Kunst ist nicht für Kunstgeschichte da

Julius Meier-Graefe (1867-1935) schrieb sein bedeutendstes Werk "Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst. Vergleichende Betrachtung der bildenden Künste, als Beitrag zu einer neuen Ästhetik" an der Wende zum 20. Jahrhundert (3 Bände, erschienen 1904; letzte Fassung 1924). Er war gerade für ein solches Buchprojekt prädestiniert, weil er in ungewöhnlich intensiver Weise am Kunstleben seiner Zeit teilhatte und dies nicht rein akademisch, sondern meist im Rahmen von publizistischer Tätigkeit, Ausstellungskonzeptionen und dem Kunsthandel. Entsprechend stand er in einer gewissen Konkurrenz zur universitären Kunstwissenschaft, der er beispielsweise vorwarf, dass sie keinen wirklichen Zugang zur zeitgenössischen, also modernen Kunst finde.

 

In den folgenden Blog-Beiträgen möchte ich mich mit diesem bemerkenswerten Autor von Texten zur Kunstgeschichte beschäftigen, der es wagte, sich ohne nennenswerte, historische Distanz mit der für ihn zeitgenössischen Kunst zu beschäftigen, und von dem Wilhelm Worringer (1867-1935; Autor des berühmten Buchs "Abstraktion und Einfühlung", 1907) einmal äußerte, dass die Kunsthistoriker seiner Zeit "ganze Kapitel der Kunstgeschichte [...] durch seine Augen gesehen" hätten, "auch wenn wir glaubten, es wären unsere eigenen."

Der ungewöhnlich sprachbegabte Autor war Autodidakt im Bereich der Kunstgeschichte, seine Texte aber zeichnen sich bis heute durch einen besonders hohen Grad an visueller Feinfühligkeit und Einfühlungsvermögen aus.

 

Julius Meier-Graefe hatte ursprünglich in die Fußstapfen seines Vaters treten und Ingenieur werden sollen, wandte sich aber nach einem Besuch der Weltausstellung von 1889 in Paris - jener, anlässlich derer Gustave Eiffel seinen damals 312 Meter hohen "Jahrhundertturm" errichtete - von diesem Weg ab, besuchte von nun an geisteswissenschaftliche Vorlesungen, geriet unter den Einfluss Friedrich Nietzsches und wurde Schriftsteller mit besonderem Augenmerk auf die Kunst seiner Zeit. (In seiner "Autobiographische[n] Skizze" aus der Zeit um 1920 indessen hört sich dieser Weg sehr viel weniger stringent an.)

 

Was ihn auszeichnete, war nicht zuletzt der intensive Kontakt zu den Künstlern. Er war befreundet  mit William Morris und Oscar Wilde, Edvard Munch - über den er sein erstes Buch schrieb -, Toulouse-Lautrec und anderen. Daneben war er Gründungsmitglied der Kunstzeitschrift 'Pan' (gegr. 1894). Er übersiedelte nach Paris, schrieb von dort aus periodisch Kunstberichte für verschiedene Zeitschriften und beteiligte sich aktiv am Kunsthandel (1899-1903 mit eigener Kunsthandlung 'La Maison Moderne').

Im Zentrum seines Interesses stand über lange Zeit der französische Impressionismus und er engagierte sich hier auch als Vermittler und Organisator von Kunstausstellungen.

Im Jahr der Erscheinung der "Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst" verlegte Meier-Graefe seinen Wohnsitz wieder nach Berlin.

 

Arnold Böcklin, Triton und Nereide, 1874; München, Sammlung Schack

 

 

Meier-Graefe zeichnete sich nicht zuletzt durch die Tatsache aus, dass er bereit und in der Lage war, einmal gewonnene Ansichten und Überzeugungen zu hinterfragen und einmal gefällte Urteile zu revidieren, wenn sie sich durch neue Argumente oder Fakten als unzutreffend erweisen sollten. Ein besonders aufschlussreiches Beispiel dafür ist "Der Fall Böcklin" (Titel einer Streitschrift Meier-Graefes von 1905), den Meier-Graefe ursprünglich als einen Heros der symbolistischen Malerei hoch geschätzt hatte, den er mit seiner Streitschrift indessen von diesem Sockel stürzen sollte.

 

In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg stand Meier-Graefe in engem Kontakt nicht allein zum Berliner Kunst- und Museumsbetrieb, hier beispielsweise zu Hugo von Tschudi (1851-1911), bis zur so genannten "Tschudi-Affäre" 1908 Direktor der Berliner Nationalgalerie. In dieser Zeit konzipierte er mit diesem zusammen u.a. die "Jahrhundertausstellung" der Berliner Nationalgalerie ("Ein Jahrhundert deutscher Kunst, 1775-1875").

In diese Zeit fällt nicht zuletzt die Wiederentdeckung des bis dahin vergessenen El Greco (Dominikos Theotokópoulos), der Meier-Graefe besonders faszinierte, so dass er einer der aktivsten und einflussreichsten Fürsprecher für diesen in Deutschland wurde.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

El Greco, Ein Kardinal, 1596-1601; New York, Metropolitan Museum of Art

 

Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg ist für Meier-Graefe, dessen sozialistische Hoffnungen schnell enttäuscht worden waren, vor allem durch viele Reisen geprägt: Ägypten, Palästina, Griechenland, USA. Das Zentrum seiner Tätigkeit bleiben seine zahlreichen Publikationen, nicht zuletzt für Zeitungen wie die Frankfurter Zeitung und das Berliner Tageblatt.

1930 übersiedelte er nach Frankreich und ließ sich nach dem Machtantritt Hitlers dort einbürgern.

 

Meier-Graefe steht für einen denkenden und sehenden Kunsthistoriker, dessen Überlegungen nie endgültig abgeschlossen sind und damit zu erstarren drohen, sondern immer im Fluss bleiben. Es ist möglich, dass er sich innerhalb seiner langen, umfangreichen Publikationstätigkeit wiederspricht, dass er einmal geäußerte Meinungen und Urteile revidiert, aber das zeugt gerade von seiner wachen und offenen Auseinandersetzung mit der Kunst seiner Zeit und der unmittelbaren Vergangenheit.

Dabei zeichnete ihn eine durchaus kulturpessimistische Sicht aus. Er sah in der Vergangenheit der Kunst mehr zugewandte Epochen, sah in ihnen bessere Voraussetzungen für hochrangige Kunstwerke und glaubte, dass die Kunst jener Zeiten den Menschen näher gewesen sei, so dass diese in der Lage gewesen seien, sie ohne größere Schwierigkeiten zu verstehen. Die Gegenwart der Zeit der Jahrhundertwende und der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts dagegen sah Meyer-Graefe als eine Zeit, in der sich die Kunst vom Menschen - und der Mensch von der Kunst - immer mehr entfernt und Kunstwerke von Rang kaum mehr auf Verständnis bei den Menschen stoßen könnten. Eine Kunst, die für alle gleichermaßen wertvoll wäre, könne es unter diesen Umständen nicht mehr geben. Solche Verhältnisse sah Meyer-Graefe für immer verloren. Große Kunst könne daher aus der Gegenwart nicht mehr hervorgehen, so seine Überzeugung.

 

Meyer-Graefes Beitrag zur Kunstwissenschaft ist nicht vor allem die Propagierung der vergleichenden Bildbetrachtung als oberstes Prinzip kunstwissenschaftlicher Analyse. Dagegen trat er einer nicht in erster Linie auf der Form fußenden Methodik der Analyse und Deutung von Kunstwerken kritisch gegenüber.

Meyer-Graefe stand mitten in der Auseinandersetzung um die Kunst seiner Zeit. Sein Werturteil stützte sich hauptsätzlich auf die Form des Kunstwerks, ohne indessen den ideellen Gehalt des Werks ganz außer Acht zu lassen. Dieser sollte in seinem Verständnis dem Menschen dienlich sein, sich nicht davon unabhängig machen. So maß er Renoir einen höheren Wert zu als Monet und schätzte ganz besonders van Gogh, während er beispielsweise dem von Gauguin praktizierten Primitivismus oder der Betonung des Dekorativen von Matisse keinen herausragenden Wert beimessen konnte. Formal erschien ihm der Impressionismus eine Zeit lang als Vollendung.

Dem Expressionismus hielt er immerhin zugute, dass er unter allzu ungünstigen kultur- und stilgeschichtlichen Bedingungen entstehen müsse. Dennoch schätzte er Beckmann, Kokoschka, Hofer und andere und ermunterte sie, den Bezug zur Realität nicht aufzugeben und sich weiterhin in den Dienst der Vermittlung von Ideen zu stellen. Den Weg zu einer ungegenständlichen Kunst lehnte er ab. Entsprechend wurde er heftig für seinen "Konservatismus" attackiert.

 

 

Mit einem Blick in die Schriften Julius Meier-Graefes möchte ich gern einen Blick auf den Kunstbetrieb in den Jahrzehnten um die Jahrhundertwende - die Zeit der "Klassischen Moderne" - werfen, um auf diese Weise die Chance zu nutzen, eine Stimme zu hören, die unmittelbar 'dabei' war. Eine zeitgenössische Stimme, die nicht aus der Sicherheit der historischen Distanz spricht, sondern wesentlich direkter auf die Kunst ihrer Zeit reagiert - so direkt, dass sie sich immer wieder selbst zu korrigieren müssen meint. Es geht mir, wie aus diesen Worten klar werden sollte, nicht in erster Linie um einen biographischen Zugang zur Persönlichkeit des ungewöhnlichen Kunst-Schriftstellers Meier-Graefe, sondern um einen möglichst authentischen Zugang zur Kunst der Jahrhundertwende durch die Augen eines ausgesprochen wortgewandten Zeitgenossen.

 

 

 

Nicht nur zwei verschiedene Kunst-, sondern Weltanschauungen

#Nationalismus ist aus heutiger Sicht ein Zeichen von Engstirnigkeit und Ignoranz. Etwas kann nicht allein deswegen gut sein, weil es deutsch, oder schlecht, weil es französisch ist.

 

Aus den Briefen und Dokumenten Julius Meier-Graefes geht allerdings hervor, dass genau diese Einstellung die Zeit um 1900 sowohl auf deutscher wie auf französischer Seite so sehr prägte, dass beispielsweise Rémy de Gourmont (1858-1915), ein Schriftsteller und Essayist, seine Stelle als Angestellter der Bibliothèque Nationale in Paris verlor, weil er im April 1891 einen Artikel im 'Mercure de France' veröffentlichte, der als "vaterlandsfeindlich" angesehen wurde. (1)

 

Ähnlich erging es #Meier-Graefe.

 

Nachdem er 1890 mit 23 Jahren nach Berlin übergesiedelt und dort mit dem Publizieren zunächst literarischer Texte begonnen, 1894 die Zeitschrift PAN gegründet und sein erstes kunsthistorisches Buch geschrieben hatte, siedelte er 1896 nach Paris über und beschäftigte sich auf vielfältige Weise mit vor allem französischer Kunst. 1897 gründete er die Zeitschrift 'Dekorative Kunst', die erste auf Gebrauchskunst spezialisierte Zeitschrift, die sowohl auf Deutsch als auch auf Französisch erschien. Seine folgenden Publikationen, u.a. über Edouard Manet und über den Impressionismus, beschäftigten sich überwiegend mit französischen Themen. Auch in seinem im Entstehen begriffenen, dreibändigen Werk 'Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst', stand die französische Kunst im Mittelpunkt. So kommt es, dass er, als er 1904 nach Berlin zurückkehrte, aus deutscher Perspektive als "erzfranzösisch" galt (2) und man ihm sein Interesse an deutscher Kunst nicht glaubte.

So schreibt Alfred Lichtwark, seit 1886 der erste Direktor der Hamburger Kunsthalle, am 20.11.1904 an Hugo von Tschudi, Direktor der Nationalgalerie in Berlin und einer der ersten Museumsdirektoren in Deutschland, die französische Künstler wie Cézanne, Manet, Monet, Degas u.a. ankauften und ausstellten, Meier-Graefe befinde sich in einer schwierigen Lage, da man ihm "seine plötzliche Bekehrung zu Deutschland nicht recht" glaube. (3)

Im Jahr 1905 wird dies sogar noch schlimmer, denn in diesem Jahr veröffentlicht Meier-Graefe eine Abhandlung über Arnold #Böcklin, eine Streitschrift, mit der er den von ihm einst hochgeschätzten Böcklin von seinem Sockel wirft. (4)

 

Die Ressentiments der deutschen gegenüber der französischen Kunst sind uns bereits im Zusammenhang Franz Marcs begegnet. (5) Sie sind aus heutiger Sicht nur schwer nachvollziehbar, waren zu jener Zeit jedoch offenbar tief verwurzelt. In den Augen vieler kunstinteressierter Deutscher scheint es schon fast eine Art Blasphemie gewesen zu sein, wenn Meier-Graefe an Alfred #Lichtwark schrieb, "für die moderne Kunst" könne man es sich nicht "verhehlen, daß Deutschland zum mindesten nur ein Teil neben anderen Teilen ist." Selbst angesichts der besten modernen Maler aus Berlin und München springe "der ausländische Einfluß immer stärker in die Augen", wobei mit 'ausländisch' in erster Linie wohl 'französisch' gemeint ist. "Wenn wir ihn leugnen, thun wir vielleicht den inländischen Künstlern einen zweifelhaften ökonomischen Gefallen, sicher nicht der Kunst, der wir doch in erster Linie dienen wollen." (6)

 

Diese Äußerungen stehen im Zusammenhang mit einer Ausstellung, die Meier-Graefe zu diesem Zeitpunkt gerade vorbereitete. Es handelt sich um eine große Ausstellung deutscher Kunst, die 1906 als Deutsche Jahrhundertausstellung in der Nationalgalerie Berlin gezeigt wurde.

Die eigentliche Idee stammte wohl von Alfred Lichtwark, jedoch scheint die Verwirklichung auf die Initiative Meier-Graefes zurückgegangen zu sein. Die Hauptbeteiligten an dem Projekt waren neben diesen beiden Hugo von Tschudi als Direktor der Nationalgalerie und Woldemar von Seidlitz (1850-1922), (de facto) Generaldirektor der königlichen Sammlungen Dresden.

Meier-Graefe übernahm dabei offensichtlich nicht nur die Arbeit der Zusammenstellung der auszustellenden Bilder, die er u.a. in Hamburg, Bremen und München fand, sondern auch den Großteil der Textarbeit am Katalog. Davon zeugt u.a. ein Brief Meier-Graefes an Lichtwark vom 5.8.1906, in dem er über die Schwierigkeiten bei der Bearbeitung der Texte schreibt und sich angesichts der Masse der ausgestellten und zu bearbeitenden Werke für eine gewisse Oberflächlichkeit der Texte zu entschuldigen sucht. (7)

Und dennoch schreibt Lichtwark am 20.11.1904 an Hugo von Tschudi, seine Vorarbeit sei "sehr dankenswerth", aber es erscheine ihm "gefährlich, wenn der Schein entsteht, daß Meier-Graefe die Zusammensetzung der Ausstellung bestimmt," die Ausstellung also allzu sehr prägt. "Es würde uns unnütze Schwierigkeiten machen. Sie kennen ja unsere Fachgenossen hinlänglich" (8), bei denen Meier-Graefe noch immer als 'Franzosenfreund' galt.

 

Eigentlich sind dies erschütternde Dokumente. Ernsthafte Kunsthistoriker und Museumsdirektoren wie beispielsweise Henry Thode (1857-1920), Professor für Kunstgeschichte in Heidelberg, nahmen Meier-Graefes Buch über Arnold Böcklin zum Anlass, den Nationalismus als ein wesentliches Kriterium für die Beurteilung und Bewertung von Kunst heranzuziehen. So wehrte sich Thode ausführlich gegen "jene einseitige das Fremde proklamierende Kunstauffassung", die er durch Meier-Graefe vertreten sah.(9)

Max Liebermann reagierte auf "Thodes Frechheit" mit drei Briefen, die er am 7.7., 18.7. und 25.7.1905 in der 'Frankfurter Zeitung' veröffentlichte. Darin hieß es u.a. sehr zutreffend: "In dieser ganzen Affaire platzen nicht nur 2 verschiedene Kunst- sondern Weltanschauungen auf einander."(10)

 


Anmerkungen:

(1) Julius Meier-Graefe, Kunst ist nicht für Kunstgeschichte da. Briefe und Dokumente. Hg. und kommentiert von Catherine Krahmer unter Mitwirkung von Ingrid Grüninger, Göttingen 2001, S. 352.

(2) Krahmer/Meier-Graefe 2001 (wie Anm. 1), S. 47.

(3) Ebenda.

(4) Julius Meier-Graefe, Der Fall Böcklin und die Lehre von den Einheiten, Stuttgart 1905.

(5) Christof L. Diedrichs, Wie unendlich feinere Sinne muss ein Maler haben. Franz Marcs 'Tiger' (= einblicke - Kunstgeschichte in Einzelwerken 4), Freiburg i.Brsg./Norderstedt 2017, besonders S.31ff.

(6) Krahmer/Meier-Graefe 2001 (wie Anm. 1), S. 34.

(7) Krahmer/Meier-Graefe 2001 (wie Anm. 1), S. 47f: "Ich schreibe Ihnen das, weil gerade Sie die Güte hatten, mir Mut zu der Arbeit zu machen und ich fürchten muß, daß gerade Sie am meisten enttäuscht sein werden. Aber die kompakte Majorität ist erdrückend."

(8) Krahmer/Meier-Graefe 2001 (wie Anm. 1), S. 46.

(9) Krahmer/Meier-Graefe 2001 (wie Anm. 1), S. 357.

(10) Zitiert nach ebenda.