild" wird (S. 13) und seitdem es keine definitive Antwort mehr auf die Frage gibt, was ein Bild sei, stellt sich die Frage nach dem Bild ganz neu und - strenggenommen - bei jedem einzelnen Bild wieder.

 

Und da dieses erste Kapitel seines Buchs einen Überblick darüber gibt, was Boehm in den nachfolgenden Kapiteln ausführen wird, spricht er gleich einen weiteren, höchst spannenden Aspekt der Bildwissenschaft an, mit dem er sich im Verlauf des Budhs eingehender beschäftigen wird:

Er verknüpft seine Auffassung vom Bild mit den jüngsten geistes- und sozialwissenschaftlichen Diskussionen zur so genannten Performativität (deren wissenschaftliche Erforschung Boehm wesentlich mitgeprägt hat), indem er das Bild nicht etwa als passives Phänomen, sondern als aktiv-handelndes, als einen Faktor innerhalb des jeweiligen Prozesses sieht, in dem es steht: ein Bild, so Boehm, tut etwas:

 

"Es dämmert die Einsicht, dass Bilder nicht das sind, wofür sie viele immer noch halten - etwas Nachträgliches, das man, letztlich folgenlos wie Spiegel, an der Realität vorbeiführt -, sondern eine Macht, imstande, unsere Zugänge zur Welt vorzuentwerfen und damit zu entscheiden, wie wir sie sehen, schließlich: was die Welt 'ist'." (S. 14)

 

Dieser Satz ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert, seine Konsequenzen sind unabsehbar! (Sie gehen bis zu der Frage, was eigentlich geschieht, wenn wir beispielsweise fernsehen: wenn das Bild auf dem Schirm kein passiver Spiegel ist, der 'letztlich folgenlos' an der Realtität und an unserem Auge vorbeigeführt wird, dann tut es etwas mit uns, es prägt uns, verändert uns und unseren Blick auf die Welt. Und das gilt selbstverständlich auch für jede andere Form des Bilds, dem wir uns aussetzten: wie wir die 'Welt' sehen und deuten, hängt also davon ab, welche Bilder von der 'Welt' wir sehen - und wer diese Bilder geprägt hat, die wir zu sehen bekommen.)

Nicht zuletzt spricht dieser Satz von der Wirkmacht der Kunst, die gern und häufig unterschätzt wird. Wenn der Satz stimmt, dann ist auch ein Kunstwerk nicht etwa bloße Dekoration, selbst wenn sie scheinbar achtlos an der Wand hängt oder auf einem öffentlichen Platz aufgestellt wird: es prägt die Menschen, die ihm ausgesetzt sind.

 

Bilder wirken auf ihre Betrachter ein, unmerklich, aber deswegen doch nicht weniger spürbar.

 

Es ist nicht zuletzt ein Verdienst der Performativitätsforschung, die von Boehm viele wertvolle Anregungen erhalten hat, dass wir uns heute über diese Zusammenhänge klarer sind als noch vor 20 oder 30 Jahren - auch wenn diese Erkenntnisse noch nicht wesentlich aus den Laboratorien der Forscher an die Öffentlichkeit - etwa der Gemeindeverwaltungen, die über die Ausstellung von Bildern im öffentlichen Raum entscheiden - gedrungen zu sein scheinen.

 

 

Lektüre-Blog: Diedrichs liest Boehm (Teil 2)

Text vom 11.04.2016

 

Zunächst noch ein kurzer Nachtrag zur Einführung (Lektüre-Teil 1):
Faszination und Argumente

 

Wenn Boehm darauf hinweist, dass der Mensch in Wirklichkeit ein 'ikonisches' Wesen sei, dass er also wesentlich in Bildern denken würde, statt in Sprache und in Begriffen, so unterscheidet sich diese Sicht nicht unwesentlich von jenem Selbstverständnis der Menschheit, wie sie seit der Hinwendung unserer Kultur zur Schrift im 16. Jahrhundert vorherrschend war. Dieses Selbstverständnis beruhte im Wesentlichen auf der Vorstellung, dass der Mensch mithilfe der Sprache die Wirklichkeit sehr viel besser in ihre Einzelteile zerlegen, durchdringen und verstehen könne, als durch die Verwendung von Bildern.

Wenn Boehm den Menschen aber nun im Gegenteil als 'bildlich denkendes Wesen' definiert, so basiert diese Neubewertung auf der folgenreichen Unterscheidung zwischen Sprache und Bild.

 

An dieser Stelle führt Boehm den zentralen Begriff des Zeigens (Deixis) ein. Er unterscheidet im Folgenden zwischen Sagen und Zeigen, im Grunde also zwischen Sprache und Bild, und warnt - getreu seiner Vorgabe, das Bild wirklich ernst zu nehmen, vor der Annahme einer allzu starken "Überformung der Bilder durch sprachliche Muster" (S. 15). Zu einer solchen 'Überformung' neigten wir gewöhnlich, wenn wir davon ausgehen, dass Bilder nichts anderes tun, als das, was irgendwo sprachlich niedergelegt ist, in ein anderes Medium - und auf diese Weise möglichst 'verständlicher' - zu übertragen. Stattdessen gesteht Boehm den Bildern ein "deiktisches Potential" zu, also die Fähigkeit zu Zeigen, wobei dieses Zeigen bei einem Bild eben nicht an sprachliche Fixierung gebunden ist, also gerade über eine Beschränkung durch Sprache hinausgeht: ein Bild zeige mehr, als tausend Worte sagen, aber offensichtlich neigt der Mensch dazu, sich auf das durch Worte Sagbare zu beschränken, statt das 'deiktische Potential' wirklich auszukosten. Auf diese Weise gehe gerade der "eigentliche, der sinnliche Überschuss" verloren. Dabei sei gerade er es, der dem bloß "materiellen Sachverhalt etwas Sinnhaftes" verleihe und auf diese Weise "den Dialog mit dem Auge in Gang" bringe. (S. 15)

 

Boehm nennt diese Differenz zwischen dem materiellen Bild und seinem Umschlagen in Sinn, der begrifflich nicht einmal genau fixierbar sein muss, sondern eher in seiner Wirkung bestehe, das "Modell der ikonischen Differenz." (S. 16)

 

 

S. 19-33: Die Hintergründigkeit des Zeigens. Deiktische Wurzeln des Zeigens

 

Ausgangspunkt dieses Kapitels ist das Erstaunen darüber, dass ein Bild, also ein materieller Gegenstand, ein totes oder zunmindest passives 'Ding', eine aktive Handlung vollziehen können soll, die Zeigen tatsächlich ja ist, dass es noch dazu Sinn und Wirkung erzeugen soll.

 

Boehm führt am Beginn dieses Abschnitts geradezu einen kleinen Feldzug gegen die weitverbreitete Unterordnung des Bilds unter das Wort, also des Zeigens unter das Sagen. Auch wenn es über den allergrößten Teil der abendländischen Kunstgeschichte hinweg eine enge Verbindung zwischen beiden gebe, gelegentlich sogar "schwache Bilder an der Leine bedeutungsschwerer Begriffe geführt" würden (S. 19), so bleibe das Vereindeutigen durch Sprache doch eine ausdrückliche Beschränkung von Bildern und Bildlichkeit.

 

Das Zeigen - das Bild - sei eben nicht ein "bloßes Supplement des Sagens - des Texts -, "ein trüber Mond, der uns nur deshalb leuchtet, weil ihm die Sonne der Sprache von ihrem Licht geliehen hat." (S. 19f)

Diese Annahme sei vielmehr "ein folgenreicher, ein historischer Fehlschluss"  - kursiv gesetzt und damit entsprechend betont, offenbart dieses Wort eine Betroffenheit, geradezu ein Ungehaltensein Boehms, das vielleicht darauf zurückzuführen ist, dass sich dieser historische Fehlschluss so hartnäckig hält. Aber das Bild und die Schrift, Zeigen und Sagen, sind unterschiedliche Medien, die je Eigenes transportieren und ausdrücken können. Jedes von ihnen hat seine Eigenarten, Vorzüge und Möglichkeiten, die es dem anderen voraus hat. Das eine dem anderen unterzuordnen, ist demzufolge eine Form von Ignoranz.

 

Oder, mit Ludwig Wittgenstein gesprochen: "Was gezeigt werden kann, kann nicht gesagt werden." (S. 20)

 

Allerdings steckt, Boehm zufolge, die Bildwissenschaft, anders als die Sprachwissenschaft, als "Auslegeordnung" erst noch in ihren Anfängen.

 

In ihren Anfängen steckt sie auch deshalb noch, weil sich erst langsam zeigt, dass das Zeigen nicht nur ein Hinterzimmer des Sagens ist, sondern ein eigener Kosmos. Das Zeigen, Deixis, so lautet Bohmes These, "eröffnet [...] eigene Zugänge zur Welt", die nicht Hilfestellungen sind, "wenn mit dem Aplhabet nicht durchzukommen ist, jenen zugedacht, die es noch immer nicht begriffen haben." (S. 21)

Tatsächlich offenbart diese Formulierung, dass Boehm die Geduld auszugehen scheint angesichts der noch immer weit verbreiteten Einschätzung des Bildes als einer defizitären Form der Sprache.

 

Im Folgenden beschäftigt sich Boehm intensiver mit dem Zeigen: wie funktioniert es? woher nimmt es seine Kraft? Als Versuch befragt er dazu das menschliche Gebärdenspiel, indem er einen Menschen, in diesem Fall den Philosophen Martin Heidegger, während eines Gesprächs beobachtet. Und im Wesentlichen entdeckt er dabei zwei Arten des Zeigens (die auch für das Verständnis des Bilds und seiner 'Lesbarkeit' wichtig sein werden): das Zeigen auf etwas und das Zeigen auf sich selbst.

Was daran besonders interessant ist, ist die Tatsache, dass dieses erste Zeigen, das Zeigen auf etwas, eine intendierte, beabsichtigte Form des Zeigens ist, während die zweite, das Zeigen auf sich selbst, eine nicht-intendierte, eine dem Zeigenden selbst meist nicht bewusste, deswegen aber nicht weniger aussagekräftige Art des Zeigens ist. Im Gespräch zweier Menschen geschieht diese u.a. durch Haltung und die Lebendigkeit von Mimik und Gestik und betrifft Dinge, um die es in dem Gespräch primär gar nicht gehen muss.

Zwei Arten des Zeigens also. Die ausdrückliche und bewusste von beiden (in der Kunst sprechen wir von der Ikonographie) ist systematisch dechiffrierbar, wie es einem bewusst gewählten Zeichenrepertoire eigen ist. Die unbewusste dagegen ist lediglich annäherungsweise deutbar, setzt dafür aber sehr viel mehr als die Kenntnis einschlägiger Lexika voraus. Und sie bleibt am Rand immer unscharf, denn das Zeigen weist in diesem Fall über die Sprache, das eindeutig Sagbare, hinaus.

 

"Der Körper [ist] kein Zeichen, das sich entschlüsseln ließe, wenn schon, dann ist er der Schauplatz möglicher, im Übrigen meist vieldeutiger oder, was auf's Gleiche hinausläuft, deutungsloser Zeichen." (S. 27)

 

"Was Gesten zeigen, geht niemals in dem auf, was sie zu sagen scheinen. Denn der Überhang des Körpers bringt Tonos, Timbre, Rhythmus, ein Flair ins Spiel. Sie erst geben der Gestik ihre Prägung, ihren Zusammenhang und ihren Nachdruck, das heißt ihren spezifischen Sinn." (S. 27)

 

 

Was lernen wir daraus für das Zeigen, also die Funktionsweise des Bilds, der Kunst?

 

 

Giorgione, "La Vecchia", um 1510; Venedig, Galleria dell'Accademia

 

 

 

 

Boehm macht am Beispiel von Giorgiones Porträt einer alten Frau deutlich, was sich einerseits "sagen lässt", wofür es andererseits jedoch "ein Bild braucht" (S. 28), worauf also nur ein Bild verweisen kann, weil es sich der Eindeutigkeit der Sprache entzieht. Das Bild zeichne sich nämlich durch eine potentielle Simultaneität aus, die der Sprache nicht im gleichen Maße zukomme. Es gehe in seiner Vielschichtigkeit immer noch über das sprachlich Fixierbare hinaus: "simultane Realitäten [aber] lassen sich ausschließlich zeigen." (S. 29)

Anders als es beim Wort der Fall ist, "verkörpert" das Bild (im wahren Wortsinn) die Inhalte, die ihm bewusst und unbewusst zugrunde gelegt wurden, und in dieser Verkörperung bleibt die ganze Komplexität dieser Inhalte erhalten. Was dabei beispielsweise bei einem Porträt wir Giorgiones "La Vecchia" herauskommt, nennt Boehm "eine intrikate Erscheinungsdichte", die nicht selten nur schwer zu entziffern, in keinem Fall aber in allen seinen Facetten und Bezügen in Worte zu fassen sei. (S. 30) Eine solche "Erscheinungsfülle" lasse sich vielmehr ausschließlich zeigen. (S. 31)

 

Lektüre-Blog: Diedrichs liest Boehm (Teil 3)

Text vom 20.04.2016

 

S. 34-53: Jenseits der Sprache? Anmerkungen zur Logik der Bilder

 

Möglicherweise das wichtigste Kapitel dieses Buchs: Es geht um die Frage, warum eigentlich Bilder fälschlicherweise unterschätzt werden. Zweifellos ist die Schrift das angesehenere Medium. Der Schrift oder einem Text kommt gewissermaßen von Natur aus ein höherer Wert zu, im Grunde geht es um die uralte philosophische Frage, was zuerst war: das Wort oder das Bild.

Die Grundthese Boehms lautet, dass nicht das Wort dem Bild, sondern dass das Bild dem Wort zugrunde liegt, dass der Mensch eigentlich nicht primär in Worten denkt, sondern in Bildern, dass diese die Grundlage für sein Denken bilden, welches eigentlich nichts weiter als die Zergliederung und Ordnung des in Bildern Gedachten darstellt.

 

Allerdings setzt Boehm noch früher an: Er beginnt damit, das Bild - Deixis, das Zeigen - als ein eigenständiges Medium darzustellen, das nicht etwa ein defizitäres Denken oder Sprechen ist, sondern ein vollständig eigenständiges Medium mit ganz eigenen Möglichkeiten und entsprechend eigenen Gesetzmäßigkeiten. Bilder erzeugen, so Boehm, nicht auf die gleiche Weise Sinn, wie es Worte tun. Sie besitzen vielmehr "eine eigene, nur ihnen zugehörige Logik. Unter Logik verstehen wir: die konsistente Erzeugung von Sinn aus genuin bildnerischen Mitteln." (S. 34)

Die Bedeutung dieses Hinweises ist wohl nicht zu unterschätzen. Immerhin wird das Bild noch immer häufig mit dem in Verbindung gebracht, der zum Lesen nicht in der Lage ist. Entsprechend betont Boehm nachdrücklich: Diese Logik funktioniere nicht wie die der Sprache, ihre Erzeugung und ihr Verständnis verlaufe auf eine ganz andere Weise, weniger systematisch und zergliedernd, stattdessen wahrnehmend. Sie wird nicht verstanden, sie wird stattdessen wahrgenommen, ist daher ein Medium mit einer wahrscheinlich viel höheren Komplexität, als es das Wort bzw. die Schrift ist, einer Komplexität, die über das Zergliederbare und Eindeutige weit hinaus geht.

 

Diese Einsicht ist umso wichtiger, als Bilder - nicht allein die künstlerischen, sondern überhaupt alle möglichen Formen des Bilds - häufig unterschätzt werden. Ein Bild, so ist landläufig zu hören, bedürfe keiner Erläuterung, es sei 'einfach' und jedem gleichermaßen zugänglich. Dies ist, wie Boehm zeigt, eine geradezu naive Sicht auf die Bilder. "Man weiß, dass Bilder eine eigene Kraft und einen eigenen Sinn haben" (S. 34), und sich mit diesem nicht eigens zu beschäftigen, heißt, sich dieser Kraft ungeschützt auszusetzen, sich ihrer Manipulationsmöglichkeiten geradezu auszuliefern - wie das in der Realität leider ja nur allzu häufig geschieht. (Die gesamte Werbung basiert auf dieser Voraussetzung, nicht zuletzt auch politische Propaganda.)

 

Auch dieser letzte Hinweis ist wichtig: Es geht längst nicht mehr nur um Kunstwerke, um Bilder also aus dem geschützten Bereich des 'Ästhetischen' und der 'Freizeitwelt'. Im Zuge der so genannten digitalen Revolution seit dem späten 20. Jahrhundert ist der Mensch vielmehr Bildern in allen Bereichen seinesLebens ausgesetzt: sie sind "zu einem flexiblen und weltweiten Kommunikationsmittel" geworden, Kommunikation läuft inzwischen zu einem nicht unwesentlichen Teil über Bilder ab, umso mehr, wenn man technische Bilder und Diagramme mit hinzurechnet (und Diagramme sind Bilder!).

 

"Das Nachdenken über Bilder wurde damit zu einer dringenden Forderung. Aufklärung tut not. Bildkompetenz und Bildkritik werden sich nicht entfalten lassen, wenn der Status des Ikonischen unscharf bleibt, Bilder zwar allerorten eingesetzt werden, ohne dass wir hinreichend genau wüssten, wie sie funktionieren." (S. 35)

 

 

Was meinen wir, wenn wir vom "Bild" sprechen?

Ein Bild ist, Boehm zufolge, ein Gegenstand, der auf rätselhafte Weise "Macht auf Körper, Seele und Geist" des Menschen ausübt. (S. 36) Ein Bild

 

"ist ein Ding und ein Nicht-Ding zugleich, befindet sich in der Mitte zwischen schierer Tatsächlichkeit und luftigen Träumen: das Paradox einer realen Irrealität" (S. 37)

 

- solche paradoxen Formulierungen sind in der Wissenschaft beliebt, und da auch Boehm diesem Wissenschaftsbetrieb angehört, begegnen sie hin und wieder in seinen Texten, unabhängig davon, ob sie wirklich Sinn machen. Immerhin aber bezeichnet er damit die Tatsache der "Zwitterexistenz des Ikonischen" (S. 37), also eines Changierens des Bilds zwischen einem Gegenstand der realen Welt und dem Auslöser von Gedanken, Empfindungen, Assoziationen, Träumen, wobei anstelle von "Irrealität" wohl besser vom "Imaginatven" gesprochen würde: Ein Bild ist gewissermaßen ein Steigbügel, der vom Boden der greifbaren Wirklichkeit in die Welt der Phantasie führt.

 

Oder, um wieder näher an die Boehm'sche Terminologie zu kommen: Ein Bild zeigt etwas, es weist über sich hinaus auf etwas, dass dahinter liegt. Der Anblick verweist auf einen Sinn, bringt einen Gehalt hervor.

Wobei der Verweischarakter des Bilds etwas sichtbar oder präsent werden lässt, das ohne ihn unsichtbar oder sogar abwesend bliebe. Bilder schaffen also Gegenwart, schaffen Zugänge zu Abwesendem oder Abwesenden (Personen), wenn es sich beispielsweise um ein Erinnerungsbild an einen Verstorbenen handelt.

 

"Die Macht des Bildes bedeutet: zu sehen geben, die Augen zu öffnen. Kurzum: zu zeigen." (S. 39)

 

 

Warum aber kann dennoch, bei aller programmatischen Abgrenzung, die Sprache bzw. Sprachkritik dem Verständnis des Bilds dienen?

Tatsächlich bestand zwischen Sprache bzw. Wort und Bild seit dem Beginn unserer Kultur vor gut 5000 Jahren ein spannungsvolles Verhältnis. Boehm zeichnet die wesentlichen drei Stationen auf diesem Weg auf:

 

1. Das Bilderverbot im Buch Exodus

Das erste fassbare Dokument über dieses Verhältnis ist das Buch Exodus (2. Buch Mose). Als Gott Mose am Berg Horeb die Gesetzestafeln mit den Zehn Geboten übergibt, steht ganz an dessen Beginn dass Verbot von Bildern. Und während Mose sich von nun an ganz auf das bildlose Wort konzentriert, wird dieses Verbot von seinem Bruder Aaron postwendend übertreten, indem er das Goldene Kalb gießen lässt und es den Israeliten zur Anbetung zur Verfügung stellt.

 

Emil Nolde, Tanz um das Goldene Kalb, 1910; München, Staatsgalerie Moderner Kunst - Die Komplexität des Mediums Bild wird u.a. in Noldes "Tanz um das Goldene Kalb" deutlich. Das Bild ist unverkennbar weit davon entfernt, eine Illustration zum Text zu sein, appelliert stattdessen auf dem Weg über die Sinne an die Gefühle, Ängste und Sehnsüchte des Betrachters, weit über eine sprachliche Fixierung oder einen sprachlichen Appell hinaus.

 

2. Platos Ideenlehre

Plato, der für die folgende Geschichte der Philosophie maßgeblich sein wird, kennzeichnet Bilder als sinnlich und als trügerisch; sie seien "von der Wahrheit doppelt weit entfernt" (S. 41). Einzig der Logos der Ideen führe zur Wahrheit.

 

3. Die Lehre der Kirchenväter

Erst unter den Kirchenvätern etwa seit dem 5. Jahrhundert n. Chr. gewinnt das Bild eine gewisse Rechtfertigung: immerhin ist Gott in menschlicher Gestalt herabgestiegen: er ist 'Fleisch geworden', wie es in der theologischen Literatur heißt, und damit auch bildlich darstellbar. "Die Unsichtbarkeit und Undarstellbarkeit Gott-Vaters gewinnt jetzt durch Christus, den Sohn, einen sichtbaren Repräsentanten." (S. 41) Die Inkarnation rechtfgertigt also auch seine Darstellung in menschlicher Gestalt.

 

Kopie nach Jan van Eyck, Vera icon bzw. Christusporträt, 1438; Berlin, Gemäldegalerie SMB-PK - Die vera icon ist nicht nur ein Beleg dafür, dass Gott in menschlicher Gestalt zum Bild beworden ist. Die Entstehungslegende des Veronika-Bilds (Christus drückt während seines Kreuzwegs sein Gesicht in das Tuch, auf dem ein Abdruck zurück bleibt) erzählt zugleich davon, dass Christus selbst ein Bild geschaffen hat, das sein Abbild zeigt.

 

Seit etwa dem 15. Jahrhundert entwickelt sich dann auch ein säkulares Bildverständnis. Allerdings haftet auch diesem noch immer der Verdacht der 'Dienstleistung' an, so als sei das Bild, das zweifellos meist eine Art 'Botschaft' übermitteln will, nichts weiter als die illustrative - und damit eingängigere, leichter verständliche - Darstellung dieser ursprünglich sprachlich fixierten Botschaft in einem anderen Medium.

 

"Wer aber", so Boehm, "den Text hinter dem Bild allzu stark betont, landet unweigerlich bei einer Dominanz der Sprache, die das Bild - im wörtlichen Sinne - in seinen Möglichkeiten übersieht." (S. 43)

 

Wobei Boehms Kritik an dieser Einstellung noch weit früher ansetzt als bei der Kritik der Dominanz der Sprache über das Bild.

 

"Kein einziges Ding in der Welt schreibt [nämlich] vor, in welcher Form es angemessen darzustellen sei." (S. 43)

 

Auch die Sprache könne demzufolge keine angemessene Darstellung garantieren. Im Grunde ist dies nichts anderes als die berühmte Frage des Pilatus: 'Was ist Wahrheit?' (Johannes-Evangelium, Kapitel 18, Vers 38) Wenn also selbst Begriffe wie "Realität" oder "das Reale" in Frage stehen - wie kann dann ein Medium den Anspruch erheben, diese fragwürdige "Realität" angemessener dazustellen als ein anderes?

Wobei sich Bilder, wie Boehm betont, ohnehin nicht auf die Illustration eines Hintergrundtexts beschränken, sondern "sie bringen ein Zeigen eigenen Rechts zustande". (S. 43)

 

Zwar habe, so führt Boehm weiter aus, die Philosophie im 20. Jahrhundert im Zuge des linguistic turn versucht, das Primat der Sprache über das Bild, die Abhängigkeit aller Erkenntnisse von der Sprache nachzuweisen, doch habe die Gegenbewegung im Zuge des iconic turn wenig später die Bildlichkeit gerade als Grundlage der Sprache herausgestellt. "Begriffe sind für sie erkaltete Metaphern", mithin Bilder (S. 44).

 

In der Folge sei das Ikonische in der philosophischen bzw. wissenschaftlichen Erkenntnisbegründung wiederentdeckt worden. Als Kronzeugen gelten Boehm Edmund Husserl und Ludwig Wittgenstein ["denk nicht, sondern schau!"]. Die Sprachkritik, die diese Zeugen betrieben hätten, führte zu der Erkenntnis, in welchem Maß die Sprache tatsächlich auf der Bildlichkeit beruhe:

 

"Es sind anschauliche und ikonische Evidenzen, die der Sprache zu ihren Möglichkeiten verhelfen." (S. 45)

 

Und damit wiederum deute sich eine "epochale Verschiebung" an:

 

"Der Logos dominiert nicht länger die Bildpotenz, sondern er räumt seine Abhängigkeit von ihr ein. Das Bild findet Zugang zum inneren Bereich der Theorie, dem die Erkenntnisbegründung obliegt." (S. 45)

 

Oder, um es einfacher zu sagen: Auch die Philosophie entdeckt, dass mithilfe der Bilder eigene Erkenntnismöglichkeiten gegeben sind, die nicht etwa defizitäre sprachliche Erkenntnisse sind, sondern eine ganz eigene Qualität haben, die also nur über sie möglich sind. - Wobei im Übringen die Annahme des Primats der Sprache über das Bild ohnehin nur für das Philosophieren gilt, wie beispielsweise ein Blick auf den Umgang der Nachrichtenmedien mit den Bildern belegt: Hier gilt nach wie vor ein Bild - trotz allen Wissens um seine Manipulierbarkeit - als authentisches, evidentes Beweismittel.

 

"Jenseits der Sprache", so fasst Boehm seine Ausführungen zusammen, "existieren gewaltige Räume von Sinn, ungeahnte Räume der Visualität, des Klanges, der Geste, der Mimik und der Bewegung. Sie benötigen keine Nachbesserung oder nachträgliche Rechtfertigung durch das Wort. Der Logos ist eben nicht nur die Prädikation, die Verbalität und die Sprache. Sein Umkreis ist bedeutend weiter." (S. 53)