Diedrichs liest Imdahl: Der Betrachter und die 'Fehler' im Bild

 

Max Imdahl, Edouard Manets "Un Bar aux Folies-Bergère" - Das Falsche als das Richtige, in: Ders., Zur Kunst der Moderne. Gesammelte Schriften, Bd. 1, Hg. v. Angeli Janhsen-Vukicevic, Frankfurt am Main 1996, S. 497-533 (Erstdruck 1986).

 

Teil 2 (S. 500-515)

 

Imdahl hat diesen Text 1986 geschrieben, damit zählt er zu seinen späteren Aufsätzen. Er erschien in dem von Imdahl selbst herausgegebenen Band mit dem gleich mitten in die Disskussion führenden Titel "Wie eindeutig ist ein Kunstwerk?", der Texte von Werner Busch, Richard Hoppe-Sailer, Michael Hesse und Rolf Wedewer enthält über Künstler von Hans Holbein d.J. bis Cy Twombly. Von Imdahl selbst stammt neben dem Aufsatz über Manet ein zweiter über Holbeins "Darmstädter Madonna" (1526/28) als Andachts- und Ereignisbild.

 

Edouard Manet, Un Bar aux Folies-Bergère, 1881/82; London, Courtauld Institute Gallery

 

Schon der erste Blick auf Manets Bild "Un bar aux Folies-Bergère", den Imdahl beschreibt, wird durch das illusionistische Spiel der Spiegelbilder irritiert und auf diese Weise zum genauen Hinsehen animiert. Der spontane Effekt ist der, dass der Bildraum über die Grenzen des Bilds hinaus vergrößert wird und dies in einer Weise, dass er für den Betrachter ungreifbar wird, er sich diesem Raum aber auf diffuse Weise zugehörig fühlt: er ist selbst ein Teil von ihm. Verschiedene Hinweise betonen die Ausschnitthaftigkeit des Bilds, beispielsweise die angeschnittene Figur eines Trapezkünstlers am Bildrand oben links, und eben diese Ausschnitthaftigkeit ist es, die die Fantasie des Betrachters dazu anregt, imaginativ bzw. in seinem Erleben den Bildraum in den Realraum hinein fortzusetzen.

 

Interessanterweise wendet sich Imdahl nach dieser ersten, verhältnismäßig oberflächlichen Beschreibung dem historischen Lokal des Folies-Bergère zu, referiert geschichtliche Fakten, erwähnt, dass das Lokal gerade in der Entstehungszeit des Bilds "berüchtigt" gewesen sei; von Zeitgenossen sei es beschrieben worden "als der einzige Ort in Paris, der 'ebenso süßlich nach Schminke käuflicher Zärtlichkeiten wie nach dem äußersten an hemmungsloser Verkommenheit stinkt.'" (S. 498) Imdahl entledigt sich damit gewissermaßen der notwendigen Erwähnung der historischen Zusammenhänge, bevor er sich Wichtigerem zuwendet - und tatsächlich wäre es schade, wenn das Folgende durch solche Hinweise unterbrochen würde.

 

Etwas distanziert referiert Imdahl schließlich die gängige, kunsthistorische Zuordnung des Bilds zum Impressionismus - offenbar vor allem wegen des Ensembles aus Früchten, Blumen und Flaschen auf der Marmorplatte der Bartheke. Immerhin könne man hier "die besondere Qualität der Malerei Manets" erkennen, die sich an seinem "gleichermaßen spontan und sicher verfahrenden Malstil" zeige: "Wenige Pinselstriche oder auch Pinselhiebe genügen, um zum Beispiel ein Glas mit Rosen darin zu verdeutlichen - das Glas in seiner spezifischen materialen Beschaffenheit wie ebenso die ganz andere Stofflichkeit der Blumen." (498) Imdahl rühmt damit gerade das, was in der zeigenössischen Kritik als bloße Schmiererei abgelehnt wurde. Noch Julius Meier-Graefe hatte das Bild 1912 als "ein künstlicher, komplizierter Versuch, Leben zu erwecken" bezeichnet. Das "Glas mit den beiden Rosen ist das einzig echte daran." (500) Erst später - beispielsweise im Urteil Hans Jantzens (1951) - ändert sich diese Einschätzung und das Werk wird nun eingereiht unter die großen Meisterwerke europäischer Malerei seit der Renaissance.

 

Unter impressionistischer Malerei wird gewöhnlich Landschaftsmalerei verstanden. Ihr Kennzeichen ist die Emanzipation der Farbe, die sich vom Gegenstand und damit von einer bestimmten Bedeutung ablöst. Der Impressionismus kennt keine Lokalfarbe mehr. Wassily Kandinsky schrieb 1895 über dieses Phänomen, dass nun erst aus einer Abbildung ein Bild entstehe. Und erst auf diesem Weg entdeckt er "die verborgene Kraft der Palette, die über alle meine Träume hinausging." (500)

 

"Nach dem Urteil Kandinskys läßt die koloristische Offenbarung alles Gegenständliche hinter sich." (501)

 

Claude Monet, Verschneiter Heuhaufen am Morgen, 1891

Schon vorher war erkannt worden, dass auf diese Weise die Natur in den impressionistischen Bildern eine ganz besondere Präsenz bekam, dass sie ungewöhnlich lebendig wird in diesen Bildern und sie das Lebensgefühl des Menschen wecken und steigern. Der Betrachter kann in diese Bilder eintauchen und sich zugleich in sich selbst versenken.

 

"Ganz andere Inhalte können dagegen die Figurenbilder der impressionistischen Epoche in Frankreich bestimmen, wiewohl auch diese - so Manets Barbild - in ihrer Malweise dem Konzept impressionistisch-flüchtiger Malweise und koloristischer Pracht mehr oder weniger folgen." (501)

 

"Nicht selten und wohl auch nicht unbegründet verhalten sich die Landschaftsmalerei und die Figurenmalerei der Epoche geradezu gegensätzich zueinander - gegensätzlich im tieferen Sinn einer geschichtlich bedingten sozialen Situation im Zeitalter der Industrialisierung. Dem ersehnten, vitalen und in unwiederbringlich glückhaftem Augenblick möglichen Einssein des Menschen mit dem Leben der landschaftlichen Natur korresponidert ein Defizit an zwischenmenschlicher Kommunikation. Der Wunsch nach Lebensgefühl im Einklang mit dem Leben der Natur geht einher mit einer Vereinsamung der Menschen in ihrem Verhältnis zueinander. [...] Durch alle malerische Bravour und durch allen koloristischen Reichtum hindurch zeigen zahlreiche Figurenbilder der impressionistischen Epoche in Frankreich - besonders solche von Manet und Degas - die Einsamkeit des Menschen in seiner Beziehungslosigkeit zu anderen Menschen." (501f)

 

In der Zeit um 1875 entsteht innerhalb der Fotographie eine neue Gattung: die der großstädtischen Straßenszenen, aufgenommen als Schnappschüsse bzw. Momentaufnahmen. Sie zeichnen sich nicht zuletzt durch technische Unvollkommenheit aus, beispielsweise in Bezug auf den Bildausschnitt, darüber hinaus selbstverständlich in der Komposition und der Bildschärfe der Einzelmotive. Der Zufall hält Einzug in das Medium der Fotographie und mit dieser in die Welt der Bilder.

 

Denn formal finden sich ähnliche künstlerische Formen auch in Gemälden, beispielsweise von Edgar Degas, auch wenn hier selbstverständlich nicht von "Zufall" zu sprechen ist - in einem Gemälde muss ein Zufall komponiert, muss formale Willkür bewusst inszeniert werden. Hier geschieht nichts von selbst.

 

Edgar Degas, Le Comte Lepic. Place de la Concorde, 1876; vermutlich im Zweiten Weltkrieg zerstört

 

Ein Beispiel für diesen Vorgang in der Malerei ist Degas 1876 entstandenes Gemälde "Le Comte Lepic. Place de la Concorde": Jede Person verhält sich darauf "absolut unbekümmert um ihre jeweils nächstbenachbarte Person. [...] Der Ausdruck der Vereinzelung wird intensiviert, indem Vereinzelung gerade dort auftritt, wo sie gerade nicht vermutbar ist, nämlich im nahen Beieinander von Personen." (504)

 

"Was Degas malt, ist nicht nur mehr zufällig, sondern manipuliert - sogar in hohem Maße manipuliert." Das Bild kann damit als ein Musterbeispiel für die malerische Inszenierung des Zufälligen gelten. "Die Intelligenz der Komposition widerspricht dem Zufall, und nimmt man dieses Bild von Degas wirklich ernst, so ist es ein im Grunde schreckliches Bild. Der eigentliche Bildsinn offenbart sich in einem jede nur vorstellbare Zufälligkeit einer Straßenszene prinzipiell überbietenden Ausdruck der Entfremdung. Die eigentliche Botschaft des Bildes von Degas ist also Entfremdung, Darstellung von Unzusammenhang. Man kann es auch so formulieren, daß der Modus des Beieinander der einzelnen Personen hier das Auseinander ist. Gerade in der Gruppierung der Personen wird deren Isolation, deren prinzipielle Unverbundenheit mit anderen Personen, als solche thematisch und deutlich." (504/506)

 

Das gleiche Motiv begegnet auch bei Manet immer wieder.

 

Edouard Manet, Im Concert-Café, 1878;
Baltimore, Walter Art Gallery

 

Beispielsweise scheint alles an dem Bild "Im Concert-Café" zufällig, gleich einem photografischen Schnappschuss. Zudem ist jede der dargestellten Figuren offensichtlich ganz mit sich selbst beschäftigt, selbst wenn sie räumlich einander sehr nahe sind. "Keine Phantasie des Bildbeschauers könnte der verbildlichten Szene eine soziale Gemeinschaft hinzuerfinden, die den einzelnen birgt und an der der einzelne teilhat." (508)

 

Dieser Zug wird zu einem Kontinuum in Manets Bildern.

Edouard Manet, Der Balkon, 1868; Paris, Louvre

 

"Vereinzelung herrscht, nicht Zusammenhang." (508)

 

Das gilt in ganz besonderer Weise auch für das Barmädchen in "Un bar aux Folies-Bergère".

 

Mitten in dem geradezu hörbaren Trubel des Lokals steht das Barmädchen in vollkommener Einsamkeit.

 

Zu dem Bild hat sich eine Skizze erhalten, die sowohl Gemeinsamkeiten wie entscheidende Unterschiede zum Bild im Louvre aufweist und deren Verhältnis zum Bild nicht abschließend geklärt ist.

Edouard Manet, Skizze zu "Un bar aux Folies-Bergère", 1881; Amsterdam, Stedelijk Museum

 

Imdahl zählt die wichtigen Unterschiede auf:

  1. Das Mädchen ist nicht in der Bildmitte angeordnet.
  2. Es blickt nicht frontal aus dem Bild heraus, nimmt keinen Blickkontakt mit dem Betrachter auf.
  3. Der Kunde, der ebenfalls im Spiegel zu sehen ist, ist niedriger angeordnet als das Mädchen, zugleich steht er dem Mädchen näher.
  4. Die Bartheke bildet eine deutlichere Barriere, die auf der rechten Seite durch eine Ecke durchlässig wird. Durch die perspektivische Verkürzung wird der Standort des Betrachters vor dem Bild fixiert. "Für das Verständnis der Gesamtszene ist dies entscheidend wichtig: Der Bildbeschauer kann und soll nämlich glauben, vor dem Spiegel dort zu stehen, wo der gespiegelte Mann dem gespiegelten Mädchen gegenübersteht. Die Skizze bezieht also den Bildbeschauer in die verbildlichte Szene ein, sie legt dem Beschauer die Fiktion nahe, er selbst sei der gespiegelte Mann und er selbst stehe in einer Verhandlung - oder was es auch sei - dem Mädchen vor dem Spiegel gegenüber." (513)

Tatsächlich stimmt in der Skizze die Spiegelung, wenn der Betrachter tut, was die Perspektive ihm vorgibt: sich leicht rechts der Bildmitte, in der Verlängerung der rechten Kante der Theke zu positionieren.

 

Ganz anders aber im ausgeführten Gemälde. Hier steht das Mädchen genau auf der Mittelachse und sieht den Betrachter direkt an. Die Spiegelung dagegen scheint fehlerhaft zu sein, kann so nicht funktionieren.

Das Spiegelbild im Hintergrund ist nach rechts 'verrutscht', was eine Schrägstellung des Spiegels voraussetzen würde, die aber, wie die Unterkante des Spiegels deutlich macht, nicht gegeben ist. Wie 'fehlerhaft' das Ganze tatsächlich ist, wird vollends an der Positionierung der Flaschen am linken Bildrand deutlich: sowohl vor als auch im Spiegel stehen sie an der hinteren Kante des Tischs. "Das ist spiegelungslogisch zweifellos falsch.
Es ist aber bildästhetisch begründbar, denn aus der falschen Postierung der gespiegelten Flaschen ergibt sich eine schräge ideale Linie, die mehr oder weniger genau von der unteren Bildecke links über jene falsch gespiegelten Flaschen zum Kopf des Mädchens hinaufführt. Es ergibt sich die Seite eines potentiellen Dreiecks, das die Position des Barmädchens formal festigt in Anspielung auf eine pyramidale Struktur." (513f) Auf diese Weise ergibt sich die Wirkung von Monumentalität und feierlichem Ernst, wie sie in keinem anderen Bild Manets in dieser Weise zu beobachten ist. Verschiedene Interpretatoren stellen Beziehungen vom Bild zu antiken Kunstwerken, kultischen Handlungen und zu Darstellungen von Göttinnen her. Das ist umso auffälliger, als die offenbar vorbereitende Skizze alle diese Elemente vermissen lässt. Manet muss sie also ganz bewusst in den schon vorhandenen Entwurf integriert haben. Damit werden die feststellbaren 'Fehler' - auf die hinzuweisen keine kunsthistorische Analyse auslässt - wie so häufig zu einem Fingerzeig, den der Künstler ganz bewusst zur Blicklenkung und Aufmerksamkeitssteuerung einsetzt.

 

 

Diedrichs liest Imdahl:  Das Falsche als Ausdrucksmittel

Max Imdahl, Eoduard Manets "Un Bar aux Folies-Bergère" - Das Falsche als das Richtige, in: Ders., Zur Kunst der Moderne. Gesammelte Schriften, Bd. 1. Hg. v. Angeli Janhsen-Vukicevic, Frankfurt am Main 1996, S. 497-533 (Erstdruck 1986).

 

S. 515-533

Edouard Manet, Un Bar aux Folies-Bergère, 1881/82;

London, Courtauld Institute Gallery

 

Die offensichtlichen 'Fehler', die Manet, wie die vorbereitende Skizze (siehe unten) zeigt, absichtlich in das Bild einfügt und die vor allem die Spiegelungen betreffen, müssen also einen Sinn haben, hinter ihnen muss eine Absicht stecken, anders sind sie nicht zu erklären. Sie bilden den Schlüssel zur Deutung des Bilds. Oder wie Imdahl sich ausdrückt: das Falsche muss das eigentlich Richtige sein.

 

Es scheint nahezuliegen, den Betrachter des Bilds in dem Mann mit dem Zylinder wiederzuerkennen, der ganz am rechten Bildrand zu sehen ist. Auf diese Weise wäre der Betrachter in das Bild selbst integriert, zumal die Spiegelung zeigt, dass das Barmädchen den Zylindermann ansieht, so wie sie vor dem Spiegel den Betrachter ansieht.

Allerdings dürfte in diesem Fall der Zylindermann bzw. Betrachter nicht nach rechts verschoben sein, sondern müsste von dem Barmädchen verdeckt werden, so wie auch ihr eigenes Spiegelbild genau hinter ihr zu sehen oder eben nicht zu sehen sein müsste. Oder anders gesagt: Damit der Betrachter sich selbst im Spiegel sehen könnte, müsste er rechts des Mädchens stehen statt direkt frontal vor ihm. Das ist in der erwähnten Skizze zweifellos der Fall, nicht aber im ausgeführten Gemälde.

Edouard Manet, Un bar aux Folies-Bergére - Skizze, 1881, Amsterdam, Stedelijk Museum

 

"Im Falle der Skizze ist eine solche fiktive Identifikation die eigentliche und zweifellos auch in hohem Maße poetische Bilderfindung, und zwar eine solche, der spiegelungslogische Sachverhalte durchaus entsprechen. Im fertigen, endgültigen Bilde besteht dagegen ein Widerspruch zwischen der verbildlichten Spiegelung und dem interpretatorisch vorgeschlagenen Angebot an den Bildbeschauer, sich dem gespiegelten Mann gleichzusetzen." (515f)

 

Imdahl spricht hier von der "Poesie des Gemäldes" (517), die durch die unmittelbare Einbeziehung des Betrachters in das Bild erzeugt werde und um deretwillen Manet Kompromisse schließt, die zu augenscheinlichen, bildlogischen 'Fehlern' führen. Es würde diese Poesie zerstören, würde Manet beispielsweise eine Rückenfigur zur Verdeutlichung der räumlichen Beziehungen der Figuren einfügen, wie das ein zeitgenössischer Kritiker vorschlug. In dessen Entwurf rückte das Barmädchen aus der Bildmitte heraus und die Rückenfigur ermöglichte dem Betrachter nurmehr einen vermittelten Zugang zum Bild.

 

"Aber ist dies der Bildsinn? Jene Bilddeutung, derzufolge sich der Bildbeschauer mit dem gespiegelten Zylindermann zu identifizieren hat, ist nur eine, gewiß aber nicht die einzige Deutung, und wie verhält sie sich zu den schon angeführten Figurenbildern von Degas und auch von Manet, in denen die Einsamkeit einzelner Personen, nicht aber deren Kommunikation thematisch ist?" (517)

 

Mehrere Standorte des Betrachters vor dem Bild anzunehmen, um die offensichtlich problematische Spiegelung im Bild zu erklären, wäre gewissermaßen ein kubistischer Zugang. Günter Busch hat einen solchen angenommen und von einer "quasi kubistischen Marginalie" gesprochen (519). Werner Hager dagegen nahm ein 'alter ego' des Betrachters an, das gewissermaßen neben ihn trete, wodurch der Betrachter mehr thematisiert würde als das Mädchen: "Der Bildbeschauer selbst hält den auf ihn als Person gerichteten Blick des Barmädchens nicht aus und ist zur Seite getreten als jener gespiegelte Zylindermann." (520)

 

"Doch wie es auch sei, eine eindeutige Interpretation der verbildlichten Szene wird es nicht geben können." Was Manet vor allem anbietet, ist eine klare, im Aufbau streng geregelte Komposition. "Unter formalem Aspekt herrschen demnach kompositionelle Klarheit und Eindeutigkeit." (520) Darüber hinaus verweist gerade diese Komposition auf ältere, künstlerische Traditionen, die in die Richtung eines Andachtsbilds weist. In dieser Tradition, darauf verwies Hand Jantzen, spielt nicht zuletzt das Spiegelbild eine zentrale Rolle: ein Spiegelbild zeigt in dieser ikonographischen Tradition eine Imagination, ein inneres Bild. Auch der verträumte Blick des Barmädchens könnte darauf hinweisen, dass ein realer Dialog in der Wirklichkeit gar nicht stattfindet, dass das Mädchen die Begegnung mit dem Zylindermann tatsächlich nur träumt. "Vielleicht ist es nur das schattenhafte Nachbild einer bereits vorübergegangenen Unterredung."

Jantzen: "Inmitten dieser optischen Verzauberung steht sie, die einzelne, wie verloren in der Masse, zu der sie keine andere Beziehung hat, als am Bartisch von den Genüssen auszuschenken, deren jene Welt bedarf. Ihre Figur wird zum Ganzen des im Bilde wahrnehmbaren Lebensausschnitts zugleich in Verbindung und in Gegensatz gestellt. Wenn diese Spiegelwelt der Bardame hintergründig zugeordnet erscheint, so doch in dem Sinne, daß sie zugleich aus ihr herausgehoben wird. Sie selbst sieht diese Welt wie durch einen Schleier. Um sie herum ist Leere, in der sie sich behauptet. Von hier aus wird das Bild von einer dichten Spannung erfüllt. Die Fragwürdigkeit eines beziehungslosen Daseins des anonymen Großstadtmenschen inmitten einer erregten und künstlichen Atmosphäre ist in diesem Bilde angerührt. Das heißt, hier zum ersten Male in der Malerei des neunzehnten Jahrhunderts hat die Einsamkeit des modernen Großstadtmenschen Gestalt gewonnen."

Das Barmädchen wird in dieser Interpretation Hans Jantzens also zum "Paradigma eines modernen Großstadtmenschen in dessen Einsamkeit." (522)

 

Beide Interpretationen zielen darauf ab, die Begegnung zwischen Barmädchen und Zylindermann nicht als real, sondern als eine Erinnerung aufzufassen, eine "Erinnerung in der Gegenwart des einsam vor dem Spiegel dastehenden Mädchens" [...] Vielleicht soll sogar das Spiegelbild eine Sehnsucht des Mädchens nach einem Vergangenen ausdrücken." (523)

 

 

Imdahl betont immer wieder, dass diese Interpretationen nicht die einzig möglichen sind. Und tatsächlich ist die Forschungsgeschichte voll von weiteren Deutungen, auch von ganz unterschiedlichen Beobachtungen. So sieht beispielsweise ein Ausstellungskatalog aus dem Jahr 1983 in dem Gesicht des Barmädchens das "Gesicht eines Landmädchens, das frisch in Paris eingetroffen ist" und das "eher träge als festentschlossen und eher versonnen als verführerisch" wirkt. (524f) Dagegen schrieb Ernest Chesneau 1882, dass es "unmöglich" sei, "kokottenhafter zu wirken als das Geschöpf, das der Künstler hinter den Marmor des ... Bartisches gestellt hat". T. J. Clark dagegen äußerte 1977, "Manets Gemälde" sei "ein Bild bedrückender Prostitution und die Melancholie der Serviererin" ein "Ausdruck der Entfremdung". Diese Aussage wird wiederum vom Katalog von 1983 abgelehnt als "ideologisches Trugbild [...] gegen allen Augenschein." Imdahl dagegen: "Diese Aussage kann nicht überzeugen, nicht nur nicht, weil sie nicht begründet ist. Sie selbst ist in allem Augenschein entgegen [sic]." (525)

 

Werner Hofmann bringt noch einen weiteren Aspekt ins Spiel. Das Mädchen sei in ihren zwei Ansichten gewissermaßen in zwei 'Zuständen' zu sehen: die Rückenansicht zeige sie in ihrer aktiven Rolle als Barmädchen, die Frontalansicht zeige sie dagegen reflektierend über sich selbst. Manet stelle in ihr "das Nachdenken über diese Rolle, den Rückzug in die Selbstbefragung dar". (525) Damit sei das Mädchen sowohl als Objekt wie als Subjekt sichtbar, ersteres zeige sie als Ware, als Objekt auch für den Maler, "indem es diesem, wie man weiß, für das Barbild Modell getanden habe." (527)

 

Hofmann erwähnt noch eine interessante, grundsätzliche Rollenverwandtschaft zwischen dem Mädchen und dem Maler. Denn wie dieser Bilder verkaufen müsse, so müsse das Mädchen Waren verkaufen oder auch sich selbst." (527)

Eine Vielzahl möglicher Interpretationen also, deren jeweilige Berechtigung einzig in ihrer Nachvollziehbarkeit angesichts des Bilds selbst zu suchen ist. "Eine einzige und eindeutige Verständnisebene wird sich nicht angeben lassen - übrigens sehr im Unterschied zur Skizze des Gemäldes, in welcher die Optik der Spiegelung vergleichsweise fehlerfrei ist und zudem das Mädchen selbst in Gebärde und Physiognomie ganz anders sich verhält." (527)

 

Nur eines ist angesichts des Gemäldes eindeutig zu sagen: Es ist unmöglich, dass der Betrachter und der Mann mit Zylinder, den wir im Spiegel sehen können, identisch sind. Dies ist "spiegelungslogisch unmöglich und mithin in höherem Maße eine Leistung poetischer Fiktion." (527) Aber eben aus diesem Grund fragt sich Imdahl, ob eine empirische Unmöglichkeit auch in einem Gemälde Geltung hat oder ob "Inhalte der Vorstellung und auch solche der poetischen Fiktion" in einem Kunstwerk nicht eine Realität einfordern dürfen, die sie in der empirisch wahrnehmbaren Wirklichkeit niemals beanspruchen dürften. Ein Gegenargument gegen eine Deutung dürfte in diesem Fall nicht in einer logischen Unmöglichkeit bestehen, sondern könnte einzig dadurch Beweiskraft erlangen, dass es die vermeintlichen 'Fehler' durch einen anderen Bildsinn zum Teil einer stringenten Deutung werden ließe, in diesem Fall nur "ein solcher Sinn, der ohne die falsche Spiegelung gar nicht formulierbar wäre und angesichts dessen das Falsche das Richtige ist." (528)

 

"Zu erwägen bleibt [...] die Möglichkeit eines anderen Bildsinns, zu dessen Gunsten die Spiegelung falsch ist, weil sie nur falsch richtig sein kann und nur so jedem Bildsinn zu entsprechen vermag." (528)

 

Im Folgenden schlägt Imdahl eine solche Deutung vor, die einerseits auf dem 'Falschen' fußt und dieses auf diesem Weg als 'richtig' erweist und die andererseits ihrerseits nicht beansprucht, die einzig mögliche Deutung zu sein, die alle anderen Deutungen als unzutreffend disqualifizierte.

 

Auch diese Deutung reflektiert auf das Spannungsverhältnis des Barmädchens mit ihrem Spiegelbild und auf Hofmanns "Selbstbefragung über seine Rolle im Spiegel": "indessen soll es nunmehr darum gehen, die Positionen oder, anders gesagt, die Seinsweisen des Mädchens vor dem Spiegel und im Spiegel als prinzipiell unversöhnlich aufeinander zu beziehen, sogar als existentiellen Konflikt." (528)

 

Allerdings wird die Deutung Imdahls die meisten der bisher geäußerten Aspekte von Deutungen außer Acht lassen. Imdahl kündigt an, dass er ohne sie auskommt, zumal sie im Bild nur schwer zu sehen oder nachzuvollziehen seien ("Ist alles das wirklich zu sehen?"; 529). Stattdessen sei die folgende Interpretation nichts weiter als eine intensive Beschreibung des Bilds selbst.

 

"Was ergibt überhaupt eine Beschreibung, wiederholt sie nur die ohnehin selbstverständlichen Sichtbarkeitsgegebenheiten eines Bildes oder macht sie erst eigentlich bewußt, was zu sehen ist? Man kann - grundsätzlich - verschiedene Möglichkeiten einer Bildinterpretation voneinander unterscheiden, nämlich zum einen solche, die das, was zu sehen ist, von vornherein und gelegentlich auch vorschnell in einen schon vorausgesetzten historischen Zusammenhang stellen und somit das Bedenkenswerte nicht eigentlich im Bilde selbst aufsuchen, und zum anderen solche Interpretationen, die sich zuallererst auf das sichtbar Gegebene konzentrieren, dieses selbst zum Gegenstand der Reflexion machen und erst alsdann das zu Sehende deuten als eine visuelle Information über historische Umstände, die sich auf andere Weise so nicht gewinnen läßt." (529)

 

"Folgendes also läßt sich - vielleicht - zum Barbilde Manets noch sagen:

Vor dem Spiegel steht das Barmädchen aufrecht, allein, einsam, im Spiegel ist es dagegen dem Zylindermann zu Diensten. Vor dem Spiegel ist die Physiognomie des Mädchens ernst, melancholisch, tieftraurig. Das kann man im Spiegel nicht sehen. Wie aber sollte das Barmädchen den Zylindermann so melancholisch anschauen?" (530)

 

Imdahl betont, dass das Barmädchen und sein Spiegelbild zugleich zusammengehören - das Mädchen wird im Spiegel wiedergegeben - und sich voneinander unterscheiden, denn ganz offensichtlich zeigt das Spiegelbild etwas anderes, als wir es vor dem Spiegel sehen. Das wird nicht zuletzt durch die 'Fehler' kenntlich gemacht, beispielsweise durch die offensichtliche Verschiebung des Spiegelbilds. Dieser 'Fehler', der Bild (das Mädchen) und Abbild (das Spiegelbild) voneinander trennt, weist auf eine innere Wahrheit, die ganz offensichtlich mit "Identität und Disidentität", mit Gleichheit und Ungleichheit/Unterschied zu tun hat. Wenn wir in der 'falschen Spiegelung' einen 'richtigen' Ausdruck sehen wollen, kann er nur mit diesem Wechselverhältnis zu tun haben.

In der Skizze war noch keine Rede von "Disidentität", vom Auseinanderfallen der Identität des Barmädchens gewesen. Dort hatte die Frau gewissermaßen noch mit sich selbst übereingestimmt. Im Gemälde dagegen zerfällt diese Identität, Imdahl spricht von der "in sich selbst entzweite[n] Existenz des Mädchens in Hinsicht auf Person und Rolle." (530f)

 

"Unbestreitbar bedingt die Entzweiung von Person und Rolle das Bewußtsein einer Selbstentfremdung des Menschen in den Zwängen einer modernen Gesellschaft, die sich in den damals aufkommenden Lebenformen der Großstadt gebildet hat. Vielleicht ist gerade dies die Botschaft des Bildes, daß nämlich in der modernen Gesellschaft das Recht auf Identität der Person und die Forderungen an die Rolle unversöhnlich sind und diese Unversöhnlichkeit - gerade sie - ein Anlaß ist zu Vereinsamung, Melancholie und Trauer." (531)

 

Dann wäre der erwähnte, in Degas' und Manets Bildern häufig anzutreffende "äußere Widerspruch von Beieinander und Auseinander" in dem Barbild gewissermaßen auf eine höhere Ebene gehoben, die nicht nur die Vereinsamung des Menschen inmitten der Gesellschaft, sondern auch die Entfremdung des Menschen von sich selbst thematisierte. Im Bild wäre damit "das Schicksal einer inneren, dem Individuum selbst zugemuteten und allein in diesem selbst auszuhaltenden Widersprüchlichkeit" dargestellt. (531)

 

Und wenn dem so ist, kann man darüber nachdenken, wer von beiden - Person oder Rolle - eigentlich mit dem Zylindermann kommuniziert und ob diese Kommunikation gelingen kann oder ob sie sich auf den Austausch von mehr oder weniger leeren Rollenerwartungen beschränken wird. Imdahl jedenfalls sieht in der im Spiegel dargestellten Kommunikation eine "illusionäre, trügerische Kommunikation, welche die Person des Mädchens in seiner Wirklichkeit nicht wirklich erreicht." (531)