William Turner und der Mont Blanc

William Turner (1775-1851) war große Teile seines Lebens unterwegs. „Reisen war für ihn offensichtlich eine zentrale Erfahrung, ein ihm notwendiger Faden, um seine mannigfaltigen Bildideen daran aufzureihen“, schrieb sein Biograph Andrew Wilton. (Anm. 1) Tatsächlich sind viele Anekdoten darüber bekannt, dass Turner sogar in der fahrenden Kutsche ununterbrochen zeichnete, und es wurden eigens für ihn Malkästen konstruiert, in denen er die gesamte Ausstattung für die Aquarell- oder Ölmalerei mit sich herumtragen konnte, selbst im Miniaturformat für die Manteltasche.

Ein Reise-Mal-Etui von William Turner; London, The Tate Gallery (The Royal Oak Foundation)

 

 

Und selbst Unfälle mit der Postkutsche, die Turner mehrere Male v.a. während der Überquerung der Alpen erlebte, hielt er zeichnend fest, während sich seine Mitreisenden darum bemühten, die Kutsche wieder aus einer Schneewehe zu befreien oder aus einem Graben zu ziehen und wieder aufzurichten (vgl. William Turner, Die Herren Reisenden auf ihrer Rückkehr aus Italien mit der Postkutsche in einer Schneewehe auf dem Mont Talare am 22. Januar 1829, Aquarell; London, British Museum).

Turner brachte riesige Mengen an Skizzenbüchern und Zeichen- und Aquarellblättern und sogar an Ölbildern mit nach Hause, wenn er nach einigen Wochen oder Monaten wieder nach London zurückkehrte.

 

Unter ihnen befand sich auch ein Ölbild, das den Ort Bonneville vor dem Massiv des Mont Blanc darstellt. Turner hat es 1803 gemalt. Er war 28 Jahre alt und längst Mitglied der Royal Academy und einer der führenden Künstler Englands dieser Zeit.

 

 

Aus heutiger Perspektive ist es sehr schwierig, sich klarzumachen, warum Turner mit solchen Bildern solchen Erfolg hatte. Wir haben unser Wissen um die nachfolgende, kunsthistorische Entwicklung im Kopf und damit viele Bilder, die wir für wesentlich spektakulärer oder interessanter halten als ausgerechnet diese Ansicht von Bonneville aus dem Jahr 1803. In unserer Sicht passt das Bild mühelos in das künstlerische Umfeld jener Zeit am Beginn des 19. Jahrhunderts, die wir mit anderen Namen wie Carl Rottmann, Carl Blechen, Ludwig Richter, Camille Corot u.a. verbinden, deren Werke auf den ersten Blick ganz ähnlich aussehen. Tatsächlich allerdings waren alle diese Künstler eine Generation jünger als Turner (Anm. 2); als dieser das Bild, um das es hier geht, malte, lernten sie gerade erst Laufen oder Lesen und Schreiben. Außerdem sind es sämtlich Künstler vom Kontinent. Jene Künstler, die Turner in seiner Jugend in London sehen konnte, sind uns heute größtenteils kein Begriff mehr; einzig Thomas Gainsborough (1727-1788) und Joshua Reynolds (1723-1792) sind auch auf dem Kontinent bis heute bekannt.

Turner ist mit seinen frühen Bildern zeitlich tatsächlich näher bei Goethe, seiner "Italienischen Reise" und seinem Reisegefährten Jacob Philipp Hackert (1737-1807) als an jenen Künstlern, die wir spontan mit ihm in Verbindung bringen.

 

 

Jacob Philipp Hackert, Italienische Landschaft, 1778 (2013: Sotheby's)

 

Schon bei einem flüchtigen Vergleich dieser beiden Bilder fällt auf, dass Hackert ganz in der von Ludwig Richter beschriebenen Art der deutschen Künstler vorgeht (vgl. Wir verliebten uns in jeden Grashalm. Deutsche und französische Maler in Italien), indem er mit einer geradezu unglaublichen Akribie buchstäblich jedes einzelne Blatt an jedem der Bäume darstellt, während es Turner an eben dieser Akribie fehlen lässt.

 

 

Auf seinen Bildern stehen eher Farbflecken nebeneinander, die zwar in sich strukturiert sind, aber nicht indem sie Details wie beispielsweise Blätter an einem Baum aufweisen, sondern nur, indem Farben verdunkelt oder aufgehellt oder vielleicht sogar mit Weiß gehöht werden. Wie die Blätter an den Bäumen, so fehlen auch an den wenigen Häusern in "Bonneville" bis auf wenige Ausnahmen Türen und Fenster.  

Von der zeitgenössischen Kritik, die eher Bilder wie die von Hackert gewohnt war, wurde ihm dies - diese Malerei in Farbflecken - nicht selten vorgeworfen, und es war dieser Hintergrund, vor dem jene Karikatur entstand, die Turner nicht mit einem Pinsel, sondern mit einem Wischmop malend zeigt. Es gibt sogar Erzählungen, dass Turner mit der Hand Farben auf die Leinwand klatschte, um sie dann, mit Pinsel, Pinselstil, Palettmesser oder einem anderen Instrument, zu verteilen. Nicht zuletzt war es eben diese fehlende Genauigkeit, die ihm den Vorwurf einbrachte, er kümmere sich nicht um die 'Natur'. Seine Bilder galten bei einigen Kritikern als schlecht, da sie die Natur nicht 'richtig' abbildeten, wie sie meinten, und zur Beurteilung dieses 'Richtigen' galten selbstverständlich die althergebrachten Kriterien des Klassizismus. Von diesen aber entfernte sich Turner zunehmend, selbst wenn wir bei dem frühen Bild "Bonneville" noch nicht bei jenen Bildern der 1830er und -40er Jahre sind - z.B. Der Brand des Ober- und Unterhauses, 16. Oktober 1834, 1835; Philadelphia Museum of Art -, in denen Turner eine Leuchtkraft der Farbe erlangt, die ihrerseits wiederum einer Reihe von Kritikern zu weit ging.

 

Turner füllt den größten Teil seiner Bildfläche mit Felsformationen. Dabei ist es nicht so, dass er sich von den klassischen, akademischen Regeln der Bildgestaltung radikal verabschieden würde. Er wendet sie durchaus an. Bei den ausgearbeiteten Werken - auch bei diesem Bild von Bonneville handelt es sich um ein sorgfältig ausgearbeitetes, vollendetes Werk, nicht etwa um eine schnelle Skizze vor Ort - finden sich die obligatorischen Staffagefiguren im Vordergrund, Schafherden oder andere Tiere, die den Blick des Betrachters in das Bild hinein lenken. Auch eine kompositorische Hand ist durchaus festzustellen, die dafür sorgt, dass die Massen auf dem Bild richtig verteilt sind und sich ein ausgewogenes Gefüge ergibt, das nicht zur einen oder anderen Seite wegsackt.

Allerdings scheint es nicht diese Anwendung der akademischen Regeln, sondern etwas anderes zu sein, das uns dazu veranlasst, das Bild länger anzusehen, sobald wir uns erst einmal darauf eingelassen haben. Es ist etwas daran, das den Betrachter mehr anspricht als das fleißig nachahmende, klassizistische Bild Hackerts.

 

 

Am auffälligsten daran sind die gewaltigen Bergformationen, die sich von links dem rechten Bildrand entgegen erheben. Ihre Größe wird umso spürbarer, je mehr wir sie mit den Gebäuden vergleichen, die sich an ihrem Fuß hinter einem See und an einem Fluss entlang gruppieren. Diese Bergformationen übertreffen in ihrer Gewalt bereits vieles, das wir kennen, aber selbst ohne den Vergleich mit anderen Bildern wirken sie groß.

 

Ludwig Richter, Der Watzmann, 1824; München, Neue Pinakothek

 

 

An sie kommen auch beispielsweise die Werke eines Ludwig Richter nicht heran, die, wie "Der Watzmann", ebenfalls großartige, erhabene Motive darstellen. Sie erzeugen gegen das Ungeschlachte der Turner'schen Malerei eher den Eindruck geradezu naiver Kinderbilder, die romantisch wirken, aber gerade darin nicht 'echt'.

Turner dagegen, der Maler mit dem Wischmopp, versteht es, seiner Darstellung der vielleicht großartigsten Alpenlandschaft etwas von der Gewalt, in der zeitgenössischen Terminologie: der Erhabenheit zu verleihen, die sie auch in der Wirklichkeit hat.

Dabei hätte Turner auch anders gekonnt: Wir wissen, dass er in seiner Jugend zum Architekturzeichner ausgebildet wurde und von dort die sehr genaue, detaillierte Wiedergabe 'von der Pike auf' gelernt hatte. 

 

Statt der akribischen Darstellungsweise jedes einzelnen Details, das die Aufmerksamkeit auf sich zog, bevorzugte Turner also eine Darstellung, die sich mehr auf die Wirkung des Großen Ganzen konzentrierte. Es geht ihm nicht um Dokumentation des Einzelnen, des Details, sondern um die Wiedergabe eines Eindrucks, um die Erinnerung an die Atmosphäre.

 

 

Diese wird im Fall von "Bonneville" durch ein ganz spezielles Licht geprägt, ein Licht, das starke Kontraste hervorbringt, die aber immer farbig bleiben. Bei Malern wie Jacob Philipp Hackert tendieren die Schatten in Richtung Schwarz - anhand der Reproduktionen ist dies nur schwer zu beurteilen -, doch bei William Turner sind die Schatten abgeschattete Farben, die zugleich starke Hell-Dunkel-Kontraste aufweisen, ein Phänomen, das er möglicherweise direkt der Natur abeschaut hatte. (Anm. 3)

Darüber hinaus aber ergibt sich der spezielle Eindruck dieses Bilds auch durch das Motiv und seine Transformation in Malerei. In diesem Fall bildet das Hauptmotiv das Massiv des Mont Blanc, aus der Richtung von Genf aus gesehen. Dabei ist der Mont Blanc nicht die grau-blaue Gebirgsformation, die wir hinter und neben dem Ort Bonneville aufragen sehen. Stattdessen erhebt er sich hinter diesen Bergen in hellen Farben, fast weiß. Was wir auf den ersten Blick - und vielleicht bis zu diesem Zeitpunkt unserer Betrachtung - für helle Schönwetterwolken halten, sind in Wirklichkeit die schneebedeckten Gipfel des Mont Blanc!

Noch dazu weichen diese nicht etwa, wie das in vielen Landschaftsbildern geschieht, nach hinten aus, verlieren sich nicht im fernen Dunst, um einem weiten Himmel Raum zu geben, vielmehr rücken sie nach vorn, auf den Betrachter zu, sobald sich dieser darauf einlässt, dass es sich eben nicht um Wolken, sondern um das Gebirgsmassiv handelt.

 

Das mag nun nicht allein ein künstlerischer Trick, die Wirkung einer besonderen, künstlerischen Transformation sein.

 

Mont Blanc, Blick von Genf, Fotographie (Postkarte), um 1920/30

 

Auf alten Postkarten stellt sich eine ganz ähnliche Wirkung ein: Darauf überragt das Mont Blanc-Massiv die umliegende Gebirgswelt wie eine zweite Realität, eine "zweite Welt", die zugleich andere Dimensionen hat. Die "erste Welt" mit den deutlich dunkleren Gebirgszügen im Mittelgrund wäre eigentlich bereits ausreichend für ein pittoreskes Landschaftsbild. Gepaart mit einem hohen Himmel würde sich bereits eine wunderschöne Vedute ergeben. Der schneebedeckte Mont Blanc tritt zu dieser Welt hinzu und überragt sie mit einer kaum (er-)fassbaren Erhabenheit.

 

William Turner fand dieses Phänomen ganz offensichtlich in der Natur vor, als er sich auf seiner ersten Reise auf den Kontinent zwischen Juli und Oktober 1802 von Genf aus dem Mont Blanc näherte. (Anm. 4) Aber er bildete die Natur nicht einfach ab, so wie es beispielsweise ein Touristenfoto tun würde. Stattdessen unterzog er es einer Verwandlung, die einerseits den akademischen Regeln entsprach; so komponierte er das Bild nicht nur bewusst, er eliminierte auch alle störenden Elemente, beispielsweise Spuren von Handel, Gewerbe, Industrialisierung etc.; andererseits aber - und das war es, was das eigentlich Neue an seiner Kunst darstellte - bemühte er sich darum, das Bild einen Eindruck dessen vermitteln zu lassen, was er im Angesicht dieser großartigen Landschaft empfunden hatte.

 

 

Er greift also in den Anblick der Natur so ein, dass das Bild die Wirkung der Natur noch einmal steigert - was angesichts der Erhabenheit und Gewalt des Mont Blanc-Massivs an Blasphemie grenzen mag, jedenfalls auf einer nur 91,5 x 122 Zentimeter großen Leinwand kaum gelingen dürfte. Entsprechend versucht Turner nicht, den Mont Blanc noch spektakulärer darzustellen, als er in Wirklichkeit ist, stattdessen entrückt er ihn, macht ihn unwirklicher und geheimnisvoller, wie sich gerade im Vergleich mit der oben gezeigten Postkarte nachvollziehen lässt.

Turner rückt den Berg in die Nähe einer Vision. Er verwebt ihn mit dem Himmel, so dass die Grenzen zwischen beiden nicht mehr in jedem Fall zu bestimmen sind. Der Himmel verliert etwas von seinem Blau, der Schnee etwas von seinem Weiß und das Grau eines Farbflecks ganz knapp links der Mittelachse korrespondiert so sehr mit dem Grau einer Wolke am oberen Bildrand, dass sich der Eindruck ergibt, auch dieser Fleck zeige möglicherweise eine Wolke, die sich um den Gipfel des Bergs gelegt hat. Farbe und Form könnten sowohl Himmel - eine Wolke - oder den Berg bezeichnen.

 

Was Turner hier tut, ist also, einen Natureindruck aufzunehmen und seine Wirkung in einer ganz bestimmten Weise herauszuarbeiten, indem er alles weglässt, was diesen Eindruck stören würde, und stattdessen gezielt alle jene Elemente verstärkt, durch die die Wirkung ursprünglich hervorgerufen wurde.

 

Turner hat dieses Anliegen viele Jahre später einmal in folgende Worte gefasst: Damals, 1842, ging es um das Bild Schneesturm. Ein Dampfer vor einer Hafeneinfahrt gibt Signale in der Untiefe ..., das Turner gemalt hatte, nachdem er selbst, auf eigenen Wunsch an den Mast gebunden wie Odysseus angesichts der Sirenen, einen Sturm auf dem Schiff Ariel vor der Hafeneinfahrt von Harwich, Essex, erlebt hatte.

 

Während der Ausstellung des Bilds im Rahmen der jährlichen Akademieausstellung hatte eine Besucherin, die nicht an die Betrachtung von Kunst gewöhnt war, dieses Bild mehr als alle anderen Bilder angesprochen, weil es sie dazu animierte, an eigene Erlebnisse zu denken. Auf dieser Grundlage hatte sie sehr viel mehr über das Bild sagen können als ein professioneller Kunstkritiker.

 

Als Turner von dieser Reaktion hörte, sagte er, gewissermaßen von allerhöchster Warte die Richtigkeit und Berechtigung dieses rein intuitiven Zugangs bestätigend:

 

"Ich habe es nicht gemalt, damit es verstanden würde, sondern weil ich zeigen wollte, wie solch ein Schauspiel aussieht." (Anm. 5)


Anmerkungen

(1) Andrew Wilton, Turner und seine Zeit, München 1987, S. 159.

(2) Carl Rottmann (1797-1850), Carl Blechen (1798-1840), Ludwig Richter (1803-1884), Camille Corot (1796-1875).

(3) Turner kannte noch nicht jene Farbtheorien, die den Impressionisten später die Komplementärfarbe der Lokalfarbe als Farbe des jeweiligen Schattens vorgaben, so dass der Schatten einer gelben Fläche beispielsweise blau wiedergegeben wurde. Stattdessen verwendet er für den Schatten die jeweilige Lokalfarbe in verdunkelter Form.

(4) Turner war vom 15. Juli bis Mitte Oktober 1802 unterwegs. Er reiste durch Frankreich und die Schweiz, kehrte über Paris nach London zurück; vgl. Wilton 1987 (wie Anm. 1), S. 85.

(5) Wilton 1987 (wie Anm. 1), S. 232.