Vorabveröffentlichung: Einleitung (Über die Betrachtung von Kunstwerken) zu Band 5 - "Woran stirbt Jesus Christus? Und warum?"

10. Juli 2017

 

Der 5. Band in der Reihe "einblicke - Kunstgeschichte in Einzelwerken" steht kurz vor der Veröffentlichung. An dieser Stelle wird die Einleitung vorabveröffentlicht.

 

Die Einleitungen zu den einzelnen Bänden thematisieren jeweils kurz und konzentriert die methodologische Grundlage, auf der das steht, was im nachfolgenden Text dargestellt wird. Es geht dabei um eine Anregung, sich selbst darüber im Klaren zu werden, wie unsere Betrachtung von Kunstwerken eigentlich funktioniert - und welchen Gefahren wir dabei beispielsweise ausgesetzt sind. Es dient der Tiefe des Einstiegs in ein Bild, wenn wir Hilfsmittel kennenlernen, mit denen wir diesen Gefahren begegnen können. Daher wird bei jeder Bildanalyse großer Wert auf diese Einleitungen gelegt - die trotz aller 'grauen' Theorie gut lesbar und interessant sein sollen.

 

Mathis Gothart Nithart, genannt Grünewald, Kreuzigung Christi; Isenheimer Altar, Werktagsseite, 1512-1516; Colmar, Unterlinden-Museum

 

„Die Kunst der Beschreibung“ – diese Formulierung hört sich wie ein Fehler an, wie eine Wortverdrehung. Es sollte ‚Die Beschreibung von Kunst‘ heißen, meinen wir. Was wäre es schließlich für eine seltsame Kunst, etwas zu beschreiben?

 

Aber die Formulierung stimmt tatsächlich, es gibt sogar einen aus dem Griechischen stammenden Fachbegriff dafür: Ekphrasis. Die Ekphrasis oder eben Kunst der (Bild-)Beschreibung beginnt bereits in der griechischen Antike, mit Homers ausführlicher Beschreibung des Schilds des Achilleus im 18. Gesang der Ilias (V. 478ff), zeitlich also etwa im 8. Jahrhundert vor Christus.

 

Selbstverständlich unterscheidet sich das, was Homer in seinem Epos tut, von dem, was wir tun, wenn wir ein Bild beschreiben. Die Beschreibung erfüllt bei uns keinen Selbstzweck, so wie es angesichts antiker Ekphrasen der Fall gewesen zu sein scheint. Die Beschreibung ist bei uns der erste Schritt der systematischen Untersuchung und Deutung eines Bilds. Wir beschreiben ein Bild, um es angemessen interpretieren zu können.

 

 

Beschreibung als erster Schritt der Deutung eines Kunstwerks

 

In den früher erschienenen Bänden der Buchreihe „einblicke – Kunstgeschichte in Einzelwerken“ hatten wir gesehen, dass am Beginn jeder Analyse eines Kunstwerks notwendigerweise eine eingehende Beschreibung stehen muss. Anlässlich einer Bildtafel des niederländischen Malers Jan van Eyck (um 1390–1441) hatten wir exemplarisch verfolgen können, wie eine solche Beschreibung konkret aussehen kann. (Anm. 1 - Anmerkungen stehen weiter unten)

 

Eine solche saubere und vor allem unvoreingenommene Beschreibung ist in der Tat eine hohe Kunst – wobei ‚Kunst‘ (lateinisch ars) hier eher im mittelalterlichen Sinn von ‚Handwerk‘ bzw. ‚Wissenschaft‘ verstanden wird. Denn in dieser Beschreibung geht es darum, sehr sensibel die Zeichen, die der Künstler mit und in seinem Werk hinterlassen hat, richtig zu erkennen und sie zu verstehen, ohne also beispielsweise etwas in ein Werk hineinzudeuten, das tatsächlich nicht darin steckt, und ohne nur das zu sehen, was wir ohnehin schon kennen und es daher erwarten. Denn ein Kunstwerk – davon müssen wir bei einem Kunstwerk von Rang grundsätzlich ausgehen – will uns immer etwas Neues mitteilen oder immer wieder neu eine bestimmte Erfahrung vermitteln. Ein solches Kunstwerk wird uns niemals etwas erzählen wollen, was wir längst wissen und was nicht über dieses Wissen hinaus geht. Es wird uns beispielsweise niemals eine biblische Geschichte nur nach-erzählen, weil es meinte, dass wir oder der ursprünglich anvisierte Betrachter sie noch nicht kennen würde. Es wird uns daran vielmehr immer etwas Neues klarzumachen versuchen, für das wir als Betrachter indessen offen sein müssen, um es wahrnehmen und verstehen zu können.

 

Aus diesem Grund ist aber auch die Beschreibung, also die sorgfältige, systematische Betrachtung eines Kunstwerks auf dem Weg der bewussten, kritischen Übersetzung der Beobachtungen in Sprache, die notwendige, unverzichtbare Grundlage für das Verständnis eines jeden Kunstwerks.

 

Allerdings unterscheiden sich Werke der vormodernen Kunst (Mittelalter, Neuzeit bis ca. 1800) und der modernen Kunst (um 1800 bis ca. 1950) so sehr in ihrem allgemeinen Verständnis von Kunst, dass sie an die Beschreibung und Deutung gänzlich unterschiedliche Anforderungen stellen. Für die Analyse vormoderner und moderner Kunstwerke braucht es also verschiedene Methoden. Es führt nicht zu angemessenen Ergebnissen, beide nach den gleichen Kriterien zu betrachten und zu deuten.

  • Moderne Kunstwerke wollen in der Regel nicht mehr zu objektivierenden, eindeutig vorformulierten Aussagen hinführen, sondern sind als Leerstellen zu verstehen, die vom Betrachter selbst mit seinen subjektiven Assoziationen gefüllt werden müssen. Es ist klar, dass die Analyse eines solchermaßen auf persönliche, individuelle Suggestion abzielenden Kunstwerks anders funktioniert und in eine andere Richtung läuft als die Interpretation eines Kunstwerks, das eine bestimmte, ‚objektive‘ Aussage vermitteln will.
  • Vormoderne Kunst dagegen ist gewöhnlich Bedeutungsträger, dessen Botschaft in großen Teilen genau festgelegt ist. Ihre Betrachtung dient nicht der Anregung zu subjektiver, individueller Assoziation, sondern der Entschlüsselung dieser Botschaft, die nur en passant auch noch in kaum formulierbare Aussagen oder Anregungen münden kann – Anregungen, die nur durch Kunst ausgelöst werden können und die sich gelegentlich sogar dem Einfluss von Auftraggeber und sogar Künstler entziehen.

Da sich dieses unterschiedliche Verständnis von Kunst auf die Analyse und Deutung der Kunstwerke grundlegend auswirkt, ist die Epochenschwelle zwischen Neuzeit und Moderne – zeitlich also der Kunst bis ca. 1800 und jener seit ca. 1800 – die einschneidendste, bedeutsamste und folgenreichste innerhalb der gesamten abendländischen Kunstgeschichte. Keine der voraufgehenden Epochenschwellen ist in ihren Auswirkungen dieser vergleichbar. Ihrer Bedeutung entsprechend verlangt sie nicht zuletzt nach einer Unterscheidung in der Methodik, wenn es um die Deutung von Kunstwerken vor oder nach dieser Epochenschwelle geht. Dem gilt es, auch in dieser Buchreihe Rechnung zu tragen.

 

Auf Kunstwerke des Mittelalters und der Neuzeit werden wir also eine andere Methode der Deutung anwenden müssen, als auf Kunstwerke der Moderne.

 

Unabhängig davon, ob wir es mit einem Kunstwerk der Moderne oder des Mittelalters/der Neuzeit zu tun haben, sollte der erste Schritt einer Deutung immer in einer eingehenden Betrachtung bestehen. Es ist in jedem Fall wichtig, zunächst sehr genau hinzusehen, bevor damit begonnen wird, Schlüsse zu ziehen und damit das Kunstwerk zu deuten.

 

Dies geht am besten, indem die Beobachtungen in Worte gefasst werden. In der Ausformulierung des Gesehenen überprüfen wir zugleich unsere Beobachtungen und präzisieren sie. In der Forschungsliteratur spricht man von der Transformation des Bilds in Text. Es ist viel darüber nachgedacht worden, ob dieser Vorgang überhaupt möglich ist – ob Sprache diese Aufgabe meistern kann – und wenn, unter welchen Voraussetzungen. Einig sind sich indessen alle darin, dass er großer Sorgfalt bedarf. Was daran für uns besonders wichtig ist, ist die Tatsache, dass eine solche sorgfältige Beschreibung den Blick schärft.

 

Einer alten, kunstwissenschaftlichen Tradition folgend ist es sinnvoll, die auf die Beschreibung folgende Analyse vormoderner Kunstwerke in einzelnen Schritten durchzuführen, die jeweils aufeinander aufbauen. In diesem Band der Reihe „einblicke“ werden wir besonders die nächsten beiden Schritte oder Stufen des auf diese Weise entstehenden Vierstufenmodells der Beschreibung und Deutung von Werken der Bildenden Kunst in den Fokus nehmen:

  • den Vergleich der dargestellten Szene oder Geschichte mit möglichen Erzählungen in Literatur und Tradition (Schritt/Stufe 2 der Analyse);
  • den Vergleich der dargestellten Szene oder Geschichte mit anderen Darstellungen innerhalb der abendländischen Kunstgeschichte (Schritt/Stufe 3)

 

Schritt 2 der Analyse: Geschichten vergleichen

 

Kunstwerke aus dem Mittelalter und der Neuzeit bis in die Zeit um 1800 (und zum Teil noch darüber hinaus) haben in den meisten Fällen Geschichten zum Inhalt. Sie erzählen. Aus diesem Grund nennt man diese Bilder ‚Historienbilder‘. Im Laufe der Zeit entwickelten sich zwar noch andere Bildgattungen wie das Andachtsbild, das Porträt, die Landschaftsmalerei, das Stillleben und die Genremalerei, aber die Historienmalerei galt bis ins 19. Jahrhundert hinein als die vornehmste Gattung und war die am weitesten verbreitete.

 

Ob es sich um Bilder mit Geschehnissen aus der Bibel, aus den Werken antiker Autoren oder um historische Ereignisse wie Schlachten oder Krönungen handelt – fast immer liegen diesen Darstellungen Erzählungen zugrunde, die schriftlich festgehalten sind. Es existiert also in den meisten Fällen eine Text-Version der Geschichte, von der der Künstler bei seiner Darstellung ausgehen konnte.

 

Nun gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, wie der Maler mit einem solchen Text umgehen kann, wenn er sein Bild konzipiert:

  • Er kann den Text gewissermaßen 1:1 ‚übersetzen‘, ohne der Aussage des Texts etwas hinzuzufügen; in diesem Fall sprechen wir von ‚Illustration‘;
  • oder er kann den Text zur Grundlage einer eigenen Aussage machen, indem er die Geschichte nicht etwa (nur) nacherzählt, sondern bestimmte Einzelaspekte an ihr deutlich macht, die der Text ganz oder zum Teil außer Acht gelassen hat; er kann die Geschichte also konkretisieren und aktualisieren – statt der Nacherzählung nimmt er in diesem Fall die Bedeutung der Geschichte für die Gegenwart und die Zukunft des Betrachters in den Blick.

 

Das Bild als eigene 'Fassung' oder 'Version' der Geschichte

 

Mit dem Bild entsteht auf diese Weise gewissermaßen eine zweite Fassung oder Version der Geschichte, die zwar von der Textfassung ausgeht, Schwerpunkte und Interpretationen aber ausdrücklich anders setzt und damit dem zeitgenössischen Betrachter des Bilds die Bedeutung des Texts für seine eigene Gegenwart vor Augen stellt. In der einschlägigen Forschung ist man sich inzwischen weitgehend einig, dass die Schaffung einer solchen, weiteren Fassung oder Version der Geschichte die eigentliche Funktion vieler Miniaturen in bebilderten Handschriften war, selbst wenn es sich nicht um die Bibel, sondern beispielsweise um höfische Romane oder um Rechtshandbücher handelte. (Anm. 2)

 

Darüber hinaus weiß man inzwischen, dass Bilder seit dem fortgeschrittenen Mittelalter und ganz besonders in der Neuzeit keineswegs die ‚Literatur für die Analphabeten‘, also nicht mehr dafür da sind, den des Lesens unkundigen Menschen die Geschichten der Bibel oder der Heiligenlegenden zu erzählen. Auch wenn dies eine noch immer weit verbreitete Überzeugung unter Kunstliebhabern ist, war dies seit dem fortgeschrittenen Mittelalter nicht mehr ihre Funktion.

 

Dass das früher einmal der Fall war, ist unstrittig. Papst Gregor der Große († 604) hatte um das Jahr 600 die Funktion der Bilder genau so beschrieben. Aber das war eine andere Zeit, die im Hochmittelalter oder gar in der Renaissance um viele Jahrhunderte vergangen war. Am Ende der Antike befand sich ganz Europa in einem durchgreifenden Wandel. Das Christentum war noch in seinen Anfängen und hatte gerade erst begonnen, sich über die Alpen hinweg nach Norden auszubreiten. Im Zuge dessen entbrannte ein erbitterter Streit um die Bedeutung und Verwendung der Bilder, in dessen Verlauf Gregor die Kunst gegen ihre Feinde zu rechtfertigen suchte, indem er ihre Bedeutung für diejenigen betonte, die nicht selbst in der Bibel lesen konnten. (Anm. 3)

 

Während seine Rechtfertigung der Bilder für diese Frühzeit des Christentums unstrittig ihre Bedeutung hatte, war die Christianisierung des Abendlands im 11., 12., 13. Jahrhundert (und besonders im 16., als der Isenheimer Altar entstand) jedoch bereits so weit fortgeschritten, dass die Menschen von Kindesbeinen an mit den biblischen Geschichten vertraut waren. Sie hatten es nicht mehr nötig, diese über die Bilder an den Wänden der Kirchen oder auf Altartafeln erst kennenzulernen.

 

Vielmehr ist die Aufgabe der Bilder nun eine ganz andere geworden. Die Geschichten, die die Bibel erzählt, gehören zur so genannten Heilsgeschichte. Dem Glauben und der kirchlichen Verkündigung zufolge dienen sie nicht etwa der Unterhaltung der Menschen, die sich an ihnen erfreuen und die Kunstfertigkeit ihrer Ausführung bestaunen können. Stattdessen machen sie den Zusammenhang anschaulich, der das diesseitige Leben mit dem Jenseits verbindet – in dem erst das eigentliche, ewige Leben beginnen wird.

 

Bilder machen das Unsichtbare sichtbar

 

Bilder können diesen Zusammenhang sichtbar machen. Sie können zeigen, was eigentlich unsichtbar ist. Sie sind in der Lage, dem Unkörperlichen der christlichen Botschaft Körper zu geben, die pauschalen Anweisungen, Verheißungen und Drohungen konkret werden zu lassen.

 

Sie verweisen schon im Diesseits auf das Jenseits und zeigen den Gläubigen die Konsequenzen ihres Lebens vor dem Tod für das Leben nach dem Tod. Auf diese Weise betreffen sie also das Allerwichtigste im Leben des gläubigen Christen: die so genannte Jenseitsvorsorge. Die Konzentration auf diese Art der Lebensversicherung für das Jenseits ging nicht selten sogar über die Sorge um das Diesseits hinaus und veranlasste Menschen gelegentlich dazu, spontan Haus und Hof, Weib und Kind zu verlassen und auf Pilgerfahrt zu gehen. Im 15. und frühen 16. Jahrhundert entwickelten sich daraus regelrechte Massenbewegungen. Denn mit solchen Wallfahrten und Pilgerfahrten an ‚gnadenspendende‘ Orte hofften die Menschen, sich von den drohenden zeitlichen Sündenstrafen loskaufen zu können.

 

Nicht Nacherzählung ohnehin bekannter Geschichten also, sondern Konkretisierung und Aktualisierung war die Aufgabe der Bilder. Damit ähneln sie den Predigten, deren Aufgabe ebenfalls die Auslegung, nicht die Nacherzählung der biblischen Berichte war.

 

Beispiel "Sündenfall"

 

Oberrheinischer Meister, Sündenfall, Mitte 16. Jahrhundert; Freiburg, Augustinermuseum

Die Darstellung eines Sündenfalls beispielsweise, die sich heute im Augustinermuseum in Freiburg im Breisgau befindet und wohl von einem süddeutschen Meister aus der Zeit um 1550 stammt (Anm. 4), will ganz eindeutig nicht die Geschichte, wie die Bibel sie erzählt, illustrieren. Zu sehr unterscheidet sich das Bild von der Darstellung, wie sie der Text bietet. (Anm. 5) Stattdessen will das Bild die Geschichte für seine Zeit konkretisieren und aktualisieren. Dazu gehört es vor allem, Fragen aufzuwerfen und sie verbindlich zu beantworten. (Anm. 6) Im Zusammenhang des Freiburger Sündenfalls geht es beispielsweise um die Fragen,

  • wie das Böse in die Welt kam und
  • wie der Mensch sich angesichts dessen und vor dem Hintergrund des Erlösungstods Christi am Kreuz, der die selbst verschuldete Verdammung des Menschen dem Verständnis der christlichen Kirche zufolge rückgängig macht, verhalten soll.

Verglichen mit dem Text, wie ihn die Bibel erzählt, wird gerade bei diesem Motiv deutlich, wie sehr ein Bild von der Textvorlage abweichen kann. Während nämlich im Buch Genesis einzig die Frau an allem schuld ist, da sie den Einflüsterungen der Schlange nachgegeben, die verbotene Frucht gepflückt und dem Mann davon zu essen gegeben hat (Anm. 7), ist die Antwort des Bilds wesentlich komplexer. Hier ist der Sündenfall durchaus keine Frage des Wunschs nach Erkenntnis (Anm. 8),

sondern ausdrücklich eine des sexuellen Begehrens, das beiden Protagonisten deutlich anzusehen ist. Und außerdem geschieht die Verführung, durch die das Begehren geweckt wird, längst nicht nur durch die Frau. Zweifellos kokettiert Eva nach allen Regeln der Kunst, aber Adam steht dem in nichts nach. Viel zu offensichtlich tänzelt er Eva entgegen, und ob er mit seiner linken Hand wirklich nur die Frucht oder nicht auch die ganze, verführerische Frau dazu nehmen wird, überlässt der Maler der Fantasie des Betrachters.

 

 

Und wer bis hierhin nicht glaubt, dass tatsächlich dies – die Frage sexuellen Begehrens – hinter dem komplexen Geschehen steht, für den hält der Künstler das Motiv des Aronstabs bereit: Während die Frau überraschender- und provozierenderweise gänzlich ohne eine schamhafte Bedeckung ihres Schoßes dasteht, wächst Adam eine Pflanze vor seine Genitalien, die nur auf den ersten Blick wie eine – in diesem Kontext gänzlich unpassende – Lilie aussieht. Bei genauerem Hinsehen entpuppt sie sich als Aronstab (arum maculatum). Diese weit verbreitete, heimische Pflanze, die auch heute noch vielen bekannt ist, zeichnet sich u.a. dadurch aus, dass sie bei Verzehr zunächst süß schmeckt, sich jedoch nach einigen Minuten als giftig erweist, zu einem schmerzhaften Brennen auf der Zunge und im Rachen führt und Übelkeit, Erbrechen und Durchfall hervorruft. Neben der offensichtlichen Ähnlichkeit des braun-violetten Blütenkolbens mit einem Phallus ist vor dem Hintergrund der christlichen Sexualmoral auch die Wirkung – zuerst süß, dann bitter und schmerzhaft – als perfektes Gleichnis für das sexuelle Begehren und die erfüllte Lust zu verstehen. Ganz anders als in der Bibel beantwortet damit das Bild die Frage nach der Schuld für den Sündenfall, indem es auf den beidseitigen Anteil an Begehren und sexueller Erfüllung verweist. Die Schuld liegt damit mindestens ebenso sehr beim Mann wie bei der Frau.

 

Der Maler der Tafel im Freiburger Augustinermuseum konkretisiert also nicht nur die biblische Geschichte, sondern er aktualisiert sie auch, indem der Betrachter dazu animiert wird, über den Zusammenhang von Begehren, Sünde und das daraus hervorgehende Leid in seinem eigenen Leben nachzudenken.

 

Die eigentliche Brisanz des Bilds wird aber erst dann wirklich deutlich, wenn man den Text, der dem Bild zugrunde liegt, in die Betrachtung des Bilds einbezieht und beide, Text und Bild, miteinander vergleicht. Denn die beiden Versionen unterscheiden sich deutlich voneinander. Erst die Unterschiede aber schärfen den Blick für die spezifische Aussage des Bilds.

 

 

Schritt 3: Bildlösungen vergleichen

 

Wie der Vergleich von Bild und zugrundeliegendem Text die Augen für das Spezifische des Bilds schärft, so vermag es ebenso der Vergleich des Bilds mit anderen Bildern, die dasselbe Motiv bzw. dieselbe Geschichte darstellen. Er führt zu einer Sensibilisierung für das Besondere gerade des von uns betrachteten Bilds. Und auch hier sind es mehr die Unterschiede als die Ähnlichkeiten, die die Absicht des Malers in der besonderen, historischen Situation, in der er sein Bild gemalt hat, umso schärfer hervortreten lassen.

 

Dieser Vergleich bildet den dritten Schritt oder die dritte Stufe unserer Bildanalyse.

 

Ikonographie

 

Einer der Altmeister moderner Kunstgeschichte, der beinahe legendäre Übervater kunstwissenschaftlicher Analyse-Methodik, Erwin Panofsky (1892–1968), nannte diesen Bildvergleich innerhalb seines dreistufigen Modells der Beschreibung und Deutung von Werken der bildenden Kunst „Ikonographie“. (Anm. 9) Allerdings meint ‚Ikonographie‘ in der Kunstwissenschaft eigentlich nur die Lehre vom Inhalt und Sinn bildlicher Darstellungen, wobei allzu häufig die Form, die doch das eigentlich Künstlerische am Kunstwerk ist, vernachlässigt wird. Zwar führt die künstlerische Form im optimalen Fall auch zum Sinn bildlicher Darstellung, aber die Praxis zeigt, dass die Fixierung auf einen solchen Sinn, der zudem allzu häufig noch vor einer genauen Betrachtung des Kunstwerks bereits feststeht, dazu verführt, den Blick auf die künstlerische Form allzu voreingenommen zu lenken und nur das zu sehen, was zu diesem Sinn passt. In diesem Fall sieht man tatsächlich nur, was man weiß.

 

Bei dem Freiburger Sündenfall können wir beispielsweise der Empfehlung in der Fachliteratur folgen und die berühmteste Sündenfall-Darstellung des 16. Jahrhunderts, Dürers Kupferstich Adam und Eva aus dem Jahr 1504 als Vergleich heranziehen.

 

Albrecht Dürer, Adam und Eva (Der Sündenfall), 1504 (Kupferstich)

 

Auf diese Weise wird sehr schnell deutlich, dass es Dürer im Gegensatz zu dem Meister des Freiburger Bilds bei seiner Darstellung nicht in erster Linie um eine Interaktion zwischen Adam und Eva ging, sondern vielmehr um die möglichst eindrucksvolle Präsentation ihrer beider Körper. Dürer erzählt und deutet, konkretisiert und aktualisiert nicht etwa die Geschichte des Sündenfalls, sondern er zeigt zwei vollendet schöne Körper, die er nach Maßgabe antiker Vorbilder konstruiert hat, und setzt so anschaulich seine Anknüpfung an das antike Schönheitsideal ins Bild, das er über die von ihm entwickelten Konstruktionsregeln (Anm. 10) der Welt des 16. Jahrhunderts, der Renaissance, wieder zugänglich zu machen hoffte. Eher en passant geht es hier auch um die – kaum erkennbare – Schlange, die verbotene Frucht und um die Tatsache, dass Eva sie von der Schlange erhält und Adam in diesem Fall darum zu bitten scheint, dass er auch eine solche erhält. Wenn dem so ist, dann würde hier die Antwort auf die oben genannte Frage wohl lauten, dass beide selbst und gleichermaßen verantwortlich dafür sind, dass das Böse in die Welt gekommen ist (Anm. 11) In keiner Weise aber geht es hier um sexuelles Begehren und um jene Komplexität, die das differenziert gezeigte Verhalten Evas und Adams und die prominente Präsentation des Aronstabgewächses auf dem Freiburger Sündenfall in die Geschichte hineinträgt.

 

Der Vergleich unterschiedlicher Bildlösungen des gleichen Bildvorwurfs (Ikonographie) schärft also den Blick für die Besonderheiten jenes Bilds, das wir deuten möchten. r zeigt unterschiedliche Möglichkeiten künstlerischer Lösungen auf, macht uns mit der Tradition des Bildmotivs vertraut. Dabei sind es gerade die Abweichungen von dieser Tradition, die als Fährte dienen zu jener Form der Konkretisierung und Aktualisierung, die Auftraggeber und Künstler für die entsprechende, historische Situation schaffen wollten, in die hinein das Kunstwerk wirken sollte.

 

Das Vierstufenmodell der Beschreibung und Deutung von Werken der bildenden Kunst

 

Bisher haben wir die ersten drei Schritte oder Stufen des Vierstufenmodells der Beschreibung und Deutung von Werken der bildenden Kunst kennengelernt, das – dies sei noch einmal betont – konsequent nur für Werke der bildenden Kunst vor dem Beginn der Moderne anwendbar ist.

 

Diese drei Schritte oder Stufen sind:

 

1.    Beschreibung (Phänomenologie)

2.    Vergleich mit dem zugrundeliegenden Text (literarische Tradition)

3.    Vergleich mit anderen Bildern desselben Bildvorwurfs* (Ikonographie)

 

Schritt 4 besteht seinerseits aus drei Teilen:

 

a.    Zusammenführen der in den ersten drei Schritten gemachten Beobachtungen.

b.    Zusammenstellen der historischen Daten und Fakten, die sich zu dem Kunstwerk finden lassen;

c.    Zusammenfassen aller Beobachtungen, Daten und Fakten zu einer Deutung.

 

 

Im Folgenden werden wir dieses Deutungsmodell auf die Kreuzigungstafel des Isenheimer Altars anwenden. Dabei wird das Hauptaugenmerk auf den Stufen 2 und 3 liegen. Am Schluss wird zudem eine Deutung des Bilds stehen, die der Stufe 4 angehört.

 

(Ende der Einleitung)

Der nachfolgende Buchtext gliedert sich in folgende Abschnitte:

 

 

Die Kreuzigung am Isenheimer Altar
Beschreibung

 

Vergleich 1: Text
Textquellen zur Kreuzigung Christi – Text und Bild

 

Vergleich 2: Bilder
Älteste erhaltene Darstellung einer Kreuzigung – Entwicklung bis zur Spätgotik – Giotto – Jan van Eyck – Der Crucifixus dolorosus in St. Maria im Kapitol

 

Historische Umstände der Stiftung
Die Antoniter und der Ergotismus – Das Spital in Isenheim – Ergotismus im Feldbuoch der Wundartzney – Spitalleben

 

Deutung
Der Gekreuzigte – Johannes der Täufer – Muttergottes, Johannes, Maria Magdalena – „Christus stirbt“

 


Anmerkungen

(1) Christof L. Diedrichs, Ohne Brille sieht man mehr. Jan van Eyck: „Die Madonna des Kanonikus Georg van der Paele“ (= einblicke – Kunstgeschichte in Einzelwerken 3), Freiburg/Norderstedt 2016, S. 9–53.

(2) Vgl. Christof L. Diedrichs/Carsten Morsch, Bewegende Bilder. Zur Bilderhandschrift des Eneasromans in der Staatsbibliothek Berlin, in: Horst Wenzel/C. Stephen Jaeger u.a. (Hgg), Visualisierungsstrategien in mittelalterlichen Text- und Bildzeugnissen, Berlin 2005, S. 63–89.

(3) „Pictura est laicorum litteratura“; Gregor der Große, Registrum epistolarum, XI,10; abgedruckt in: Corpus Christianorum Series Latina, Bd. 140A, Sp. 873–876, und in: Jacque-Paul Migne (Hg), Patrologia Latina, Bd. 77, S. 1128–1130.

(4) Detlev Zinke, Augustinermuseum. Gemälde bis 1800. Auswahlkatalog, Freiburg 1990, S. 106-108.

(5) Bibel: Buch Genesis (bzw. 1. Buch Mose), Kapitel 3, Vers 1–6.

(6) Während es ein Kennzeichen moderner Kunst ist, Fragen zu stellen und sie wegen des Verlusts eines einheitlichen Weltbilds offen zu lassen, ist es das Ziel vormoderner Kunst, die aufgeworfenen Fragen im Sinn des christlichen Weltbilds verbindlich zu beantworten.

(7) „Da sah die Frau, dass es köstlich wäre, von dem Baum zu essen, dass der Baum eine Augenweide war und dazu verlockte, klug zu werden. Sie nahm von seinen Früchten und aß; sie gab auch ihrem Mann, der bei ihr war, und auch er aß.“ Bibel: Buch Genesis (bzw. 1. Buch Mose), Kapitel 3, Vers 6.

(8) In der Bibel ist dies das Hauptargument der Schlange und offenkundig die eigentliche Verführung, der die Frau erliegt: „Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse.“ (Gen/1 Mose, Kap. 3, V. 5)

(9) Erwin Panofsky, Ikonographie und Ikonologie. Eine Einführung in die Kunst der Renaissance, in: Ders., Sinn und Deutung in der bildenden Kunst (Meaning in the Visual Arts), Köln 1978, S. 36–67; Teil 1 ebenfalls abgedruckt in: Ekkehard Kaemmerling (Hg), Ikonographie und Ikonologie. Theorien – Entwicklung – Probleme (= Bildende Kunst als Zeichensystem 1), Köln 1979, S. 207–225.

(10) Vgl. Albrecht Dürer, Vier Bücher von menschlicher Proportion, Nürnberg 1528 (Rainer Schoch/ Matthias Mende/ Anna Scherbaum, Albrecht Dürer. Das druckgraphische Werk, Bd. 1–3,
München u.a. 2001–2004, Bd. 3, S. 319ff).

(11) Rainer Schoch zufolge (in: Schoch/Mende/Scherbaum, Bd. 1, 2001, S. 110–113, hier S. 112) „fällt Adam die Rolle des defensiv Argumentierenden zu“, in seiner Sicht wehrt sich Adam noch und würde damit, näher am Bericht der Bibel, weniger Verantwortung für den Sündenfall tragen.