Über Vorurteile in Bezug auf zeitgenössische Betrachter älterer Kunst
(Archiviert) Es gibt viele Irrtümer in Bezug auf Kunst, und je größer die historische Distanz zu den Kunstwerken ist, desto mehr Irrtümer scheinen sich anzusammeln.
Da ist zum einen der Irrtum bezüglich eines 'Fortschritts' innerhalb der Geschichte der Kunst, der von den handwerklichen Voraussetzungen ausgeht: ein Künstler des
Mittelalters habe etwas 'noch' nicht gekonnt, was ein Künstler der Neuzeit 'schon' beherrschte. Umso größer die Verwunderung, wenn ein Künstler des früheren Mittelalters dann etwas doch
offensichtlich bereits 'konnte'. Der Irrtum gipfelt in der Annahme, dass ein Kunstwerk umso besser sei, je wirklichkeitsgetreuer die Darstellung ist. Und so weiter. Viele dieser Irrtümer führen
in logische Sackgassen, die uns den Zugang zu Kunst häufig geradezu verstellen. So können wir beispielsweise nicht verstehen, warum Künstler der Moderne ihre zweifellos hohen, handwerklichen
Standards ablegen und nach künstlerischen Mitteln greifen, die dem unvoreingenommenen Betrachter unverständlich erscheinen.
Aber auch in Bezug auf den Rezipienten, den Betrachter, bestehen viele Irrtümer, über die wir uns häufig jedoch nicht bewusst sind. Die Frage, ob der zeitgenössische
Betrachter eines mittelalterlichen Bilds beispielsweise überhaupt die ganze Tiefe dieses Bilds verstanden hätte, geschieht gewöhnlich vor dem Hintergrund, dass wir diesen Betrachter generell für
ungebildet halten. Vielleicht haben wir sogar einen Analphabeten vor Augen, der nicht einmal die Bibel lesen kann und der, so eine gängige Annahme, die Geschichten der Bibel über diese Bilder
erst kennenlernt. Ein solchermaßen ungebildeter Betrachter, der gewissermaßen ausschließlich mit der Entzifferung der Geschichte beschäftigt ist, könne doch unmöglich auch jene viel tiefer
gehende Interpretation verstehen, die uns im Rahmen einer gründlichen, kunsthistorischen Analyse entschlüsselt wird.
Eine solche Analyse habe ich in Band 5 der Reihe "einblicke - Kunstgeschichte in Einzelwerken" vorgeführt. Das Ergebnis war
einigermaßen überraschend. Es stellte sich heraus, dass es dem Maler keineswegs darum ging, die Geschichte der Kreuzigung Christi möglichst wirklichkeitsgetreu und detailliert nachzuerzählen.
Stattdessen wollte er die theologische Bedeutung dieses Ereignisses für den Betrachter des Altars aktualisieren, d.h. die Konsequenzen der Kreuzigung Jesu Christi für das aktuelle Leben des
Patienten im Isenheimer Antoniter-Spital vor und vor allem nach seinem Tod aufzuzeigen. Dies die offensichtliche Absicht von Auftraggeber und Maler.
Eine Frage, die wir in diesem Zusammenhang noch nicht gestellt haben, ist die, ob dieser Patient die Botschaft, die hinter dieser Darstellung steht, überhaupt verstand.
Diese Frage ist umso berechtigter, als die Interpretation nicht einmal heute, in einer Zeit, die wir als 'aufgeklärt' bezeichnen, allgemein bekannt ist, ja, selbst in den vielen einschlägigen
Publikationen begegnet sie so selten, dass sie eher als unbekannt gelten muss.
Es ist nicht lange her, dass wir die kleine Marienstatue im Keller des Freiburger
Augustinermuseums betrachtet und gedeutet haben.
Freiburger Statue mussten also nicht genau die von uns angeführten Beispiele kennen; sie kannten aus ihrem näheren Umfeld zweifellos andere Werke, die in den gleichen ikonographischen Traditionen
standen, die wir mit unseren Beispielen aufgezeigt haben, die also in ganz ähnlicher Weise gedeutet werden konnten.
Was aber noch wesentlicher ist, ist die Tatsache, dass die Menschen darin geübt waren, solche Kunstwerke anzusehen und sie in einer Vielschichtigkeit zu deuten, die uns heute nicht mehr
vertraut ist. Sie beherrschten, um es mit einem Fachbegriff zu benennen, eine Kulturtechnik, die heute weitgehend aus der Übung ist. Sie waren es schlichtweg gewohnt, Bilder und
Bildwerke in jener Weise zu verstehen, wie wir in unserem Text über die kleine Marienfigur und auch in jenem über die Kreuzigungsdarstellung am Isenheimer Altar verfahren sind. Das taten sie
nicht allein deswegen, weil sie die Geschichte, die hinter den Darstellungen stand, bereits lange kannten, so dass sie ihnen nicht erneut erzählt werden musste - mit der Geschichte der Kreuzigung
Christi beispielsweise waren sie von Kindesbeinen an vertraut.
Das taten sie vor allem aus einem anderen Grund.
Dieser Absicht haben wir uns im Verlauf der Analyse langsam angenähert, indem wir uns den historischen Kontext klargemacht haben, in den hinein das Werk ganz konkret
gestellt worden ist.
Der entscheidende Punkt nun ist: Der von Auftraggeber und Künstler anvisierte Betrachter des Isenheimer Altars, der also, für den das Werk ausdrücklich geschaffen worden ist, war ein Teil
dieses Kontexts. Er wurde bei der Konzeption des Werks und seiner Botschaft gezielt mitbedacht - der Altar war nicht für die 'Nachwelt' gedacht, für Kunsthistoriker, die ihn 500 Jahre
später entschlüsseln würden. Die 'Botschaft' war vielmehr für einen ganz konkreten 'Empfänger' gedacht und sie wurde in einer 'Sprache' verfasst, die für ihn verständlich war. Denn der Betrachter
war im frühen 16. Jahrhundert nicht allein gewohnt, Kunstwerke sehr aufmerksam und genau anzusehen und sie ganz gezielt auf ihre Aktualisierung des historischen, biblischen Geschehens hin zu
befragen, er erkannte - vor allem! - darüber hinaus ganz mühelos jene Symptome am Körper Christi, die uns bei einer flüchtigen, durch Erwartungen vorgeprägten Musterung allzu leicht entgehen: Er
erkannte, dass es sich dabei um die gleichen Symptome handelte, die er selbst am eigenen Körper trug oder die er an den Körpern der Kranken im Spital sah. Es war für ihn tatsächlich also
sehr viel leichter, jene Bezüge herzustellen, die wir uns mühsam haben erarbeiten müssen. Sie wurden ihm gewissermaßen automatisch, frei Haus geliefert. Der Altar war von ihnen umgeben.
Es ist ein sehr weit verbreitetes, aber wenig reflektiertes Phänomen, dass wir die mittelalterlichen (und noch viele frühneuzeitliche) Betrachter von Kunstwerken schlichtweg
unterschätzen. Wir tun uns leicht damit, ihnen die Kompetenz für den Umgang mit den Bildern ihrer eigenen Zeit abzusprechen, die wir selbst aus unserer großen, zeitlichen und
geistes- wie mentalitätsgeschichtlichen Differenz heraus nicht (bzw. noch viel weniger) haben, und das einzig, weil er wahrscheinlich nicht lesen konnte und wir ihn für 'ungebildeter' halten, als
wir selbst es zu sein meinen. Dabei hatten jene Menschen uns nicht allein ihr versiertes Wissen über die biblischen Geschichten und ihre liturgischen und frömmigkeitsgeschichtlichen
Aktualisierungen voraus, die von frühester Kindheit an ihren gesamten Alltag prägten, sie waren auch sehr viel geübter darin, Bilder - von denen es wesentlich weniger gab als es in der Bilderflut
unserer Zeit der Fall ist - intensiv anzusehen und in für uns überraschender Tiefe zu deuten.
Statt die Kompetenz des zeitgenössischen Betrachters im Umgang mit Bildern also gering zu schätzen, sollten wir in ihnen die eigentlichen Empfänger der
Botschaften sehen, die entsprechend auf eine Weise formuliert waren, dass sie sie verstehen konnten. Vor allem dann, wenn es sich um ein derart für ihn, den aktuell Betroffenen,
bestimmtes Werk handelte, wie wir es im Isenheimer Altar oder in jeder Marienstatue, die im öffentlichen Raum zugänglich war, vor uns haben.