Giotto und der Stein

(Archiviert) Mimesis - die Nachahmung der 'Natur', vielmehr: der äußerlich sichtbaren Wirklichkeit. In den Augen vieler Menschen entscheidet vor allem in der älteren Kunst sie über die 'Qualität' eines Kunstwerks: Ein Porträt sei 'gut', so meinen viele Leute, wenn das Bild möglichst weit dem Abgebildeten entspricht, wenn das Dargestellte 'erkennbar' ist; aber es habe 'Mängel', wenn der Hals zu lang geraten ist, die Augen eine andere Farbe haben oder das Gesicht ganz einfach anders auszusehen scheint.

 

Dabei haben diese Kriterien in der überwiegenden Zeit der immerhin mehr als 1200 Jahre währenden Geschichte der abendländischen Kunst nur eine untergeordnete Rolle gespielt; sie prägten nicht die mittelalterliche Kunst (8./9. - 15. Jahrhundert) und auch nicht jene der Moderne (um 1800 - ca. 1950) oder der Postmoderne (seit ca. 1950). In der Neuzeit (15. - 18. Jahrhundert) erlebten sie allerdings ihren Höhepunkt, vor allem an deren Beginn.

 

Dies lässt sich nicht zuletzt aus den erhaltenen, schriftlichen Quellen herauslesen und - selbstverständlich nur mit Vorbehalten - sogar an einer einzelnen Person festmachen, mit der eigentlich, wenn wir nicht auf den allgemein gültigen Epocheneinteilungen bestehen, die Neuzeit in der abendländischen Kunst- und Kulturgeschichte beginnt.

 

Giotto di Bondone, Kruzifix bzw. Tafelkreuz, 1290-1300; Florenz, Sta. Maria Novella 

 

 

 

In seinen "Lebensbeschreibungen der berühmtesten Maler, Bildhauer und Architekten" beschrieb der Maler und Kunsthistoriker Giorgio Vasari (1511-1574) ganz zu Beginn das Leben des Giotto di Bondone (1267 oder 1276-1337). 

Giotto gehört noch nicht in die Reihe der Renaissance-Maler, die unserem Schulwissen über die Renaissance zufolge erst am Beginn des 15. Jahrhunderts, etwa mit Masaccio (1401-1428), beginnt. Aber Vasari, zu dessen Lebenszeit sich dieses 'Schulwissen' erst langsam zu formen begann, sieht dies anders: In seinen "Lebensbeschreibungen" beginnt mit Giotto ganz ausdrücklich ein neues Zeitalter in 

der abendländischen Kunstgeschichte: die Wiederentdeckung der über lange Zeit vergessenen, "richtige[n] Mal- und Zeichenkunst."

Er schreibt: 

"Nachdem die richtige Mal- und Zeichenkunst so viele Jahre lang gleichsam unter Kriegstrümmern begraben gelegen, vermochte er [Giotto], obwohl noch inmitten von ungeschickten Handwerkern geboren, dank der ihm vom Himmel verliehenen Gaben die fast erstorbene Kunst ganz aus sich allein heraus neu zu beleben und auf eine Höhe zu bringen, die vorzüglich genannt werden darf. Es ist wahrhaftig ein großes Wunder, dass jenes rohe und ungebildete Zeitalter imstande war, in Giotto solche Erkenntnisse hervorzurufen, dass die Gesetze der Malerei, von denen die damaligen Menschen nur wenig oder gar nichts wussten, durch seine Tüchtigkeit wieder zum Leben erweckt wurden." (Anm. 1)

 

Zum Verständnis und zur richtigen Einordnung dieser Stelle ist es nützlich, im Bewusstsein zu behalten, dass wir es hier nicht etwa mit einer modernen, wissenschaftlichen Schrift zu tun haben, sondern mit dem erstmals 1550 erschienenen Buch des "Vaters der Kunstgeschichte", der voller Verachtung auf das Mittelalter - "jenes rohe und ungebildete Zeitalter" zwischen Antike und Renaissance - herabsah und in der Renaissance die Rückkehr zu einer vollendeten Kunst erkannte.

 

Das Mittelalter, dem Vasari noch den damals berühmten und hoch angesehenen Lehrer Giottos, Giocanni Cimabue (um 1240 - ca. 1302), zurechnete, bedeutete für ihn, wie er schrieb, eine "unendliche Flut von Unheil, die [...] dem unglückseligen Italien alle Lebensluft geraubt hatte" und in dem "nicht nur die kunstvollen Bauwerke [jene der Antike] zerstört" worden waren, "sondern, was noch viel schlimmer war, es gab auch keine Künstler mehr." (Anm. 2)

 

Den ersten Schritt aus diesem 'düsteren Zeitalter' heraus erkannte Vasari bereits eben bei Cimabue, der "nach dem Willen Gottes das Licht der Malkunst neu entzünden sollte." (Anm. 3)

 

Cimabue, Kruzifix, wohl um 1275/80; Florenz, Santa Croce

 

 

Cimabue, künstlerisch selbst der mittelalterlich-byzantinischen (bei Vasari: der 'griechischen') Tradition verhaftet - allerdings bereits mit Ansätzen zu einem Neubeginn in der Kunst - wird es dann sein, der Giotto entdeckt!

 

Vasari berichtet:

"[...] musste Cimabue [...] ein großes Kruzifix auf Holz malen, das noch jetzt in der Kirche [S. Croce] zu sehen ist. Diese Arbeit ward zur Veranlassung, dass der Vorsteher, der damit sehr zufrieden war, ihn nach seinem Kloster S. Francesco in Pisa schickte, um ein Bild des heiligen Franziskus zu malen, welches dort als ein seltenes Kunstwerk geschätzt wurde, da man in seiner Art, den Ausdruck der Gesichter und die Falten der Gewänder darzustellen, etwas Neuartiges und Besseres erkannte als in den Malereien nach griechischer Manier, in welcher damals alle Künstler nicht nur in Pisa, sondern in ganz Italien arbeiteten." (Anm. 4)

 

Cimabue nun kommt, wie Vasari weiter berichtet, zufällig in die Nähe von Vespignano nördlich von Florenz und findet einen

 

"kleinen Hirtenjungen [...], der sich, während seine Schafe grasten, eine saubere, glatte Steinplatte ausgesucht hatte und darauf mit einem spitzen Stein ein Schaf nach dem Leben zeichnete, was ihn einzig sein natürlicher Instinkt gelehrt hatte. Cimabue blieb verwundert stehen und fragte ihn schließlich, ob er mit ihm kommen und bei ihm lernen wolle, worauf der Knabe antwortete, wenn sein Vater es zufrieden sei, wünsche er sich nichts Besseres.

[... Daraufhin] zog Giotto mit nach Florenz, wo er nicht nur in kurzer Zeit die Kunst seines Meisters erlernte, sondern auch die Natur so getreu nachzubilden verstand, dass er die unbeholfene griechische Manier völlig überwand. Er erweckte die richtige, gute Malkunst, wie sie jetzt wieder allgemein geübt wird, zum Leben und führte aufs neue die Methode ein, Menschen nach lebenden Modellen zu zeichnen, die über zwei Jahrhunderte lang vergessen gewesen war." (Anm. 5)

 

Giotto di Bondone, Auferweckung des Lazarus (Detail), zwischen 1300 und 1305; Padua, Capelle di Scrovegni/Arenakapelle

 

An dieser Passage ist Vieles bemerkenswert. Vor allem aber wird hier ein Paradigmenwechsel deutlich: Während noch Cimabue, wie die gesamte vorhergehende Tradition der Malerei, ihre eigene Malerei weitgehend an den Vorbildern der byzantinischen Künstler ausrichtete - an Cimabues Kreuzigungstafel in Santa Croce (Abbildung oben) ist unschwer die byzantinische Ikonenmalerei wiederzuerkennen -, revolutioniert Giotto die Kunst, indem er sich nicht mehr in der damals üblichen, künstlerischen Tradition an der Kunst, sondern an der Natur orientiert: nicht mehr Kunstkopie, sondern Nachahmung der Natur (= Mimesis) wird die Richtschnur seiner Malerei.

 

Das ist an seinen Figuren unschwer zu erkennen und Vasaris Begeisterung ist nachvollziehbar, wenn man sie mit den älteren, im Vergleich durchweg hölzern und unbewegt wirkenden Darstellungen vergleicht.

 

Giotto di Bondone, Begegnung Joachims und Annas unter der 'Goldenen Pforte', zwischen 1300 und 1305; Padua, Capelle di Scrovegni/ Arenakapelle

 

 

 

Die Fresken in der so genannten Arenakapelle in Padua sind dafür ein aussagekräftiges Beispiel. Sowohl die schockierte Überraschung der Zeugen der Auferweckung des Lazarus (Abbildung oben), als auch die Zärtlichkeit der Wiederbegegnung der Eltern Marias einschließlich der unterschiedlichen Reaktionen auf den 'Skandal' dieser Wiederbegegnung sind in den Bildern emotional nachvollziehbar, was bis zu diesem Zeitpunkt um 1300 in der Malerei undenkbar gewesen war. Für Vasari, den manieristischen Maler in der Zeit der Spätrenaissance, ist dies aber gewissermaßen die Grundlage jener 'modernen' Entwicklung der Kunstgeschichte, der er selbst als Spätrenaissance-Maler noch angehört. (Anm. 6)

 

Der Paradigmenwechsel oder, wenn wir so wollen, die Epochenschwelle, die hier deutlich wird, ist also gekennzeichnet durch die Hinwendung der Kunst zu einem Ideal, das vorher so nicht bekannt gewesen war: dem Ideal der Mimesis.

 

Es ist wichtig, sich dies klarzumachen, denn daraus ergeben sich verschiedene, folgenreiche Schlussfolgerungen, die unser Bild auf die jeweilige Kunst verändern können:

  • Einerseits heißt dies, dass sich die Renaissance-Kunst maßgeblich über die Mimesis, also dem Streben nach möglichst konsequenter Nachahmung der Natur durch die Kunst auszeichnet. Dies gilt gerade für die Frührenaissance, die über jene künstlerischen Mittel hinaus, die Giotto entwickelt, auch noch jene Regeln erfinden wird, die mittels ausgeklügelter, mathematischer Konstruktion eine wirklich überzeugende Raumillusion ermöglichen wird.

Masaccios "Dreieinigkeits"-Fresko, das sich in derselben Kirche in Florenz befindet wie Giottos oben gezeigtes Tafelkreuz, gilt im Schulwissen als das erste Renaissance-Bild, zudem als erstes Bild, das die von Brunelleschi entwickelten mathematischen Regeln der Linearperspektive anwendet.

Aber es ist erst etwa 120 Jahre nach Giotttos Werken entstanden!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Masaccio, Dreieinigkeit, 1427; Florenz, Santa Maria Novella

  • Andererseits weist dieser Paradigmenwechsel darauf hin, dass das so genannte Mittelalter, dem häufig handwerklich-künstlerische Unvollkommenheit oder sogar Unfähigkeit vorgeworfen wird, die Mimesis tatsächlich durchaus nicht als Ideal ansah! Eine  wirklichkeitsgetreue Nachahmung der Natur, die wir häufig unreflektiert als 'Qualitätsmerkmal' für Kunst ansehen, wurde zu diesem Zeitpunkt de facto also gar nicht angestrebt! Die Kunst dieser Zeit diente stattdessen ganz anderen Zwecken, die mit den aus heutiger Sicht an Kunst angelegten Maßstäben nicht viel zu tun hatten.

Giotto also und seine Zeichnungen auf einem Stein um 1280/90, in denen er Tiere nach der Natur darstellte, markieren jenen Punkt innerhalb der abendländischen Kunstgeschichte, an dem möglicherweise zum ersten Mal konsequent und mit nachhaltigen Folgen (Anm. 7) danach gestrebt wurde, auf der Malfläche die Illusion von Wirklichkeit herzustellen. Erst jetzt, seit der Zeit um 1300 also, beginnen die Maler, sich bei ihren Darstellungen an der Wirklichkeit zu orientieren. Cimabues Erstaunen beim Anblick des auf einen Stein zeichnenden Hirtenjungen macht diesen Schritt auf beeindruckende und höchst anschauliche Weise deutlich.

 


Anmerkungen

(1) Giorgio Vasari, Lebensläufe der berühmtesten Maler, Bildhauer und Architekten. Aus dem Italienischen übersetzt von Trude Fein. Nachwort von Robert Steiner, Zürich 1974, S. 41. - Vgl. die neue Übersetzung der "Lebensläufe" von Victoria Lorini: Giorgio Vasari, Das Leben des Cimabue, des Giotto und des Pietro Cavallini. Hg., kommentiert und eingeleitet von Fabian Jonietz und Anna Magnago Lampugnani, Berlin 2015.

(2) Vasari, Lebensläufe (wie Anm 1), S. 7.

(3) Ebd.

(4) Ebd.

(5) Vasari, Lebensläufe (wie Anm. 1), S. 42.

(6) Der Begriff 'modern' begegnet bereits im hohen Mittelalter, um eine wertende Beziehung zwischen Gegenwart und Vergangenheit herzustellen; vgl. z.B. Albert Zimmermann (Hg), Antiqui und Moderni. Traditionsbewußtsein und Fortschrittsbewußtsein im späten Mittelalter (= Miscellanea Mediaevalia 9), Berlin/New York 1974.

(7) Ansätze dazu hat es selbstverständlich schon früher gegeben. Das ist gerade an der Tradition der Darstellung von Kreuzigungen abzulesen, wobei deren so genannte Entwicklung keineswegs geradlinig und logisch im Sinn eines kontinuierlichen, künstlerich-handwerklichen Fortschritts verläuft.

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Kommentare: 1
  • #1

    Singulart (Samstag, 07 Juli 2018 16:49)

    Hallo zusammen, sehr spannender Artikel zum Thema Kunstgeschichte finde ich! Wir sind eine Online Kunstgalerie aus Paris, die jungen Künstler hilft Ihre Werke im Netz zu verbreiten. Falls Sie Interesse haben, können Sie ja mal vorbeigucken: https://www.singulart.com/de/