Bildbetrachtung konkret: Zurbaràn, Der Gekreuzigte und der Maler

Francisco de #Zurbarán, Der Gekreuzigte und der Maler, um 1655/60; Madrid, Museo Nacional del Prado

 

Unter den Bildern aus dem Prado in Madrid, die derzeit im Kunstmuseum in Basel zu sehen sind, befindet sich auch eine ungewöhnliche Darstellung der Kreuzigung Christi, die weder der üblichen Ikonographie der Kreuzigung, noch unseren Stilvorstellungen von "Barock" entspricht - die uns also schon aus diesem Grund überrascht. Aber es gibt noch mehr, das an diesem Bild faszinierend ist. Wir müssen nur genau hinsehen.

 

Vor einem beinahe monochrom-braunen Hintergrund sind nur zwei Figuren schlaglichtartig angestrahlt zu sehen: Christus am Kreuz und eine unter dem Kreuz stehende Gestalt, die gekleidet ist wie ein Apostel. Allerdings trägt sie in ihrer linken Hand eine Palette und ein Bündel von Pinseln; diese Malerutensilien haben dazu geführt, dass man die Person - allzu voreilig - als den Heiligen Lukas identifizieren wollte.

Der Maler mit dem markanten Profil hat die rechte Hand auf seine Brust gelegt und blickt fast scheu zum Gekreuzigten hinauf. Dieser hat die Augen geschlossen, er erwidert den Blick des Malers nicht. Wären die Augen geöffnet, so könnte man an eine Art Berufungsszene denken, in der der Maler, wie einst der Zöllner Matthäus, zurückschreckt, nicht glauben kann, dass wirklich er gemeint ist (vgl. Michaelangelo #Caravaggio, Berufung des hl. Matthäus, 1599/1600; Rom, San Luigi dei Francesi, Contarelli-Kapelle). Die geschlossenen Augen des Gekreuzigten allerdings widersprechen einer solchen Szenerie.

 

Der Gekreuzigte ist leichenblass dargestellt, bekleidet nur mit einem durch eine Schnur zusammengehaltenen, dürftigen Lendentuch. Er trägt eine kaum erkennbare Dornenkrone. Hände und Füße indessen sind mit martialisch anmutenden Eisennägeln an die Kreuzbalken genagelt.

Das Licht, das von links einfällt, beleuchtet auffällig die rechte Körperseite des Gekreuzigten und inszeniert damit gerade jene Seite der Brust, die die Seitenwunde tragen müsste, welche gewöhnlich den Tod Christi anzeigt. Obwohl er die Augen geschlossen hat - innerhalb der üblichen Ikonographie der Kreuzigung der Hinweis auf den bereits eingetretenen Tod des Gekreuzigten -, ist die Brust jedoch makellos: Die Seitenwunde fehlt in diesem Fall und die Art der Lichtführung scheint gerade diesen Umstand in die Aufmerksamkeit des Betrachters rücken zu wollen.

 

Sensibilisiert durch diese Beobachtung fällt nun auch auf, dass überhaupt - fast - kein Blut auf diesem blassen, aber makellosen Körper zu sehen ist. Bei genauem Hinsehen lässt sich ausschließlich an den Wundmahlen der Hände jeweils ein schmales Blutrinnsal erkennen. Auch an den Füßen jedoch fällt das Fehlen jeden Bluts auf.

 

Am Oberkörper Christi aber ist nicht nur kein Blut zu sehen, er erscheint - nicht zuletzt aufgrund der fehlenden Seitenwunde - gänzlich unversehrt. Nicht zuletzt weist er keinerlei Verletzung durch die Geißelung auf.

 

Noch eine zweite Beobachtung überrascht und macht deutlich, dass es sich hier eigentlich nicht um eine Darstellung der "Kreuzigung Christi" handelt: der Gekreuzigte ist merklich kleiner als der Maler, der unter dem Kreuz steht und zu ihm aufblickt. Würde man die beiden Männer auf demselben Bodenniveau nebeneinander stellen, so wäre der Maler gut einen Kopf größer als der Gekreuzigte. Es wirkt, als würden die beiden gewissermaßen verschiedenen Realitätsebenen angehören - als handelte es sich bei dem Gekreuzigten nicht um eine wirkliche, lebendige Person, sondern um eine Skulptur oder ein Bild, vor dem der Maler steht und es betrachtet. Allerdings widerspricht dem die wirklichkeitsgetreue Darstellungsweise, die nicht an ein 'Bild' oder eine Skulptur denken lässt.

Andererseits ist diese Art der Darstellung im 17. Jahrhundert nicht neu. Schon unter den Frühen Niederländern (z.B. Hans Memling, Kreuzigung des Triptychons des Jan Crabbe [Mitteltafel], um 1470; Vicenza, Museo Civico) war sie bekannt, ebenso in der Renaissance nördlich der Alpen, wie bei Lucas Cranach d.Ä. (Abbildung links) oder Hans Baldung Grien. Auch in diesen Darstellungen ging es nicht um eine Darstellung der Kreuzigung Christi, sondern um die Person, die unter dem Kreuz dargestellt ist: was der Maler uns hier zeigt, ist nicht eine reale Situation, sondern eine Vision - die Person unter dem Kreuz sieht den Gekreuzigten nicht wirklich vor sich, sondern vor seinem inneren Auge und der Maler macht diese Vision für den Betrachter sichtbar.

 

Lucas Cranach d.Ä., Kardinal Albrecht von Brandenburg vor dem Kreuz, um 1520; München, Alte Pinakothek

Auch wenn sich der Kardinal Albrecht von Brandenburg denkbar schlecht für eine solche Darstellung einer frommen Vision eignet - der Kardinal war alles andere als ein frommer Visionär oder Mystiker, sondern vielmehr Politiker, Kunstliebhaber und bedeutender Kunstmäzen -, so bediente er sich als Kunstkenner doch dieses Topos', um sein Bild bei Zeitgenossen und Nachwelt entsprechend zu prägen. Für ihn war es ein Propaganda-Instrument, das er gezielt einsetzte, um sich selbst zu inszenieren. (Und wir wissen, dass eine solche Inszenierung umso notwendiger erscheint, je fragwürdiger und 'schimmernder' die Persönlichkeit ist.)

 

Aber ist es das bei Zurbarán auch? Geht es hier um Propaganda und die Inszenierung der Persönlichkeit des Malers?

 

In beiden Bildern - dem von Cranach und dem von Zurbarán - gibt es scheinbar keinerlei Bildhandlung. Der Kardinal sieht den Gekreuzigten nicht einmal an, so dass man der gängigen Ikonographie zufolge auf innere Vorgänge schließen könnte. Der Kirchenfürst ist vielmehr im 'Porträt-Modus' dargestellt, also gewissermaßen demonstrativ unbeteiligt, in einem gänzlich formelhaften Gestus.

 

Das allerdings ist bei Zurbarán ganz anders. Selbst wenn der Gekreuzigte trotz fehlender Seitenwunde ganz offensichtlich bereits tot ist, so findet doch eine intensive Kommunikation statt, die auf subtile Weise mit einer Art "Berufung" beginnt (s.o.), vor allem aber in der Reaktion des Malers auf diese Berufung besteht.

 

Dem Baseler Ausstellungskatalog ("Hola Prado! Zwei Sammlungen im Dialog", Basel/Petersberg 2017, S. 55) zufolge, handelt es sich bei der Darstellung des Malers wahrscheinlich um ein Selbstporträt Zurbaráns, was angesichts der prägnanten Züge des Malers gut nachvollziehbar ist. Die Annahme allerdings, der Maler stelle den Hl. Lukas dar, widerspreche, so führt Bodo Brinkmann aus, der Tradition, nach der Lukas die Muttergottes, nicht aber den Gekreuzigten gemalt hat. Offenkundig geht es also nicht um diesen hagiographischen Hintergrund.

 

Aber worum geht es dann? Was ist tatsächlich dargestellt?

 

Brinkmann schlägt im Ausstellungskatalog einen Dialog vor, den der Maler mit dem Gekreuzigten führt. Es ist von einem "Akt der Selbstvergewisserung" die Rede und vom Zweifel des Künstlers, der den Gekreuzigten frage, wer er sei und wie er dargestellt werden wolle: "Mithilfe welcher Spielart der Kunst?" (S. 58) "Befragung Gottes, also Metaphysik, Befragung der Kunst und Selbstbefragung fallen somit in eins in diesem Werk, das mit zwei Figuren vor dem dämmernden Landschaftshintergrund auskommt - wieder signalisiert höchst Einfaches höchst Vielschichtiges und Komplexes. Mehr zu erreichen, war Kunst zu Francisco de Zurbaráns Zeit nicht gegeben, ist es ihr vielleicht nie." (S. 59)

 

Diese letzte Annahme allerdings greift wahrscheinlich zu kurz. Die Kunst vermag durchaus noch mehr und dies nicht erst seit dem späten 17. Jahrhundert.

 

Wer ganz genau hinsieht, dem fällt auf, dass der Maler einerseits dasteht, als sei er dabei, ein Bild zu malen: auf seiner Palette und vor allem an seinen Pinseln sind eine Reihe von Farben zu sehen, was nur dann der Fall ist, wenn der Maler malt (andernfalls würden die Pinsel eintrocknen und damit unbrauchbar). Doch wo ist das Bild? Gerade dieses Fehlen einer Staffelei mit einem unfertigen Bild fällt besonders ins Auge. Man würde erwarten, dass zumindest ein Bein der Staffelei zu sehen ist, um den Vorgang des Malens anzudeuten. In vielen Bildern, in denen der Maler bei der Arbeit gezeigt wird, wird es genau so gemacht, wenn nicht gleich die ganze Staffelei gezeigt wird, so beispielweise auf dem Bild "Allegorie der Malerei" von Jan Vermeer.

Jan #Vermeer van Delft, Allegorie der Malerei Detail), um 1666; Wien, Kunsthistorisches Museum

 

Der besondere Reiz dieser Bilder besteht darin, dass man dem Maler über die Schulter sehen und das entstehende Bild im noch unvollendeten Zustand sehen kann. Der Maler zeigt also einen Maler während des Schaffensprozesses - der gewöhnlich bei den vormodernen Werken unsichtbar gemacht wird.

Bei Zurbarán ist ein solcher Maler während des Schaffensprozesses gezeigt, aber der Prozess selbst ist unterbrochen, der Maler ist zu einer geistigen Auseinandersetzung, zur Reflexion, übergegangen, und das Bild, an dem er gerade arbeitet, scheint nicht dargestellt zu sein.

 

Das aber ist möglicherweise ein Irrtum. Das Bild, an dem der Maler arbeitet und das noch nicht fertiggestellt ist, ist wahrscheinlich sehr wohl zu sehen. Der Maler malt an einer "Kreuzigung Christi".

Als Albrecht Dürer 1509/10 seine Holzschnitt- folge für die "Kleine Passion" schuf, setzte er ihr das Bild eines sitzenden Schmerzensmanns voraus, der in einem nachfolgend abgedruckten Gedicht aus der Feder des Benediktinermönchs Benedictus Chelidonius den Betrachter unmittelbar anspricht:

 

"O Mensch, es sei genug! Um deinetwillen habe ich dies einmal ertragen.

O lass ab, mich durch [neue] Schuld erneut zu kreuzigen."


 

 

 

 

 

 

Albrecht #Dürer, Die Kleine Passion, Titelblatt, 1509/10

 

Dieser Vers steht in einer langen, spirituellen Tradition, die bis auf den Propheten Jesaja zurückgeht. Schon dieser hatte den Bezug des heilsgeschichtlichen Geschehens zum Gläubigen hergestellt. Für ihn war der Tod des "Gottesknechts" - in christlichem Verständnis also Jesu Christi - nicht etwa fernes, abstraktes Geschehen, sondern die Folge der sündhaften Handlungen der Menschen - nicht der damaligen Zeit, sondern der Gegenwart. Jesaja spitzt dies zu: es sind unsere Sünden, deretwegen er leidet: "er wurde durchbohrt wegen unserer Verbrechen, wegen unserer Sünden zermalmt." (Jes 53,5) Für Jesaja, der strikt heilsgeschichtlich denkt, setzt das Prinzip von Ursache und Wirkung keine zeitliche Folge voraus. Der Gottesknecht "wurde durchbohrt" auch wegen der Sünden der nachfolgenden Generationen.

 

Ganz offensichtlich versteht auch Dürer, indem er die Verse des Chelidonius zitiert, das Geschehen der Kreuzigung als Folge nicht allein der Sündhaftigkeit des ersten Menschenpaars und der Generationen, die zeitlich vor Jesus Christus lebten, sondern er sieht seine eigene Verantwortung - bzw. die der Gläubigen, die für ihre Andacht diese Holzschnitte verwenden -, für die Leiden Christi. Und mehr noch: Das Leid Christi wird durch jede neue Sünde, die ein Mensch begeht, verlängert, erweitert, erneuert: Jede Sünde fügt den Leiden Christi am Kreuz weiteres Leid hinzu.

 

Innerhalb der Frömmigkeitsgeschichte ist diese mystische Verschränkung unterschiedlicher zeitlicher Ebenen eine durchaus gängige Vorstellung. Aus der Sicht der Heilsgeschichte sind die Grenzen von Zeit und Raum aufgehoben, ist das Erlösungswerk Christi durchaus noch nicht abgeschlossen. Es geht vielmehr weiter.

An dem Bild des "Sündenfalls" eines Oberrheinischen Meisters (Mitte 16. Jahrhundert) im Freiburger Augustinermuseum ist dies unmittelbar nachvollziehbar: Eva wendet sich mit ihrem Gesicht und ihrer rechten Hand Adam zu und weckt auf diese Weise sein Begehren, dessen Folge der Sündenfall sein wird. Doch ihren gesamten, vollständig nackten, verführerischen Körper präsentiert sie dem Betracher und weckt auf diese Weise auch dessen Begehren - und für ihn hält sie in ihrer linken Hand ebenfalls eine verbotene Frucht. Die Botschaft, die dahinter steht, ist die, dass mit jedem Erwachen des Begehrens der Sündenfall erneut vollzogen wird. Die historische Distanz, das zeitliche Nacheinander spielt dabei keine Rolle.

 

Oberrheinischer Meister, Sündenfall, Mitte 16. Jahrhundert; Freiburg, #Augustinermuseum (Leihgabe der Bundesrepublik Deutschland)

Vor diesem Hintergrund fällt an Zurbaráns Bild des Malers mit dem Gekreuzigten nicht nur auf, dass das Bild zu fehlen scheint, an dem der Maler gerade arbeitet, und dass der Gekreuzigte, an den der Maler sich mit einer demütigen Geste wendet, ohne von ihm eine Antwort zu erhalten, an seinem unversehrten Körper keinerlei Wunden aufweist - nicht einmal die Seitenwunde (und dies ist durchaus kein Zufall oder ein 'Fehler', sondern gerade auffällig in den Blick des Betrachters gerückt) - und dass auch nicht die Wundmahle sichtbar bluten; vor allem fällt vor diesem Hintergrund ins Auge, dass der Maler auf seiner für den Betrachter gut sichtbaren Palette einen Klecks leuchtend-blutroter Farbe hat und dass auch einer der Pinsel in seiner Hand diese Farbe aufweist, jedoch bisher offenbar ungenutzt ist.

Das lässt nur einen Schluss zu: Der Gekreuzigte, den der Maler vor sich hat, ist einerseits der Gekreuzigte, unter dessen Kreuz der Maler steht, mit ihm in Dialog tritt und der, wie bei Dürer, den Maler direkt anspricht. Andererseits ist dieser Gekreuzigte zugleich das Bild, das der Maler malt. Es ist noch unfertig: es fehlen die Wunden und das Blut.

 

Allerdings verschwimmen hier die Realitätsebenen: Der Maler scheut sich, dem unversehrten Körper des Gekreuzigten die Spuren des Leids hinzuzufügen, denn im Rahmen einer Art mystischer Versenkung, wie sie sich in den Worten des Benedictus Chelidonius in Dürers "Kleiner Passion" äußert, und auf die sowohl die geradezu surrealistische 'Landschaftslosigkeit' des Bilds, als auch die unwirkliche Beleuchtung verweisen mag, erscheint es ihm so, als würde er Christus, indem er sie malt, die Wunden erneut zufügen. Die Geste seiner rechten Hand mag eine 'mea culpa'-Geste andeuten, erscheint zugleich aber wie eine Demutsgeste oder die Geste eines, der zu etwas berufen wird, das ihn überfordern könnte.

 

Und damit wären wir doch wieder bei einer Art 'Berufung', denn der Maler wird das Bild nicht unfertig zurücklassen können. Stattdessen ist es seine ausdrückliche Aufgabe, das Bild zu vollenden und die Wunden und das Blut hinzuzufügen. Durch eine 'Berufung' wird er in diesem Tun einerseits gerechtfertigt - andererseits aber hat Zurbarán einen eindrucksvollen Ausdruck für die inneren Vorgänge gefunden, die den Prozess des Malens eines solchen Bilds im Maler begleiten.

 

 

Dieser Text geht auf einen gemeinsamen Besuch der Ausstellung in Basel zurück. Ganz besonders möchte ich Herrn und Frau Kater und Frau Levy für ihre einfühlsamen und kritischen Beobachtungen danken wie auch der gesamten Gruppe für die konzentrierte, offene Diskussion dieser Beobachtungen.