Die Sache mit der Theorie - Großer Gott!

 

"Wieviel Theorien habe ich nicht gemacht ... Großer Gott ..." (Anm. 1)

 

Dieser Satz stammt von Paul Cézanne (1839-1906). Überliefert hat ihn Joachim Gasquet (1873-1921), der Sohn eines Kindheitsfreunds Cézannes, Henri Gasquet.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Paul Cézanne, Joachim Gasquet, 1896; Prag, Galerie für Moderne Kunst

 

Cézanne ist ja eigentlich eher bekannt für die theoretische Durchdringung seines künstlerischen Werks. Es gibt eine Reihe von Äußerungen von ihm, die geradezu zu Klassikern moderner Kunsttheorie geworden sind.

 

"Man behandle die Natur gemäß Zylinder, Kugel und Kegel und bringe das Ganze in die richtige Perspektive, so daß jede Seite eines Objekts, einer Fläche nach einem zentralen Punkt führt." (Anm. 2)

 

Dieses Zitat gehört ebenso dazu wie

 

"Der Künstler sollte jede Meinung verwerfen, die nicht auf der einsichtsvollen Beobachtung des Charakteristischen beruht" (Anm. 3)

 

oder

 

"Nach der Natur malen bedeutet nicht den Gegenstand kopieren, es bedeutet seine Empfindungen verwirklichen" (Anm. 4),

 

wobei sowohl das erste Zitat als auch das Wort "verwirklichen" im letzten umfassende kunsttheoretische Debatten ausgelöst haben, mit denen die sprichwörtlichen Regalmeter in Bibliotheken gefüllt werden könnten.

 

Solche kunsttheoretischen Debatten bergen indessen eine Gefahr: dass wir unseren Blick auf die eigentlichen Kunstwerke allzu sehr von diesen Texten leiten lassen. Denn wir wissen ja inzwischen, wie stark Wörter und Texte unseren Blick prägen, dass unser Blick gewissermaßen kontaminiert ist, wenn wir etwas gelesen haben, das sich auf das Gesehene bezieht. Ein unvoreingenommener Blick ist dann kaum noch möglich.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Paul Cézanne, Le Mont Sainte-Victoire, 1904-1906; Basel, Kunstmuseum

 

Es fällt leicht, gerade Cézannes spätere Werke, vor allem jene, die den berühmten Mont Sainte-Victoire zeigen, mithilfe des Zitats "Man behandle die Natur gemäß Zylinder, Kugel und Kegel und bringe das Ganze in die richtige Perspektive" zu betrachten und zu deuten.

 

Allerdings sollte uns das allererste Zitat eigentlich stutzig machen. Es drückt unverkennbar ein gewisses Misstrauen dem Wort und der Theorie gegenüber aus, als wenn das Wort nicht wirklich in der Lage wäre, etwas Dauerhaftes hervorzubringen, als seien diese Theorien so zeitbedingt und beliebig, dass ihnen aus einer gewissen Distanz keinerlei Wert mehr beigemessen werden dürfte. Und schließlich bleibt diese Theorie ja auch im rein Formalen hängen, damit an der Oberfläche - so sehr, dass man sich scheut, eine Betrachtung auf ihrer Grundlage "Deutung" zu nennen. Kann es denn sein, dass der Maler wirklich nichts weiter wollte, als die 'Natur', also die sichtbare Wirklichkeit, in Zylinder, Kugeln und Kegel zu verwandeln, vielleicht um auf diese Weise klarzumachen, dass diese geometrischen Formen jeder Erscheinung in der Wirklichkeit zugrunde liegen? Ist es vorstellbar, dass Cézanne den Mont Sainte-Victoire wirklich nur aus diesem Grund gemalt hat? Und was ist dann mit all den anderen Bildern, in denen dieses theoretische Prinzip nicht ohne weiteres wiederzuerkennen ist?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Paul Cézanne, Haus von Père Lacroix in Auvers, 1873; Washington, National Gallery

 

Wie häufig aber bleiben die Deutungen der Bilder Cézannes tatsächlich in diesen formalen Äußerlichkeiten hängen - selbst dort, wo sie bei näherer Betrachtung eigentlich kaum anwendbar sind.

 

Die abendländische Kultur ist - oder war von der Renaissance bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (dem so genannten iconic turn) - eine Buchkultur, eine Kultur des Worts. Indem sie konstatierte, am Anfang sei "das Wort" gewesen, zeichnete sie sich durch eine Wertschätzung des Worts aus, die die Wertschätzung beispielsweise des Bilds weit in den Schatten stellte (jedenfalls ist es so die einhellige Meinung der Forschung). Das Wort, das in diesem Zeitraum allerdings sorgfältig gewählt und mit Bedacht gesprochen oder geschrieben wurde, galt gemeinhin als konkreter, weniger deutbar, sogar weniger vergänglich als das Bild, selbst wenn das Bild unmittelbarer auf den Geist einwirken mochte (aber dadurch machte es sich gerade verdächtig). Misstrauen dem Wort gegenüber ist erst das Produkt einer Zeit, in der das Wort eine solche Inflation erfahren hat wie in der unsrigen, so dass es heute kaum noch etwas gilt. Jemandem 'sein Wort geben' war einst ein quasi-juristischer Akt - heute gilt es eher als Indiz für eine fast sichere Lüge.

 

Dazu steht allerdings in seltsamem Widerspruch, wie wir mit Kunst umgehen. Nicht selten findet sich in diesem Zusammenhang die Vorstellung, dass wir, bevor wir uns mit einem Kunstwerk beschäftigen, zunächst einmal etwas darüber lesen müssen. Die seit den 1970er Jahren immer dicker werdenden Ausstellungskataloge - nicht selten mehrbändige Werke - sind ein vielsagender Beleg dafür. Eine 'Deutung' gar finden wir, so eine weit verbreitete Vorstellung, nicht durch eine gründliche Betrachtung des Bilds, sondern durch Informationen, die wir aus Begleittexten erhalten (denen wir zudem seltsam unkritisch gegenüber stehen).

 

Allerdings hinterlassen diese 'Deutungen' nicht selten einen schalen Beigeschmack. Das soll alles sein? Zylinder, Kugel und Kegel?

 

In Werken der vormodernen Kunst findet man gewöhnlich noch eine systematisch ausgearbeitete Aussage, vor allem wenn es um einen religiösen Bildvorwurf geht. Aber moderne Kunst erscheint nicht selten reduziert auf ihre formale Erscheinung. Und da wir so fixiert sind auf das Wort und hier ganz besonders auf die als 'authentisch' geltenden Selbstäußerungen der Künstler, wird unsere Art der Kunstbetrachtung notwendigerweise immer oberflächlicher - bis uns schließlich nicht einmal mehr auffällt (und auch nur selten zitiert wird), was Cézanne eben auch gesagt hat:

 

"Wieviel Theorien habe ich nicht gemacht ... Großer Gott ..."

 

Paul Cézanne, Das Meer bei L'Estaque, 1876; Zürich, Fondation Rau pour le Tiers-monde

 


Anmerkungen

(1) Michael Doran (Hg), Gespräche mit Cézanne. Aus dem Französischen von Jürg Bischoff, Zürich 1982, S. 150.

(2) Brief an Emile Bernard, 15.04.1904; zit. nach Doran/Cézanne 1982 (wie Anm. 1), S. 43.

(3) Brief an Emile Bernard, 12.05.1904; zit. nach ebd., S. 45.

(4) Emile Bernard, Paul Cézanne, 1904; zit. nach ebd., S. 54.

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Carl Weltwitz (Montag, 22 April 2019 12:57)

    Sehr schön beschrieben. Es gibt viel zu viele 'Gebrauchsanweisungen' für Bilder. Das Bild hier im Beitrag, Haus von Père Lacroix in Auvers, zu betrachten, tut meinem Auge einfach nur gut. Farben und Formen wirken lassen. Gedanken über Kugel, Kegel und Zylinder können, wenn überhaupt, viel später folgen. Interesseloses Wohlgefallen.

    Viele Grüße