Eine Marienstatue aus dem 12. Jahrhundert im Augustinermuseum in Freiburg im Breisgau
(Archiviert) Die Räumlichkeiten des Augustinermuseums in Freiburg i.Br. sind derzeit so beengt, dass längst nicht alle Kunstwerke ausgestellt sind. Vor einigen Jahren wurde extra ein großes, Zentrales Kunstdepot (ZKD) im Gewerbegebiet Hochdorf gebaut, um auch die in absehbarer Zeit nicht ausstellbaren Werke zugänglich zu machen. Und selbst im Keller des Museums lagern noch Werke, die sich anzuschauen lohnt.
Dazu gehört beispielsweise eine nur 12,5 cm große, bemalte (= farbig gefasste) Holzskulptur der Muttergottes mit Christus auf ihrem Schoß, die immerhin bereits aus der Zeit zwischen 1175 und 1200 stammt. (Anm. 1) Sie gehört eigentlich dem Erzbischöflichen Diözesanmuseum Freiburg, das seine Werke aber als Dauerleihgabe den Städtischen Museen Freiburg anvertraut hat.
An dieser kleinen Statuette lässt sich nicht zuletzt etwas über die Darstellungen der Muttergottes überhaupt sagen. Immerhin hat (auch) dieser Darstellungstypus eine bewegte Geschichte innerhalb der Abendländischen Kunstgeschichte, und auch diese Art der Darstellung Mariens zeigt häufig nicht das, was der unbedarfte, an neuzeitlicher und moderner Kunst geschulte Betrachter darin zu sehen meint. Auch an ihr wird deutlich, welcher Unterschied zwischen der Kunstauffassung des Mittelalters und unserer Gegenwart (seit dem Beginn der Moderne um 1800) tatsächlich besteht.
Das Freiburger Figürchen zeigt eine sehr aufrecht sitzende Frau in einem offenbar grünen Gewand und einem roten Umhang, die auf ihrem Kopf eine massige Krone trägt. Auf ihrem Schoß sitzt die noch wesentlich kleinere Figur eines Kinds - wir wissen, dass es sich um Christus handeln muss -, das sie mit geradezu spitzen Fingern dem Betrachter zu präsentieren scheint. Diese kleine Figur sitzt allerdings so weit vorn auf den Knien Mariens, dass sie im nächsten Augenblick herrunterzurutschen droht.
Schon beim ersten Blick merken wir, dass unsere Gewohnheiten beim Betrachten und Deuten von solchen Figuren hier an ihre Grenzen stoßen. Beide Figuren wirken in ihrer Gesamtform zwar elegant, aber dafür wenig wirklichkeitsgetreu. Der Kopf Mariens wirkt für den schmächtigen Körper zu groß - die Schultern viel zu schmal! -, die Hände sitzen zu weit unten, anatomisch sind die dazugehörigen Arme nicht in ihre Bestandteile (Oberarm, Ellenbogen, Unterarm) zu teilen. Oberschenkel scheint der Künstler fast vollständig weggelassen zu haben. Hier 'stimmt' sozusagen nichts - jedenfalls dann nicht, wenn wir unseren auf Wirklichkeitsnähe getrimmten Blick nicht modifizieren. Immerhin entstammt das Werk einer vollständig anderen Zeit, es ist noch weit vor der Wende zur Renaissance entstanden, weit bevor man also überhaupt daran dachte, dass 'Wirklichkeitsnähe' ein Ideal der Kunst sein könnte! Immerhin befinden wir uns mit diesem Werk in jener Zeit, die Hans Belting die Zeit "vor dem Zeitalter der Kunst" nannte (Anm. 2), einer Zeit, in der es das, was wir heute als Kunst bezeichnen, so noch gar nicht gab. Kunstwerke, jedenfalls diejenigen, die aus dem christlichen Zusammenhang stammen, waren eigentlich Kultgegenstände und dienten einem entsprechenden Zweck, etwa der Meditation bzw. der Andacht. Es ging bei ihnen weder darum, eine Geschichte aus der Bibel nachzuerzählen (diese Zeit war im 12. Jahrhundert längst vorbei), noch darum, einen menschlichen Körper anatomisch richtig abzubilden - etwas, das im Übrigen ziemlich banal ist und für das, wie es John Ruskin 1843 ausdrücklich festhielt, nichts weiter vonnöten ist als "ein sicheres Auge, feste Hand und mäßiger Fleiß". (Anm. 3)
Ikonographie - Blick zurück in die Geschichte der Kunst
Bis Maria, nicht nur als Motiv für die Kunst, sondern überhaupt als Person innerhalb des Neuen Testaments in den Fokus der Christen geriet, mussten zunächst erst einmal einige Jahrhunderte vergehen. Und selbst noch in der Frühzeit der Marienverehrung spielte Maria selbst - also gewissermaßen um ihrer selbst willen - nur eine untergeordnete Rolle. Als im Jahr 431, also fast 400 Jahre nach dem Tod Jesu von Nazareth, auf dem Konzil von Ephesus auch die Mutter dieses Jesus Christus, des Erlösers, des Sohnes Gottes, in den Blick der Theologen geriet, stand sogleich auch die Frage im Raum: Wenn Christus Gottes Sohn und damit Gott ist - ist Maria dann nicht eine Göttin? Es war dringend notwendig, ihren Status zu klären, damit die Menschen der Spätantike angesichts der unübersichtlichen Situation nicht wieder in eine Vielgötterei zurückkehrten, indem sie neben Gottvater, Gottsohn (und dem Heiligen Geist) nun auch noch eine "Gottmutter" verehrten. Also einigte man sich darauf, dass sie nicht Göttin, sondern nur "Gottesgebährerin" (griechisch: theotokos) sei. Eigentlich ging es hier allerdings um die Frage, welchen Status dieser Christus eigentlich hat, da er doch als Mensch auf der Erde gelebt hatte und zugleich Gott sein sollte, aber eben auch nicht einer von drei Göttern, sondern ein Teil des einen Gottes, zugleich ganz Gott und ganz Mensch ... - eine schwierige Frage, zu der die Frage nach seiner Mutter nur ein Nachfolgeproblem, eine Zusatzfrage war.
Die offizielle Argumentation lautete nun: Wenn Jesus Christus Gott war, dann musste Maria, da sie nicht Göttin sein durfte, 'Mutter Gottes' sein.
Die Darstellungen dieser Muttergottes in der abendländischen Kunst lassen diesen Konflik um ihren korrekten, theologischen Status in unterschiedlicher Deutlichkeit erkennen. Im Grunde ist für die frühen Darstellungen der "thronenden Muttergottes mit Kind" diese Bezeichnung - "thronende Muttergottes mit Kind" - wieder einmal irreführend. Die entscheidende Frage ist hier nämlich, wer eigentlich thront. Handelt es sich dabei wirklich um eine 'thronende Muttergottes'? Thront wirklich sie?
Huldigung der Sterndeuter, 432/40; Rom, S. Maria Maggiore, Triumphbogen (Mosaik)
Tradition 1
Als unmittelbar nach dem Konzil von Ephesus zwischen 432 und 440 dieses Mosaik am Triumphbogen der Kirche S. Maria Maggiore in Rom entstand, wurde diese Frage ausdrücklich beantwortet. Ja, Maria thront. Zumindest sitzt auch sie, aber sie bildet eindeutig nur die Assistenzfigur neben dem eigentlichen Thron und dem eigentlich Thronenden: Christus. Dass er als Knabe dargestellt ist, hängt mit dem erzählerischen Zusammenhang der Huldigung der Magier aus dem Morgendland (die späteren 'Heiligen Drei Könige') zusammen, aber auch als solcher ist er keineswegs kindlich dargestellt, schon gar nicht als hilfloser Säugling. Und so wird es auch lange Tradition bleiben: Schon im Augenblick der Verehrung durch die Sterndeuter respektive der Heiligen Drei Könige ist er rex regum, König der Könige, der Herrscher der Welt. Als solcher thront er (und die Sterndeuter/Heiligen drei Könige stehen vor ihm).
Auffällig an dem Figürchen in Freiburg, das seiner Größe wegen sicher aus einem privaten Kontext stammt – vielleicht stand es in einem Privathaus auf einer Art Hausaltärchen –, ist die statische Haltung vor allem der Marienfigur. Sie sitzt kerzengerade da und hält das Kind auf ihrem Schoß, als wollte es dieses vorzeigen. Jede Form von mütterlicher Zuwendung ist strikt vermieden.
Tradition 2
Tatsächlich gibt es solche Darstellungen mütterlicher Zuwendung im Abendland zu dieser frühen Zeit noch nicht. Auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage, warum das so ist, warum also beide Figuren so steif dasitzen ohne jeden Ansatz einer glaubwürdigen Mutter-Kind-Beziehung, stoßen wir auf die berühmte Madonna des Presbyters Martinus im Berliner Bode-Museum.
Madonna des Presbyters Martinus (Sedes sapientiae), Mittelitalien, 1199; Berlin, Bode-Museum, Skulpturensammlung
Hier stoßen wir nicht nur auf eine ganz ähnliche Art der Darstellung - vor allem die auffallend steife Haltung und die gänzliche Verweigerung jeder Art von Mutter-Kind-Beziehung, sondern wir stoßen an ihrem Fuß sogar auf eine Inschrift, an der die Darstellung ausdrücklich gedeutet wird.
Die Füße der Gottesmutter ruhen auf einer kleinen Bank, die auffälligerweise von nur wenig stilisierten Löwen getragen wird, und noch darunter hat sich eine Inschrift erhalten:
in gremio matris fvlget sapientia patris
„Im Schoß der Mutter strahlt die Weisheit des Vaters“
Damit stoßen wir auf eine zweite Tradition, die sich nach derjenigen des thronenden Weltenherrschers, wie wir sie in Santa Maria Maggiore gesehen haben, herausgebildet hat und die das Figürchen in Freiburg offensichtlich - wie es die Form der Skulptur offenbart - noch mehr geprägt hat als die herrschaftliche Bedeutung der Darstellung des 5. Jahrhunderts.
Diese zweite Tradition, die durch die Verwendung der Löwen ausdrücklich angesprochen wird, geht diesmal auf das Alte Testament zurück, auf die Geschichte des legendären Königs Salomo, des Erbauers des Ersten Tempels auf dem Jerusalemer Tempelberg. Dieser König Salomo galt aufgrund seiner eigenen Bitte (Anm. 4) und wie es die Geschichte vom Salomonischen Urteil illustriert (Anm. 5) als buchstäbliche Verkörperung der Weisheit Gottes.
Die christliche Frömmigkeitsgeschichte verstand ihn darüber hinaus als Präfiguration, also als Vorverkörperung Jesu Christi, der – nun unmittelbar – fleischgewordenen göttlichen Weisheit. Salomo verkörperte damit im Alten Testament einen Teil dessen, was Christus im Neuen Testament verkörperte, nämlich den Aspekt der in einem Menschen wohnenden, von Gott selbst stammenden Weisheit.
Was Salomo also im Alten, das ist Christus im Neuen Testament. Und wie Salomo auf einem aufwändig geschmückten Thron sitzt, der im Alten Testament detailliert beschrieben wird (Anm. 6), so sitzt auch Christus auf einem Thron. Herausragendes Merkmal des im Alten Testament beschriebenen, aus Elfenbein angefertigten, mit Gold überzogenen, salomonischen Throns sind die sechs Stufen, die zu ihm hinaufführen, und vor allem anderen die Löwen, die neben den Armlehnen und zu beiden Seiten der Stufen stehen.
Der Thron der Madonna des Presbyters Martinus folgt dieser Beschreibung der mittelalterlichen Kunstauffassung zufolge recht genau: er ist mit Gold überzogen, zu ihm führen sechs Stufen hinauf und die Löwen sind zu Füßen der Muttergottes zumindest angedeutet.
Indessen thront hier - und dies ist nun die entscheidende Wendung, die zur eigentlichen Deutung dieser Skulptur (und mit ihr aller, die demselben Typus angehören) führt - nicht etwa Salomo, sondern Christus, der ‚neue Salomo‘, und es wird unmittelbar deutlich, dass Maria, die „Gottesgebärerin“, hier nicht gleichfalls selber thront, sondern vielmehr Teil des Throns ist - Teil des "Throns Salomos". So wie sie Christus auf ihrem Schoß sitzen lässt und ihn präsentiert, bildet sie selbst den lebendigen, von Gott auserwählten Thron für diesen ‚neuen Salomo‘, der die Mensch gewordene Verkörperung der göttlichen Weisheit ist. Und entsprechend lautet der zeitgenössische Fachausdruck für diesen Typus der Christus-Maria-Figur Sedes sapientiae, zu deutsch: „Sitz der Weisheit“.
Eben diesem Typus folgt auch das Figürchen im Augustinermuseum. Darauf weisen die aufrechte, steife Haltung Mariens, genau frontal zum Betrachter, und die entsprechende Haltung des Christus-Knaben hin, der nicht etwa als Kind dargestellt ist, sondern als Verkörperung der göttlichen Weisheit, und als solche gerade in dieser Frühzeit häufig eine Schriftrolle in der (in diesem Fall nicht erhaltenen) Hand hält.
Es geht also bei dieser so genannten Marienfigur, die häufig als "Thronende Muttergottes mit Kind" bezeichnet wird, tatsächlich nicht um die Darstellung einer Mutter-Kind-Beziehung. Eine solche wird in der abendländischen Kunst erst seit dem fortschreitenden 13./14. Jahrhundert thematisiert, als eine zunehmende Emotionalisierung der Frömmigkeit stattfindet. Und es geht auch nicht in erster Linie um Maria, die Muttergottes. Aus diesem Grund aber ist auch hier der 'offizielle' Name der Skulptur irreführend: eigentlich dürften wir die kleine Figurengruppe nicht ‚Thronende Muttergottes mit Kind‘ nennen, sondern wir müssten sie beispielsweise als ‚Die göttliche Weisheit auf dem Thron Salomos‘ bezeichnen, oder als ‚Christus als göttliche Weisheit‘ oder, schlicht, Sedes sapientiae, „Sitz der Weisheit“, so wie seit langer Zeit der Fachbegriff innerhalb der kunsthistorischen Forschung lautet. Denn in Wirklichkeit sehen wir einen thronenden Christus, den 'neuen Salomo', die Mensch gewordene, göttliche Weisheit.
Anmerkungen
(1) Detlef Zinke, Meisterwerke vom Mittelalter bis zum Barock im Augustinermuseum in Freiburg i.Br., Freiburg/Berlin/München 2010, S. 30.
(2) Hans Belting, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1990.
(3) John Ruskin, Modern Painters, Bd. 1 (1843); zit. nach: John Ruskin, Moderne Maler, Bd. 1/2. Im Auszug übersetzt und zusammengefasst von Charlotte Broicher (= John Ruskin. Ausgewählte Werke in vollständiger Übersetzung 11/12), Leipzig 1902, S. 47.
(4) Bibel: Erstes Buch Könige, Kapitel 3, Verse 2–15: Gott erscheint Salomo, den er liebt, und fordert ihn auf, eine Bitte zu äußern, die er ihm erfüllen wird. Salomo bittet: „Verleih […] deinem Knecht ein hörendes Herz, damit er dein Volk zu regieren und das Gute vom Bösen zu unterscheiden versteht.“ Gott antwortet: „Weil du gerade diese Bitte ausgesprochen hast und nicht um langes Leben, Reichtum oder um den Tod deiner Feinde, sondern um Einsicht gebeten hast, um auf das Recht zu hören, werde ich deine Bitte erfüllen. Sieh, ich gebe dir ein so weises und verständiges Herz, dass keiner vor dir war und keiner nach dir kommen wird, der dir gleicht.“ Reichtum und Ehre bekommt er ungebeten noch dazu.
(5) Bibel: Erstes Buch Könige, Kapitel 3, Verse 16–28: Zwei Dirnen, die gemeinsam in einem Haus wohnten, stritten um ein Kind; beide behaupteten, dass es das ihre sei. Als Salomo gebeten wurde, zu entscheiden, welche von ihnen es bekommen solle, befahl er, das Kind in der Mitte zu zerteilen und jeder der Frauen eine Hälfte zu geben. Daraufhin verzichtete die eine von beiden auf die ihr zustehende Hälfte und erwies sich auf diese Weise im Urteil Salomos als die wahre Mutter.
(6) Bibel: Erstes Buch Könige, Kapitel 10, Verse 18–20.