Annäherung an einen Solitär - Über William Turner

Es gibt diese Phänomene innerhalb unserer Kulturgeschichte: Menschen - Künstler -, die sich nicht einordnen lassen. Die eigentlich nicht in ihre Zeit passen. Von denen man sich fragt, wie sie dort eigentlich hingekommen sind und wie sie in ihrer Zeit das schaffen konnten, was sie geschaffen haben - in einer Zeit, die noch lange nicht dafür bereit zu sein schien.

 

(Und daraus ergibt sich dann auch immer die Frage, wo heute diese Menschen sind - denn auch heute kann es sie selbstverständlich geben - und wie das aussieht, was sie schaffen, während wir noch nicht bereit sind dafür.)

 

 

Versuchen Sie einmal, dieses Bild einzuordnen!

In welcher Zeit mag es entstanden sein?

Worum geht es darin?

Stellt es etwas dar?

Ist es gegenständlich oder ungegenständlich?

Was sehen Sie darin?

 

In einer Publikation wird dieses Bild - kommentarlos - gemeinsam mit diesem Bild gezeigt:

 

 

Vermutlich erkennen Sie dieses Bild auf den ersten Blick - es hängt in den Wartezimmern unendlich vieler Arztpraxen und in nicht weniger vielen Bürogebäuden in den unterschiedlichsten Formaten und Druckqualitäten -, auch wenn es nur das Prinzip ist, das wir hier wiedererkennen und das der Künstler in unzähligen Variationen angewandt hat.

 

Aber: was soll uns mit dieser Gegenüberstellung in der besagten Publikation gesagt werden? Zumal sie unkommentiert geschieht? (Mein Verdacht ist, dass nicht einmal der Autor von diesem Coup des Verlags wusste und vermutlich auch nicht besonders begeistert davon war.)

 

Das OEuvre des Künstlers unseres ersten Bildbeispiels ist fast unübersehbar groß. Tatsächlich haben sich daraus nicht zuletzt zahlreiche Werke erhalten, von denen nicht sicher ist, ob es sich um noch unfertige Experimente handelt, oder ob diese Werke fertig sind. Ob der Künstler damit andere, größere Werke vorbereitete, oder ob diese Werke für sich stehen sollten. Das eine nennen wir 'Skizze' oder 'Studie', das andere 'Werk' oder 'Kunstwerk', und angesichts der Zeit, in der diese Zeichnungen, Aquarelle und Öl-'Skizzen' entstanden, gehen wir meist davon aus, dass es sich nicht um fertige Arbeiten handelt. (Das kann eigentlich nicht sein, denken wir, und was nicht sein kann ...)

 

 

Außerdem neigen wir dazu, in diese höchst abstrakten Gebilde etwas Gegenständliches hineinzusehen. Dieses Aquarell beispielsweise heißt "Brennendes Schiff" (allerdings mit einem Fragezeichen), und der Name verführt dazu, an ein modernes Kriegsschiff zu denken, das vielleicht gerade explodiert; vielleicht wird auch nur ein Geschütz abgefeuert, in jedem Fall denken wir an Feuer. Allerdings gehört das Bild einer Epoche an, in der es solche Schiffe noch gar nicht gab! Es stellt sich daher die Frage, wie dieser Titel eigentlich zustanden gekommen ist.

 

Tatsächlich hat es schon im 18. Jahrhundert Versuche gegeben, mittels so genannter Klecksographien die Phantasie und Imaginationskraft von Künstlern anzuregen.

 

Alexander Cozens, New Method, blot No. 14, 1785/86; London, The Tate Gallery

 

 

So hatte der Künstler und Kunstschriftsteller Alexander Cozens (1717-1786) u.a. in seinem 1785/86 erschienenen Buch New Method of Assisting the Inventing in Drawing Original Compositions of Landscape eine Technik zur Stimulation der Fantasie von Landschaftsmaler vorgestellt, in der er "von abstrakter, noch dazu tendenziell zufälliger Form" so genannter 'blots', gegenstandsloser Farbflecken, ausging, die über den Weg der Fantasie des Künstlers "in ein konkretes Naturbild mündet[e]." (Anm. 1) Auf diese Weise war er zum bedeutendsten "direkten oder indirekten Anreger englischer Landschaftsmalerei der zweiten Fälfte des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts" geworden. (Anm. 2)

 

Die Technik erinnert an Max Ernsts Technik der Frottage und scheint daher aus der Rückschau wiederum nicht in die Zeit mit ihrer vom Klassizismus geprägten Kunstauffassung und ihrer regelgesteuerten 'Konstruktion' von Ideallandschaften zu passen. Tatsächlich geht der Ansatz bereits auf Leonardos Empfehlung an Künstler zurück, in den Mustern auf verwitterten Mauern oder geäderten Steinen Strukturen und Bilder und weiter ganze Landschaften und Schlachten zu entdecken. Allerdings wird, anders als bei Leonardo, bei Cozens diese Imaginations-Folie gezielt hergestellt, indem "der blot-Entwerfer den tintengefüllten Pinsel halb bewußt, halb unbewußt, ohne lange zu stocken, über das Papier laufen" lässt, "bis er meint, die Fläche des Blattes angemessen strukturiert zu haben." (Anm. 3) Das aber bedeutet, dass diese Strukturen nicht 'automatisch' oder vollständig willkürlich und zufällig entstehen, sondern in gewisser Weise zielgerichtet. Der Künstler ist prädisponiert, während er den Pinsel führt. Er hilft dem Zufall bewusst nach.

 

Aber wenn auf diese Weise die Beziehung eines solchen blots zu einer Frottage von Max Ernst auch nicht besonders groß ist, so kann man das Prinzip in dem oben erwähnten Aquarell des "Brennenden Schiffs" doch ohne weiteres wiedererkennen.

 

 

Die Vorstellung vom brennenden Schiff mag eine nachträgliche Assoziation sein, der Hauptanteil an der Formfindung scheint der Zufall der nass in nass aufgetragenen, verlaufenden Wasserfarben zu sein, in denen unterschiedliche Betrachter Verschiedenes erkennen werden. "Aber auch der Verfertiger des blot selbst kann", Werner Busch zufolge, "zu verschiedenen Zeiten und in anderer Stimmung zu neuen Lösungen kommen." (Anm. 4) Immerhin liest sich die Beschreibung des blots durch Alexander Cozens wie eine Beschreibung des kleinen Aquarells:

 

"Einen 'blot' zu machen, bedeutet [...], Flecken und Formen mit Tinte aufs Papier zu bringen, womit zufällige Formen ohne Linien produziert werden, von denen dem Verstand Ideen präsentiert werden." (Anm. 5)

 

Abstraktion?

 

In der gängigen Literatur zur Abendländischen Kunstgeschichte ist durchweg zu lesen, dass Wassily Kandinsky (1866-1944) derjenige Künstler gewesen sei, der das erste abstrakte Bild gemalt habe. Seit einiger Zeit wird auch die schwedische Künstlerin Hilma af Klint (1862-1944) dafür ins Feld geführt. Einmal abgesehen davon, dass hier die Bezeichnungen "abstrakt" und "ungegenständlich" wild durcheinander geworfen werden - beispielsweise werden in der online-Ausgabe des Kunstmagazins "art" die Begriffe durchweg synonym (und damit ungenau und z.T. falsch) verwendet (Anm. 6) - begegnet, wie wir in diesem Blog-Text sehen, Abstraktion und offenbar sogar Ungegenständlichkeit schon sehr viel früher:

 

Die oben gezeigten Werke stammen von Wilhelm Turner (1775-1851), der schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts atemberaubend moderne Werke schuf (weitgehend ohne dafür übrigens von seinen Zeitgenossen abgestraft zu werden), die Abstraktion und Ungegenständlichkeit bereits in sich trugen. Selbst so berühmte Werke wie "Schneesturm - Hannibal und seine Armee überqueren die Alpen" (s.u.) mit seinen faszinierenden Farbwirbeln scheint bereits von einer Emanzipation der Farbe, von einem dynamischen Eigenleben der Pigmente zu zeugen, die wir eigentlich erst aus dem Impressionismus und vor allem dem Expressionismus kennen.

 

 

Aber dieses Bild entstand bereits im Jahr 1812! Turner war zu diesem Zeitpunkt 32 Jahre alt, wir könnten also fast noch von einem 'Frühwerk' sprechen, und ihm blieben noch fast 40 Jahre, um weitere, von ähnlichen künstlerischen Mitteln geprägte, in der Anwendung dieser Mittel revolutionäre Werke zu schaffen. 60 Jahre sollten noch vergehen bis zu Monets Gemälde "Impression - Sonnenaufgang", das dem neuen Stil seinen Namen geben sollte, und fast 80 Jahre bis zu van Goghs "Sternennacht", in der vergleichbare Farbverwirblungen wiederbegegnen!

 

Wie es zu einem solch frühen 'Ausbruch' eines dermaßen ungewöhnlichen, überraschenden 'Genies' scheinbar ohne Vorläufer und ohne unmittelbare Nachfolge - Monet, Pissaro und Daubigny lernten Turners Werke 1870/71 in London kennen, vier Jahre danach fand die erste Ausstellung der Impressionisten in Paris statt (Anm. 7) - ist nur sehr schwer zu erklären. Es musste eine Reihe ungewöhnlicher Umstände zusammenkommen, aber selbst dann überrascht es, dass Turner unter seinen Zeitgenossen einen solchen Erfolg hatte. Gewöhnlich ernten Künstler, die ihrer Zeit so hoffnungslos voraus sind, ihre Lorbeeren - wenn überhaupt - erst gegen Ende ihres Lebens. Bei Turner war dies seltsamerweise anders. Schon 1843 setzte John Ruskin Turner im ersten Band seiner Buchreihe "Modern Painters" ein beispielloses Denkmal. Schon für ihn zählt Turner zu den größten Künstlern der gesamten, abendländischen Kunstgeschichte.


Anmerkungen

(1) Werner Busch, Alexander Cozens' "blot"-Methode. Landschaftserfindung als Naturwissenschaft, in: Heinke Wunderlich (Hg), "Landschaft" und Landschaften im achtzehnten Jahrhundert, Heidelberg 1995, S. 209-228, hier S. 213.

(2) Busch 1995 (wie Anm. 1), S. 209.

(3) Busch 1995 (wie Anm. 1), S. 220.

(4) Busch 1995 (wie Anm. 1), S. 220f.

(5) Alexander Cozins, New Method ..., S. 8f; zit. nach Busch 1995 (wie Anm. 1), S. 222.

(6) "Abstrakte Kunst. Der Verzicht auf den Bildgegenstand erschütterte Anfang des 20. Jahrhunderts die bildende Kunst: Für die abstrakten Künstler war der Sinn der Malerei nun nicht mehr die Interpretation der Wirklichkeit, sondern der reine Ausdruck von Farbe und Form. Künstler wie Wassily Kandinsky und Piet Mondrian bahnten mit ihren Kompositionen aus Linien den Weg für Konstruktivismus und abstrakten Expressionismus." http://www.art-magazin.de/kunst/13-thma-abstrakte-kunst - Hier müsste statt "abstrakt" durchweg "ungegenständlich" stehen und selbst die allgemein übliche Stil-Bezeichnung "abstrakter Expressionismus" müsste eigentlich in "ungegenständlicher Expressionismus" verändert werden.

(7) Monika Wagner zufolge bestehen zwischen Turners Werken und denen Monets und der übrigen Impressionisten Ähnlichkeiten wie Unterschiede, so dass sie sehr zurückhaltend ist, von einem unmittelbaren Einfluss Turners auf die Impressionisten zu sprechen; die Verwandtschaft sei eher motivischer Natur: "Die impressionistische Malerei hat, um es mit Andreas Haus allgemeiner zu formulieren, eine 'optische Egalisierung' aller Bildgegenstände betrieben und sie dem Raster abstratker Farbflecken unterworfen, sie hat zergliedert und zerlegt. Turner dagegen arbeitete, wie Thoré-Bürger zu Recht betonte, gerade an der Verbindung und Fusion aller Bildgegenstände." Monika Wagner, William Turner, München 2011, S. 122f.

 

Bei den oben gezeigten Werke handelt es sich um:

1. William Turner, Farbstruktur, 1819; London, The Tate Gallery

2. Mark Rothko, Ohne Titel, 1963; Washington, Mark Rothko Estate

3. William Turner, Brennendes Schiff, um 1830; London, The Tate Gallery

4. William Turner, Schneesturm - Hannibal und seine Armee überqueren die Alpen, 1812; London, The Tate Gallery

Bei der eingangs erwähnten Publikation handelt es sich um: Michael Bockemühl, J.M.W. Turner 1775-1851. Die Welt des Lichtes und der Farbe, Köln 2007; Rothko und "Farbstruktur: S. 37 u. 36.