Sieht nicht nach Kunst aus - Rudolf Dischingers 'Grammophon'

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Rudolf Dischinger, Grammophon, 1930 (Öl auf Hartfaserplatte, 77 x 62 cm); Freiburg i. Brsg., Museum für Neue Kunst

 

Das sieht tatsächlich nicht aus wie Kunst. Eher wie eine Fotographie, ein Schnappschuss. Sachlich. Und ohne Distanz, mittendrin. Man muss schon genauer hinsehen, aber selbst dann ist es nur ein allgemeiner Eindruck, der bei dem Bild an Malerei denken lässt (die Schallplatte im Vordergrund ist nicht vollkommen rund, sie hat keine Rillen). Dass es sich tatsächlich um ein Ölbild handelt, ist nur schwer zu glauben.

 

Sachlich ist an dem Bild nicht zuletzt das Motiv: Zu sehen ist ein Grammophon - nicht eines jener altertümlichen Modelle mit einem sichtbaren, großen Schalltrichter aus Metall, sondern ein so genanntes Koffergrammophon, das tragbar war, aber noch über die an seiner rechten Seite sichtbare Kurbel angetrieben wurde. Modelle dieser Art wurden seit der Mitte der 1920er Jahren gebaut und erlebten Ende der 20er Jahre ihre Blütezeit, wodurch das dargestellte Gerät zu einem ausgesprochen modernen Vertreter seiner Art auf dem Höhepunkt seiner Beliebtheit wird. Das Fach im Deckel des Grammophons, in dem Schallplatten bruchsicher aufbewahrt werden konnten, ist auf dem Bild geöffnet. Links neben dem Grammophon liegt eine weitere Platte auf der Kommode, schräg und auf der Plattenhülle liegend, als sei sie nur vorübergehend dort abgelegt worden.

 

Sachlich ist über das technische Motiv hinaus auch die Darstellungsweise: Selbst die Topfpflanzen auf den schmiedeeisernen Blumentisch wirken irgendwie steril. 

Der Blumentisch steht vor einem Fenster, dessen Gardine in der Mitte leicht geöffnet ist. Das Licht, das durch die Gardine ins Zimmer und auf die Grünpflanzen fällt, erscheint zugleich milchig und hart - milchig, da es eine leichte Färbung ins Gelbliche erfährt, hart, da es beinahe kalt die Konturen jedes einzelnen Gegenstands und Blumenblatts zur Wirkung kommen lässt und starke Hell-Dunkel-Kontraste erzeugt.

Dabei ist jedes einzelne Detail, selbst das unwichtigste, äußerst genau beobachtet und wiedergegeben - auch der Blick des Malers bzw. des Beobachters zeichnet sich durch unbeteiligte Sachlichkeit aus.

Am Motiv ist weiterhin auffällig, dass es kaum inszeniert ist - also nicht wie etwas Besonderes, das auf diese Weise seine Überführung in Kunst rechtfertigte -, sondern wie ein zufälliger Ausschnitt aus der Alltagswelt des Beobachters wirkt. Fast jeder auf dem Bild sichtbare Gegenstand ist durch den Bildrand angeschnitten, selbst das im Zentrum stehende Grammophon und die daneben liegende Schallplatte sind auf diese Weise buchstäblich an den Rand des Bilds gerückt.

Zudem wirkt der Blick durch die gewählte Perspektive zugleich sehr nahe, als könnte der Betrachter die Schallplatte von der Kommode nehmen und die zu Ende gespielte Platte auf dem Plattenteller austauschen, und seltsam entrückt, als gäbe es in Wirklichkeit keine Verbindung zwischen dem Hier vor dem Bild und dem Dort im Bild.

Dies mag nicht zuletzt damit zusammenhängen, dass der Maler dem Bild durch das Licht eine Atmosphäre verleiht, die sich von der neutralen Beleuchtung des Museumsraums stark unterscheidet: wir sehen tatsächlich wie durch ein Fenster oder eine Türöffnung in eine andere Welt, letztlich sogar in eine vergangene Zeit hinein, die, wie wir es vom Museum gewohnt sind, für uns nicht zugänglich ist, obwohl der Maler durch Perspektive und Komposition zum imaginären Betreten des Bildraums ausdrücklich einlädt (und es für den zeitgenössischen Betrachter selbstverständlich durchaus seine, also keine vergangene Zeit war).

 

Letzteres, die Einladung, geschieht sogar auf mehreren Ebenen zugleich und damit umso eindringlicher: Einerseits stellt die schrägstehende Kommode eine unmittelbare Verbindung zum Betrachterraum her, nicht zuletzt weil, um diesen Blick in den Raum hineinwerfen zu können, der Betrachter direkt neben der Kommode stehen muss. Die Kommode reicht also von ihrer optischen Wirkung her in den Betrachterraum hinein und bildet auf diese Weise den Übergang von dem Raum vor dem Bild in den Raum im Bild hinein.

Zugleich erhält der Betrachter eine Einladung, die für ihn emotional deutlich spürbar ist. Denn die Schallplatte auf dem Plattenteller des Grammophons ist an ihr Ende gekommen, die Nadel der Schalldose läuft in der letzten Rille, läuft also sozusagen leer. Die Musik ist verstummt, obwohl sich die Schallplatte weiter um sich selbst drehen mag; man meint das leise Kratzen der Nadel auf der laufenden Platte zu hören. Sie sollte also dringend ausgetauscht werden (zumal sich die Nadeln damals sehr schnell abnutzten), die nächste Platte liegt ja auch bereits ausgepackt neben dem Gerät - jemand muss es nur tun. Dass dieser "Jemand" der Betrachter ist, wird durch seine Stellung vor bzw. im Bild deutlich.

 

Ein zweiter Aspekt fällt auf: Mit der sachlichen Art der Darstellung, die er in Motiv und Malweise gewählt hat, scheint der Maler den ausdrücklichen Bezug zur Kunst geradezu zu verweigern. Wir erinnern uns: Für das 19. Jahrhundert maßgeblich hatte John Ruskin (1819-1900) Kunst als eine Form der Verwandlung der äußerlich sichtbaren Wirklichkeit bezeichnet. Durch diese solle eine Idee, eine Vorstellung, ein Gedanke sichtbar werden, der hinter der äußerlichen Form der Wirklichkeit verborgen liegt. (Anm. 1) Die Beschränkung auf die möglichst genaue Nachahmung der Natur aber sei gerade nicht ein Zeichen von Kunst, so Ruskin. (Anm. 2)

Dischinger scheint mit seiner Darstellungsweise geradezu programmatisch vorzugehen. Es hat fast den Anschein, als verweigere er sich ganz bewusst dieser Vorstellung der Verwandlung der Wirklichkeit durch eine 'hehre', die Wirklichkeit vollendende Kunst, die immer in höchstem Maße bedeutungsvoll sein, dem Menschen Ideen, Beispiele und Vorbilder vor Augen führen muss mit dem Ziel, ihn zu einem besseren Menschen zu erziehen.

 

Noch Jacques-Louis David war am Ende des 18. Jahrhunderts so vorgegangen, als er den in seiner Badewanne ermordeten Jakobiner-Führer und Anstifter zum so genannten Septembermassaker, Jean Paul Marat (1743-1793; Anm. 3), in der Pose des vom Kreuz abgenommenen Christus zum Märtyrer und damit exemplarisch zu einer Vorbildgestalt stilisiert hatte.

Für die Wahl eines Motivs und seine Umsetzung in Kunst war noch zu diesem Zeitpunkt dessen Vorbildcharakter maßgeblich gewesen.

 

 

 

 

 

Jacques-Louis David, Der Tod des Marat, 1793; Brüssel, Musées Royaux

 

Dischinger aber verweigert sich dem. In seinem Bild "Grammophon" beschränkt er sich ausdrücklich auf einen Ausschnitt eines bürgerlichen Wohnzimmers, das ganz augenscheinlich in keiner Weise exemplarisch wirken soll.

Letztlich stellt er damit sogar die Frage nach der Kunst überhaupt. Ist das dann überhaupt (hehre) Kunst, wenn das Bild ausschließlich etwas so Triviales wie ein Grammophon und ein Gestell mit Topfpflanzen in einem Zimmer mit Gardine und geblümten Tapeten zeigt? Die Tatsache, dass es sich um ein Ölbild handelt - eine 'klassische' Gattung von Kunstwerken - und zudem ein für ein Kunstwerk typisches Format hat, mag die Vermutung nahelegen, dass der Maler diese Frage gern mit 'ja' beantwortet wissen wollte. Allerdings beschränkt er seine Stellungnahme auf diese wenigen Aspekte. Letztlich lässt er die Frage also offen.

 

Gerade dies aber sind zwei Kriterien, die das Bild ausdrücklich zu einem modernen Bild machen. Dischinger versucht nicht etwa, an altertümliche Kunstkonzepte anzuknüpfen. Mit dem betont sachlichen, jede Verklärung oder ausdrückliche Stellungnahme ablehnenden Blick auf seine Umgebung und ihre Übertragung in ein Ölgemälde bietet er dem Betrachter ein Kunstwerk, dem er keine eindeutig festzulegende Botschaft unterlegt. Das Kunstwerk bleibt stattdessen offen, muss vom Betrachter selbst 'gedeutet' - heute würde man sagen: genutzt - werden.

 

Zugleich setzt er den Betrachter geradezu in Bewegung, denn je länger man das Bild betrachtet, umso größer wird die Versuchung, die Nadel von der leer drehenden Schallplatte zu nehmen und die bereitliegende Platte aufzulegen, damit die Musik weiter spielen kann. (Eigentlich sollte die Präsentation im Museum mit dem kratzenden Geräusch der Nadel unterlegt werden.)

 

Und schließlich gerät noch eine weitere Form der Prozessualität ins Bild. Denn die leerdrehende Schallplatte deutet auch auf das Vergehen der Zeit während des Arbeitsprozesses des Malens hin: Der Maler mag die Platte zu Beginn seiner Arbeit am Bild aufgelegt haben; vielleicht war es auch nicht diese Platte, sondern eine andere, beispielsweise die, die nun neben dem Grammophon liegt. Die Tatsache, dass die Platte auf dem Plattenteller abgelaufen ist, macht die Zeit sicht- und spürbar, die der Maler 'verbraucht' hat, während er das Bild malte. Er konnte sie nicht festhalten, aber auf diese Weise wird ihr Vergehen, wird sie also gewissermaßen selbst im Bild anschaulich. 

 

Das Bild "Grammophon" von Rudolf Dischinger vermittelt also nicht eine vorher festgelegte 'Botschaft'. Es lädt stattdessen dazu ein, sich für einen Moment in den 'Augenblick' (im doppelten Wortsinn) zu vertiefen. Wer dies tut, dessen Augen bleiben irgendwann unweigerlich an dem sich drehenden Plattenteller hängen, auf dem in der Stille des matt beschienenen Zimmers die Nadel der Schalldose bis in alle Ewigkeit durch die letzte Rille kratzen wird. Die Musik ist an ihr Ende gekommen, sie wird nicht von neuem beginnen. Auf diese Weise wird für den Betrachter das unwiderrufliche Verrinnen der Zeit geradezu körperlich spürbar.

Keine intellektuelle 'Botschaft' also, sondern ein Erlebnis wird ihm hier vermittelt, dem er sich aussetzen und das er miterleben kann, wenn er sich in das Kunstwerk vertieft, oder das ihm verborgen bleibt, wenn er stattdessen, wie es im Museum häufig geschieht, nur an der Oberfläche des Bilds verbleibt. Selbst dann allerdings wirft das Bild die Frage nach der Kunst auf.

 

Das Bild bietet also, ganz unabhängig davon, dass es durch seine Form fasziniert, gleich mehrere Formen des Zugangs - und eben dies macht es zu einem 'modernen' Kunstwerk: Es ermöglicht Fragen und Erlebnisse, lässt beide aber programmatisch offen.

 


Anmerkungen

(1) John Ruskin, Moderne Maler, Band 1. Im Auszug übersetzt und zusammengefasst von Charlotte Broicher, Leipzig 1902, S. 30 u.ö.

(2) „Ein Maler, der ein Naturobjekt getreulich darstellt, ist dadurch so wenig ein großer Künstler, wie ein Mensch, der sich grammatikalisch und sprachlich melodiös ausdrückt, damit schon ein großer Dichter ist. Beides sind Ausdrucksmittel, notwendige Voraussetzung der Begabung; aber noch keine Beweise der Künstlerschaft. Nicht Darstellung und Sprache an sich, sondern das, was dargestellt wird, bestimmt endgültig die Bedeutung des Malers wie des Dichters.“ Ruskin (wie Anm. 1), S. 33.

(3) Im Zuge der Französischen Revolution kam es zwischen dem 2. und 6. September 1792 vor allem in Paris zu einem Ausbruch massenhafter Gewalt, der u.a. durch Marat ausgelöst und befördert worden war und in dessen Verlauf inhaftierte Revolutionsgegner und später auch andere Gefangene, darunter katholische Priester und Ordensleute, die den Eid auf die republikanische Verfassung verweigert hatten, getötet wurden. Die Zahl der Opfer betrug vermutlich etwa 1200.

 

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