Diedrichs liest Imdahl (Teil 5): Who's Afraid of Red, Yellow and Blue?

Max Imdahl, Barnett Newman. "Who's Afraid of Red, Yellow and Blue III", in: Ders., Zur Kunst der Moderne. Gesammelte Schriften, 1. Hg. v. Angeli Janhsen-Vukicevic, Frankfurt am Main 1996, S. 244-273.

Was stimmt an diesem Bild nicht?

 

Die Fakten zum Bild:

  • gemalt 1966/67
  • Maße: 2,45m (Höhe) x 5,44m (Breite)
  • verwendete Farben: Kadmium-Rot, Kadmium-Gelb, Ultramarin-Blau
  • Öl auf Leinwand

 

  • der blaue Streifen links: 15cm
  • der gelbe Streifen rechts: 2,5cm
  • der rote Streifen in der Mitte: 526,5cm
  • signiert
  • Amsterdam, Stedelijk Museum

Was stimmt an der ersten Abbildung des Bilds "Who's Afraid of Red, Yellow and Blue III" nicht?

Dass der Betrachter durch Absperrung und Wachmann daran gehindert wird, nahe an das Bild heranzutreten.

So, wie das Bild hier präsentiert wird, hat der Betrachter keine Chance, 'in das Bild einzutauchen', so wie Newman es selbst ausdrücklich gewünscht hat.

Die Bank steht entschieden zu weit weg vom Bild. - So wird die von Newman angestrebte Wirkung zerstört.

Allerdings entspricht dies unserem Sicherheitsbedürfnis: Wir möchten (zunächst) aus der Distanz wahrnehmen, möchten selbst entscheiden, wie weit wir uns einer Sache annähern, uns ihr aussetzen wollen. Distanz gibt Sicherheit. Gerade die wollte Newman jedoch überwinden.

 

Anders als es bei einem flüchtigen Blick scheinen mag, sind die Farbflächen nicht monochrom. Die Öl-Farbe ist nicht aufgespritzt, sondern von Hand gemalt. Auf diese Weise bleiben Spuren handwerklich-malerischer Tätigkeit wahrnehmbar.

"Das manuelle Malen ist ein für die von Newman erstrebte Erscheinung der Farbe notwendiger und durch andere Verfahren [z.B. Spritztechnik] nicht zu ersetzender Akt." (S. 245)

 

 

Die von Newman gewünschte Wirkung ist nur am Original zu erleben.

 

 

Imdahl beginnt seinen Text über Newmans "Who's Afraid of Red, Yellow and Blue III" mit den Fakten. Was heutzutage gänge Praxis ist - einleitungslos mit einem Text (oder Film) zu beginnen - war 1971, als der Aufsatz entstand, ungewöhnlich: Man begann zunächst woanders, näherte sich langsam an und entschied währenddessen, wie nahe man überhaupt herankommen will. Schon Imdahls Schreibweise hat also etwas Programmatisches - etwas indessen, das er dem Bild bzw. Newmans Wunsch über den Umgang mit dem Bild abgeschaut hat.

Das macht er selbst sogar explizit, indem er gleich zu Beginn die Präsentationsform des Bilds kritisiert: das Stedelijk-Museum in Amsterdam inszeniert das Bild so, dass sich der Betrachter ihm langsam annähert. Langsam und aus großer Entfernung tritt der Betrachter auf das "Riesenbild" zu. "Diese Aufhängung widerspricht den Absichten Newmans, denn Newman selbst hat ausdrücklich gefordert, daß der Beschauer das Bild aus der Nähe betrachten müsse. Die nahe Distanz des Beschauers vom Bilde und die Größe des Bildes selbst sollen zusammenwirken, damit die Größe als Großheit erfahren werden kann." (245f)

 

Diese Praxis wird auch beispielsweise von Jackson Pollock und Mark Rothko angestrebt. "Strenggenommen gehört Newmans Bild in einen eher gangartigen Querraum, der eine große Distanznahme des Beschauers von vornherein verhindert." (246)

 

 

 

Newman verlässt mit seinem Bild jede Form bekannter, herkömmlicher Kunsterfahrung, strebt etwas - zu seiner Zeit - vollkommen Neuartiges an. Er selbst nennt das, worauf er abzielt, die Erfahrung des Erhabenen (the sublime).

Es geht ihm um ein transzendentales Experiment, die Überschreitung des Materiellen zum Immateriellen. Newman tut dies nicht durch den Einsatz "transzendierender" Materialien - in der Gotik nahm man für eiinen solchen 'anagogischen' Aufstieg vom Materiellen zum Immateriellen Gold und Edelsteine zur Hilfe -, sondern durch eine neuartige Form der Malerei, die das "Erlebnis einer jede vertraute Erfahrung übersteigenden Erfahrung [...] ermöglichen" soll. (247)

Dabei wird diese Erfahrung nicht etwa durch die Vermittlung einer intellektuell zu erfassenden Erkenntnis oder Einsicht ermöglicht. Der Rezipient soll von Newmans Kunst vielmehr "unmittelbar betroffen und überwältigt" werden. (247) Kunst soll erfahren, nicht nur verstanden werden. Und diese Erfahrung soll insofern auf den Beschauer wirken, dass er auch sich selbst ganz neu erfährt.

Es geht Newman um die Vermittlung einer "absoluten Emotion" (absolute emotion), um ein "elementares menschliches Vermögen". Wobei mit "Emotion" "nicht ein einzelner Affekt oder ein Ensemble von Affekten (Freude - Trauer) gemeint [ist], sondern das Erlebnis des Erhabenen, das sich verknüpft mit einer neuen Erfahrung und Erhöhung (exaltation) des eigenen Selbst." (248)

 

Imdahl attestiert dem Bild "Who's Afraid of Red, Yellow and Blue III" eine solche neue Erfahrung der Betroffenheit und Überwältigung - wobei aus heutiger Perspektive, 50 Jahre nach der Entstehung des Bilds der Grad der möglichen Betroffenheit, der "aus der Fassung setzenden Erscheinung", ein anderer ist als in den späten 1960er oder frühen 1970er Jahren, als das "aus der Fassung-Setzen" als künstlerisches Mittel gerade erst entdeckt wurde. Damals aber stand der Betrachter vor einem solchen Bild tatsächlich fassungs-, vor allem orientierungslos. Im optimalen Fall wurde er vom Gesehenen überwältigt, ließ er sich vom Erhabenen ergreifen und jenseits seiner eingeübten kulturellen Praktiken auf eine eher "absolute" Weise, im Sinne eben eines elementaren menschlichen Vermögens, ergreifen.

Das Erhabene als Erfahrung, als Gegenwart: The sublime is now (Newman; 248)

 

 

Wie sehr das Bild tatsächlich auf einen Menschen einwirken, ihn buchstäblich ergreifen und mitreißen kann, zeigt ein Attentat, das 1982 auf "Who's Afraid of Red, Yellow und Blue IV" in der Berliner Neuen Nationalgalerie verübt wurde. Das Bild hing  keine drei Monate dort, als ein manisch-depressiver Mann, ein 29-jähriger Student der Veterinärmedizin, während der Betrachtung des Bilds eine der Absperrstangen ergriff und damit dreimal auf das Bild einschlug.

 

Der Künstler und Publizist Peter Moritz Pickshaus hat diesen Vorfall untersucht und gezeigt, dass der psychisch kranke Mann den Appell Newmans, an den "Fundus des absoluten Gefühls" zu rühren, offenbar ungefilert verstand, damit in gleichsam autistischer Manier jedoch nicht umgehen konnte, sich stattdessen von dem Bild geradezu attackiert wurde.

Später berichtete er: Ich wollte es gar nicht unbedingt kaputtmachen. Ich hatte nur für so einen Moment das Gefühl: Ich muß mich regelrecht dagegen wehren." Er habe vor dem Bild das ganz intensive Gefühl gehabt, "daß mir irgend etwas passieren kann." Was genau das gewesen sei, könne er jedoch nicht sagen. "Daß da irgendwie irgendwelche Gespenster drin hausen ... Nichts Artikuliertes. Lauter unartikuliertes Zeug." Prägend sei einfach die Angst gewesen, er sei - so wörtlich - "aus einer gewissen Angst heraus" mit der Stange gegen das Bild vorgegangen." (Peter Moritz Pickshaus, Kunstzerstörer. Fallstudien: Tatmotive und Psychogramme, Reinbek bei Hamburg 1988, S. 65-123, hier S. 91)

 

Offenbar ist die Wirkung des Bilds also tatsächlich so groß, dass es - durch Absperrung und Wachmann - vor den Folgen der Betrachtung geschützt werden muss.

 

 

Diedrichs liest Imdahl (Teil 6): Newman und das Erhabene

Max Imdahl, Barnett Newman, "Who's Afraid of Red, Yellow and Blue III", in: Ders., Zur Kunst der Moderne. Gesammelte Schriften, Band 1, hg. v. Angeli Janhsen-Vukicevic, S. 244-273.

 

Das Thema, um das es im Zusammenhang von Newmans "Who's Afraid of Red, Yellow and Blue III" geht, ist das Erhabene.

 

Schon nach frühchristlichen Theorien ist mit der Erfahrung des "Erhabenen" eine Erfahrung gemeint, die in einem Erlebnis, nicht aber (primär) in einer intellektuellen Erkenntnis besteht. Es ist nicht auf dem Weg über den Verstand zu vermitteln, sondern nur auf dem Weg des Staunens oder der Erschütterung "machbar".

Darauf hat bereits Edmund Burke (1729-1797) hingewiesen und hat in diesem Erhabenen "die wichtigste Evokation der Kunst erblickt" (S. 248). In Deutschland läuft die Tradition über Kant und Schiller, von dort über Thomas Carlyle (1795-1881) in die angelsächsische Tradition.

 

Das Erlebnis des Erhabenen ist, Burke und Newman zufolge, nur erfahrbar über etwas Ungewohntes. Das Erhabene ist im Gewohnten nicht erspürbar.

Im Zuge seines Versuchs, das Erlebnis des Erhabenen durch die Erfahrung des Ungewohnten zu ermöglichen, wendet sich der Künstler Newman beispielsweise von dem für die Kunst über lange Zeit hinweg konstitutiven Anspruch auf Schönheit innerhalb der Kunst ab.

Die traditionelle Kunst und ihre Orientierung an einem Schönheitsbegriff oder -ideal gibt dem Erlebnis des Ungewohnten in seinem Verständnis nicht genügend Raum. Die "etablierte Rhetorik der Schönheit", so Newman, beherrsche die Welt der Kunst in einem Maße das nicht in jedem Fall erkennbar sei. Auch beispielsweise Geometrie, wie Piet Mondrian (1872-1944) sie verwende, sei letztlich an Schönheit orientiert und stelle sich daher dem Erlebnis des Erhabenen, für das das Ungewohnte konstitutiv sei, eher in den Weg.

 

Piet Mondrian, Komposition mit großem, rotem Feld, Gelb, Schwarz, Grau und Blau, 1921; Den Haag, Haags Gemeentemuseum

Formal grenzt sich Newman in diesem Sinne von Mondrian beispielsweise dadurch ab, dass er Komposition für seine eigenen Bilder vermeidet. Komposition mache ein Bild aus der Distanz und im Ganzen wahrnehmbar. Bei Mondrian hat jedes einzelne Element im Bild seine Funktion innerhalb der einheitlichen Komposition. Das Bild wäre zerstört, wenn man eines dieser Elemente verändern oder entfernen würde. Es ist Teil eines Ganzen, das vom Betrachter als solches wahrgenommen wird. "Das Bild ist ein idealer Kontext, in dem sich das Verlangen des Menschen nach Anschauung einer in der Realität so niemals hervorscheinenden Harmonie erfüllt wie eben in einem Bilde." (250) Wenn sie so in der Realität auch nie erscheint, so bleibt diese Harmonie doch auf diese bezogen, und eben dieser Bezug, diese Form der Repräsentation, macht sie für das Erlebnis des Erhabenen, welches nur über das Ungewohnte geht, untauglich.

 

Folgerichtig vermeide Newman, so Imdahl, jede Form der Komposition.

 

Barnett Newman, "Who's Afraid of Red, Yellow and Blue III", 1967; Amsterdam, Stedelijk Museum

 

Er vermeide konsequent jedes sich Kreuzen von Linien, die eine Komposition ergeben könnten. Komposition sei "eine Form der Harmonisierung von Gegensätzen" (251), damit zugleich aber auch eine Form, an die wir gewöhnt sind, die wir kennen, selbst wenn sie so in der Natur nicht begegnet: in der Natur gibt es keine Harmonisierung durch Komposition; wenn wir sie dort finden, ist sie von uns selbst aufgrund unserer Erfahrung dort hineingetragen und 'erkannt' worden.

Überwältigung durch das Erhabene aber ist ja, Newman zufolge, nur durch das "Erlebnis einer jede vertraute Erfahrung übersteigende Erfahrung" möglich, also auch nur ohne die uns bekannte Komposition.

 

Und dann formuliert Imdahl einen wesentlichen Gedanken Newmans, der vorher schon einmal kurz anklang. Darin geht es letztlich darum, worauf Newmans Bilder verweisen, wenn sie 'transzendieren', was sie ja grundsätzlich tun wollen.

Wenn europäische Künstler Transzendenz erzeugen, transzendierend arbeiten wollen, verweisen sie mit ihren Bildern demnach auf eine Realität, eine Wirklichkeit, die außerhalb ihrer selbst liegt. Wörtlich ist das die Bedeutung des Begriffs "transzendieren": die eigene Realität übersteigen.

Newmans Bilder dagegen verweisen den Betrachter auf sich selbst: "Der Beschauer selbst ist thematisiert als der im Anblick der erhabenen Erscheinung des Bildes seine eigene Erfahrung Erfahrende und dadurch Erhobene." (251) Transzendenz bei Newman bedeutet also das rückverwiesen-Sein des Betrachters auf sich selbst.

 

Es geht dabei geht es um eine Form der Überwältigung, die in dem ungewohnt intensiven Erlebnis der eigenen Präsenz besteht. "In der durch die Erhabenheit der Bilderscheinung bedingten konkreten Situation der Überwältigung wird das Präsenzerlebnis des Beschauers als eine neue Erfahrung und Erhöhung seines Selbst und seiner Freiheit zum Thema.

 

Barnett Newman und eine unbekannte Frau vor dem Bild "Cathedra", 1958 (Fotographie von Peter A. Juley)

 

 

Diedrichs liest Imdahl (Teil 7): eine neue Form der Totalität

Max Imdahl, Barnett Newman, "Who's Afraid of Red, Yellow and Blue III", in: Ders., Zur Kunst der Moderne. Gesammelte Schriften, Band 1, hg. v. Angeli Janhsen-Vukicevic, S. 244-273.

 

Nach der Darstellung der Theorie des Erhabenen, die von Edmund Burke zu Barnett Newman führe und von der für Newman besonders die Erfahrung des Ungewohnten wichtig wurde - das Erlebnis des Erhabenen werde erst durch die Erfahrung des Ungewohnten möglich -; nach dem Hinweis schließlich auf die Abwendung der Kunst Barnett Newmans von einem Konzept äußerer Schönheit hin zu einem Konzept des Erlebnisses des Erhabenen, das für den jeweiligen Betrachter eines Bilds im optimalen Fall in der Überwältigung durch die Erfahrung der eigenen Präsenz besteht, wendet sich Imdahl dem Bild "Who's Afraid of Red, Yellow and Blue III" zu und befragt es auf diese Erfahrung des Erhabenen hin, durch die der Betrachter sich seiner selbst, seiner Präsenz und seiner Freiheit bewusst werden soll.

 

 

Die erste Erfahrung, die der Betrachter vor dem Bild macht, ist die der Größe des Bilds; steht er, wie von Newman gewünscht, ganz nahe davor, so verliert er die Orientierung, erfährt sich selbst als räumlich desorientiert, als ortlos. Er hat keinen Anhaltspunkt, an dem er sich räumlich festhalten könnte, empfindet sich stattdessen als mehr oder weniger frei im Raum schwebend.

Gleichzeitig aber weiß der Betrachter, dass das Bild begrenzt ist. Es befindet sich an einem Ort - und mit ihm der Betrachter - und hat Grenzen, selbst wenn es aus entsprechender Perspektive Anderes suggeriert. Das Erlebnis dieses Changierens zwischen Totalität und Begrenzung gehört für Newman zum Erlebnis der Neuartigkeit und der Erhabenheit des Bilds hinzu.

 

"Die von Newman intendierte Ermöglichung einer alle vertraute Erfahrung übersteigende Erfahrung als die Überwältigung zur Erhabenheit geschieht durch ein ebenes, unüberschaubar großes, begrenztes und zugleich vermöge der Malerei in eine neue Art von Totalität transformiertes Kontinuum." (S. 254)

 

Zeitlich kurz vor Newman hat Jackson Pollock bereits daran gearbeitet, "die Grenzen des rechteckigen Bildes zu ignorieren zugunsten der Erfahrung eines Kontinuums, das in alle Richtungen zugleich und über die faktische Dimension des jeweils gegebenen Werkes hinaus sich erstreckt." (255)

 

Jackson Pollock, Number 32. 1950 (Lackfarbe auf Leinwand), 1950; Düsseldorf Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen

 

 

Pollocks Technik bezeichnet man als das "polyfokale all-over": '

Polyfokal' = mit einer Vielzahl von optischen Brennpunkten;

'all over' = eine Struktur, die netzartig die gesamte Bildfläche überzieht.

 

"Das polyfokale all-over ist eine antikompositionelle, den Beschauer desorientierende Bedeckungsstruktur, so daß der Beschauer, wo immer vor dem Bildfeld er steht und wohin immer er blickt, die prinzipell gleiche Erfahrung macht und desorientiert ist wie vor einer unüberschaubaren Wand." (255)

 

Was bei Pollock auffällt, ist die Tatsache, dass diese all-over-Struktur tatsächlich potentiell erweiterbar ist über die Grenzen des Bilds hinaus. Imdahl spricht hier von einem "ermalte[n] Kontinuum von grundsätzlich anderer, nicht nur mehr materieller Kategorie", die erweiterbar sei "ins potentiell Unbegrenzte". (256)

 

Ähnliches geschehe bei Newman mit der Farbe Rot. Diese Farbe hat in diesem Zusammenhang keinen symbolischen oder auch harmonisierenden Effekt - jedenfalls wird dieser von Newman nicht angestrebt -, stattdessen zielt die Farbe auf ihre "absolute Qualität" (Newman), die im Bild "Who's Afraid" noch gesteigert wird durch die schmalen Farbstreifen in Gelb und Blau. "Die Farben Rot, Gelb und Blau sind die polaren Buntheiten, und sie drücken zugleich, auch wenn sie als ebene Farbfelder begegnen, verschiedene Raumimpulse und Aktivitäten aus." (257)

 

Diese Farben begegnen auch bei Piet Mondrian, doch hier sind sie durch die orthogonal sich durchkreuzenden Linien gewissermaßen domestiziert.

 

Piet Mondrian, Komposition Nr. 10 (unvollendet), 1938-1942; Privatsammlung

 

Bei Newman dagegen wird ihre Kraft freigesetzt, und von daher wird auch der Bildtitel verständlich, denn nun kann es wirklich geschehen, dass ein Betrachter Angst bekommt vor diesen entdomestizierten, befreiten Farben Rot, Gelb und Blau. "In Mondrians Bildern sind die den Farben Rot, Gelb und Blau innewohnenden spezifischen Energien, auch die des räumlichen Vordringens und Zurückweichens, gegeneinander ausbalanciert im Kontext der Bildkomposition als einem Ausgleichsprodukt all dieser Kräfte." (258)

 

 

Newmans Bild "Vir Heroicus Sublimis" aus dem Jahr 1950 wird ebenfalls geprägt durch die dominierende Farbe Rot.

 

Barnett Newman, Untitled (Vir Heroicus Sublimis), 1950 (Öl-Leinwand, 242.2 x 513.6 cm); New York, Museum of Modern Art

 

Diesmal aber ist die nicht zu erfassende, rote Fläche von fünf schmalen, farbigen Linien unterbrochen, die parallel zu den seitlichen Bildrändern verlaufen und auf diese Weise mit ihnen korrespondieren, ohne indessen eine Regelmäßigkeit oder Ordnung erkennen zu lassen (die ohnehin nicht erkennbare wäre, denn auch für dieses Bild fordert Newman ausdrücklich die größtmögliche Nähe des Betrachters zur Bildfläche). Wieder gibt es keine Kreuzungen von Linien, mithin keine Komposition.

 

Funktion der Streifen scheint es - unter anderem - zu sein, das von ihnen durchbrochene, jedoch fortgesetzte und dominierende Rot als "potentiell grenzenlos und amorph" erfahrbar werden zu lassen. "Niemals hat Newman es bei der Desorientierung bewenden lassen, die schon durch die Unüberschaubarkeit eines riesigen einfarbigen Bildfeldes bewirkt ist." (260)

 

 

"Who's Afraid of Red, Yellow and Blue" ist in seiner zweiten Fassung von 1967 ebenfalls durch senkrechte Farbstreifen gegliedert.

 

Barnett Newman, Who's Afraid of Red, Yellow and Blue II, 1967; New York, Sammlung Anna Lee Newman (305 x 259 cm)

 

Hier allerdings sieht die Aufteilung der Flächen und Streifen anders als als in Version III. Zwar dominiert auch hier das Rot, doch sind die gelben und der blaue Streifen innerhalb der Fläche anders positioniert. Sie scheinen ihren Platz nicht beliebig gefunden zu haben, wirken stattdessen als symmetrische Gliederungselemente. Sie sind hier aktiver als in Version III. Hier "bedingen die Streifen vermöge ihrer Farbstärke gegenüber dem Rot und vermöge ihrer im Bildfeld entschiedenen, symmetrischen Lokalisierung die Erscheinung einer Vertikalstruktur ohne bestimmbaren Anfang und ohne bestimmbares Ende." (261) Wieder verzichtet Newman auf jede Form der Komposition, die Mondrians Bilder harmonisierend ausbalanciert hatten.

 

Die besprochenen Bilder Newmans führen, Imdahl zufolge, "bei aller Verschiedenheit ihrer Erscheinung vor Augen, daß die in homogenen Farbflächen und senkrechten Linien sich entfaltende Malerei Newmans das jeweils gegebene (gewählte), quer- oder hochformatige Bildfeld als eine begrenzte Ebene sowohl legitimiert als auch transformiert in eine durch das Bildfeld nicht mehr eingeschränkte und dieses selbst entgrenzende Totalität ('a new kind of totality'), und zwar durch die Einführung regelloser wie ebenso auch geregelter, symmetrischer Streifenstrukturen." (261f)