Kunst und ihre Betrachter

Über Vorurteile in Bezug auf zeitgenössische Betrachter älterer Kunst

 

(Archiviert) Es gibt viele Irrtümer in Bezug auf Kunst, und je größer die historische Distanz zu den Kunstwerken ist, desto mehr Irrtümer scheinen sich anzusammeln.

     Da ist zum einen der Irrtum bezüglich eines 'Fortschritts' innerhalb der Geschichte der Kunst, der von den handwerklichen Voraussetzungen ausgeht: ein Künstler des Mittelalters habe etwas 'noch' nicht gekonnt, was ein Künstler der Neuzeit 'schon' beherrschte. Umso größer die Verwunderung, wenn ein Künstler des früheren Mittelalters dann etwas doch offensichtlich bereits 'konnte'. Der Irrtum gipfelt in der Annahme, dass ein Kunstwerk umso besser sei, je wirklichkeitsgetreuer die Darstellung ist. Und so weiter. Viele dieser Irrtümer führen in logische Sackgassen, die uns den Zugang zu Kunst häufig geradezu verstellen. So können wir beispielsweise nicht verstehen, warum Künstler der Moderne ihre zweifellos hohen, handwerklichen Standards ablegen und nach künstlerischen Mitteln greifen, die dem unvoreingenommenen Betrachter unverständlich erscheinen.

     Aber auch in Bezug auf den Rezipienten, den Betrachter, bestehen viele Irrtümer, über die wir uns häufig jedoch nicht bewusst sind. Die Frage, ob der zeitgenössische Betrachter eines mittelalterlichen Bilds beispielsweise überhaupt die ganze Tiefe dieses Bilds verstanden hätte, geschieht gewöhnlich vor dem Hintergrund, dass wir diesen Betrachter generell für ungebildet halten. Vielleicht haben wir sogar einen Analphabeten vor Augen, der nicht einmal die Bibel lesen kann und der, so eine gängige Annahme, die Geschichten der Bibel über diese Bilder erst kennenlernt. Ein solchermaßen ungebildeter Betrachter, der gewissermaßen ausschließlich mit der Entzifferung der Geschichte beschäftigt ist, könne doch unmöglich auch jene viel tiefer gehende Interpretation verstehen, die uns im Rahmen einer gründlichen, kunsthistorischen Analyse entschlüsselt wird.

 

Mathis Gothard Nithard, gen. Grünewald, Isenheimer Altar, Werktagsseite, zwischen 1512 und 1515; Colmar, Unterlinden-Museum

 

Eine solche Analyse habe ich in Band 5 der Reihe "einblicke - Kunstgeschichte in Einzelwerken" vorgeführt. Das Ergebnis war einigermaßen überraschend. Es stellte sich heraus, dass es dem Maler keineswegs darum ging, die Geschichte der Kreuzigung Christi möglichst wirklichkeitsgetreu und detailliert nachzuerzählen. Stattdessen wollte er die theologische Bedeutung dieses Ereignisses für den Betrachter des Altars aktualisieren, d.h. die Konsequenzen der Kreuzigung Jesu Christi für das aktuelle Leben des Patienten im Isenheimer Antoniter-Spital vor und vor allem nach seinem Tod  aufzuzeigen. Dies die offensichtliche Absicht von Auftraggeber und Maler.

     Eine Frage, die wir in diesem Zusammenhang noch nicht gestellt haben, ist die, ob dieser Patient die Botschaft, die hinter dieser Darstellung steht, überhaupt verstand. Diese Frage ist umso berechtigter, als die Interpretation nicht einmal heute, in einer Zeit, die wir als 'aufgeklärt' bezeichnen, allgemein bekannt ist, ja, selbst in den vielen einschlägigen Publikationen begegnet sie so selten, dass sie eher als unbekannt gelten muss.

     Es ist nicht lange her, dass wir die kleine Marienstatue im Keller des Freiburger Augustinermuseums betrachtet und gedeutet haben.

Wir haben das im Wesentlichen durch den Rückgriff auf verschiedene ikonographische Traditionen (Traditionen der Darstellung der 'Maria mit Kind') getan. Unsere Beispiele stammten aus der Kirche Santa Maria Maggiore in Rom und von einer Marienstatue, die sich heute in Berlin (Bodemuseum) befindet und wohl aus Norditalien stammt.

     Es ist naheliegend, aufgrund dieser unserer Analysen danach zu fragen, ob der zeitgenössische Betrachter der kleinen Marienfigur in Freiburg diese Beispiele ebenfalls kannte, ob er also denselben Weg der Deutung gehen konnte, wie wir es getan haben, indem wir uns diese Vergleichsbeispiele herangezogen haben.

     Diese Beispiele standen für uns allerdings nur als Vertreter von Traditionen da und wir sind davon ausgegangen, dass diese Traditionen weit verbreitet waren. Die Betrachter der

 

 

 

Gottesmutter mit Kind, um 1175-1200; Freiburg, Erzbischöfliches Diözesanmuseum - Augustinermuseum

Freiburger Statue mussten also nicht genau die von uns angeführten Beispiele kennen; sie kannten aus ihrem näheren Umfeld zweifellos andere Werke, die in den gleichen ikonographischen Traditionen standen, die wir mit unseren Beispielen aufgezeigt haben, die also in ganz ähnlicher Weise gedeutet werden konnten.

 

Was aber noch wesentlicher ist, ist die Tatsache, dass die Menschen darin geübt waren, solche Kunstwerke anzusehen und sie in einer Vielschichtigkeit zu deuten, die uns heute nicht mehr vertraut ist. Sie beherrschten, um es mit einem Fachbegriff zu benennen, eine Kulturtechnik, die heute weitgehend aus der Übung ist. Sie waren es schlichtweg gewohnt, Bilder und Bildwerke in jener Weise zu verstehen, wie wir in unserem Text über die kleine Marienfigur und auch in jenem über die Kreuzigungsdarstellung am Isenheimer Altar verfahren sind. Das taten sie nicht allein deswegen, weil sie die Geschichte, die hinter den Darstellungen stand, bereits lange kannten, so dass sie ihnen nicht erneut erzählt werden musste - mit der Geschichte der Kreuzigung Christi beispielsweise waren sie von Kindesbeinen an vertraut.

     Das taten sie vor allem aus einem anderen Grund.

     Wir haben uns die Darstellung des Körpers Christi am Isenheimer Altar sehr genau angesehen. Wir haben uns dabei als ersten Schritt unserer Analyse zunächst von gewissen Erwartungen befreien müssen, die darauf ausgerichtet waren, eine besonders realistische Art der Darstellung der Kreuzigung Christi vorzufinden. Im Verlauf dieser genauen Betrachtung haben wir die Differenzen entdeckt, die zwischen dem historischen Ereignis und der Darstellung am Isenheimer Altar bestehen, haben uns klarmachen müssen, dass diese Differenzen nicht auf Unwissen oder Unvermögen des Künstlers beruhen, sondern dass eine sehr konkrete Absicht dahinter steckt: dass der Maler mit ihnen eine Aussage transportieren wollte, die zuvor vom Auftraggeber ausdrücklich festgelegt worden ist und die eben im Bereich der erwähnten Aktualisierung des historischen Geschehens bestand.

     Dieser Absicht haben wir uns im Verlauf der Analyse langsam angenähert, indem wir uns den historischen Kontext klargemacht haben, in den hinein das Werk ganz konkret gestellt worden ist.

 

Der entscheidende Punkt nun ist: Der von Auftraggeber und Künstler anvisierte Betrachter des Isenheimer Altars, der also, für den das Werk ausdrücklich geschaffen worden ist, war ein Teil dieses Kontexts. Er wurde bei der Konzeption des Werks und seiner Botschaft gezielt mitbedacht - der Altar war nicht für die 'Nachwelt' gedacht, für Kunsthistoriker, die ihn 500 Jahre später entschlüsseln würden. Die 'Botschaft' war vielmehr für einen ganz konkreten 'Empfänger' gedacht und sie wurde in einer 'Sprache' verfasst, die für ihn verständlich war. Denn der Betrachter war im frühen 16. Jahrhundert nicht allein gewohnt, Kunstwerke sehr aufmerksam und genau anzusehen und sie ganz gezielt auf ihre Aktualisierung des historischen, biblischen Geschehens hin zu befragen, er erkannte - vor allem! - darüber hinaus ganz mühelos jene Symptome am Körper Christi, die uns bei einer flüchtigen, durch Erwartungen vorgeprägten Musterung allzu leicht entgehen: Er erkannte, dass es sich dabei um die gleichen Symptome handelte, die er selbst am eigenen Körper trug oder die er an den Körpern der Kranken im Spital sah. Es war für ihn tatsächlich also sehr viel leichter, jene Bezüge herzustellen, die wir uns mühsam haben erarbeiten müssen. Sie wurden ihm gewissermaßen automatisch, frei Haus geliefert. Der Altar war von ihnen umgeben.

 

Es ist ein sehr weit verbreitetes, aber wenig reflektiertes Phänomen, dass wir die mittelalterlichen (und noch viele frühneuzeitliche) Betrachter von Kunstwerken schlichtweg unterschätzen. Wir tun uns leicht damit, ihnen die Kompetenz für den Umgang mit den Bildern ihrer eigenen Zeit abzusprechen, die wir selbst aus unserer großen, zeitlichen und geistes- wie mentalitätsgeschichtlichen Differenz heraus nicht (bzw. noch viel weniger) haben, und das einzig, weil er wahrscheinlich nicht lesen konnte und wir ihn für 'ungebildeter' halten, als wir selbst es zu sein meinen. Dabei hatten jene Menschen uns nicht allein ihr versiertes Wissen über die biblischen Geschichten und ihre liturgischen und frömmigkeitsgeschichtlichen Aktualisierungen voraus, die von frühester Kindheit an ihren gesamten Alltag prägten, sie waren auch sehr viel geübter darin, Bilder - von denen es wesentlich weniger gab als es in der Bilderflut unserer Zeit der Fall ist - intensiv anzusehen und in für uns überraschender Tiefe zu deuten.

    Statt die Kompetenz des zeitgenössischen Betrachters im Umgang mit Bildern also gering zu schätzen, sollten wir in ihnen die eigentlichen Empfänger der Botschaften sehen, die entsprechend auf eine Weise formuliert waren, dass sie sie verstehen konnten. Vor allem dann, wenn es sich um ein derart für ihn, den aktuell Betroffenen, bestimmtes Werk handelte, wie wir es im Isenheimer Altar oder in jeder Marienstatue, die im öffentlichen Raum zugänglich war, vor uns haben.