Wenn es um die Betrachtung älterer Kunst geht, beispielsweise um Kunst des Mittelalters, ist nicht selten ein Satz zu hören wie: "Der konnte das noch nicht besser." Wie so häufig, sagt dieser Satz indessen mehr über denjenigen aus, der ihn ausspricht oder -schreibt, als über das, worüber er sich auslässt.
Tatsächlich gibt es nur ganz wenige Bereiche innerhalb der Kunst von Rang - also jener Kunst, die maßgeblich für die Entwicklung der abendländischen Kunstgeschichte ist oder war -, für die dieser Satz auch nach gründlicher Prüfung seine Gültigkeit behält. Das gilt etwa für die Regeln der Linear- bzw. Fluchtpunktperspektive (auch Zentralperspektive genannt). Bevor diese Regeln im Italien des frühen 15. Jahrhunderts erfunden wurden, hatten die Künstler kaum eine Möglichkeit, auf mathematisch exakte Weise eine überzeugende Raumillusionen auf ihrer Leinwand oder Putzschicht (im Fall eines Freskos) zu erzeugen. Und erst die Erfindung der Ölmalerei, die gewöhnlich ebenfalls in das 15. Jahrhundert datiert wird, ermöglichte bestimmte, technisch erzeugte Wirkungen innerhalb der künstlerischen Darstellungen, die es vorher so nicht gegeben hatte, beispielsweise aufgrund der Durchsichtigkeit der Öl-Farbschichten.
Dies sind technische Erfindungen und Entwicklungen, die bestimmte Kenntnisse und Kompetenzen voraussetzen und die Geschichte der abendländischen Kunst in ein "davor" und ein "danach" scheiden.
Andere "Der konnte das noch nicht besser"-Behauptungen dagegen, die immer wieder zu hören sind, beruhen nicht auf solchen technischen Entwicklungen, sondern vielmehr auf unserer Annahme einer solchen Entwicklung, die meist allerdings auf der kaum hinterfragten Überzeugung fußt, die Geschichte der Kunst sei eine Geschichte der Fähigkeit der Künstler, Wirklichkeit wirklichkeitsgetreu abzubilden (Fachbegriff: Mimesis). Das ewig weiter tradierte Schlagwort, Kunst käme von Können, gehört in diesen Zusammenhang, der Kunst unreflektiert zu einem Handwerk degradiert, das in der Tat im 19. Jahrhundert obsolet geworden wäre, als die Fotographie erfunden wurde - wenn es denn stimmen würde.
Wer Kunst nach solchen Kriterien beurteilt, gerät gleich in eine ganze Reihe von Bredouillen; beispielsweise wird er kaum begründen können, warum die Mona Lisa ein größeres Kunstwerk sein sollte als beispielsweise die Kohlezeichnung, in der Dürer seine alte Mutter kurz vor ihrem Tod im Jahr 1514 geradezu schonungslos 'realistisch' dargestellt hat, obwohl diese zweifellos eher der Wirklichkeit entsprochen hat, als Leonardos Idealbild einer in Wirklichkeit vielleicht nicht ganz so idealen Frau. Das Bild der Lisa Gioconda, das sicher auch irgendetwas mit der Realität zu tun hatte, geht mit dieser ganz anders um als Dürers Kohlezeichnung, es verändert sie, statt sie mimetisch genau nachzubilden.
Albrecht Dürer, Barbara Dürer, geb. Holper (Dürers Mutter), 1514; Berlin, SMB-PK, Kupferstichkabinett
Wohlgemerkt: es geht hier nicht um die Frage, welches von beiden das schönere Kunstwerk ist - wenn es bei der Beurteilung von Kunst nur um Schönheit ginge, wäre Dürers Werk zweifellos sehr weit abgeschlagen, könnte kaum mehr als Kunstwerk bezeichnet werden.
Aber gerade an diesem Vergleich wird deutlich: Auch das Schlagwort der Schönheit taugt nicht, um Kunstwerke aller Epochen miteinander zu vergleichen - es hat in der Geschichte der Kunst Zeiten gegeben, in denen Kunst schön sein musste, um überhaupt den Anspruch erheben zu können, Kunst zu sein. In diesen Zeiten wurden die Begriffe "Kunst" und "Schönheit" ganz selbstverständlich synonym verwendet. Aber das trifft, wie wir an Dürers Bildnis seiner Mutter sehen, nicht einmal für alle Epochen vor dem Beginn der Moderne zu, geschweige denn auf die moderne Kunst.
Dieser kleine Ausflug in die Welt unhinterfragter Annahmen in Bezug auf das Phänomen Kunst sollte eigentlich nur eines deutlich machen: Viele der Kriterien in Bezug auf Kunst, die wir gewissermaßen seit unserer Schulzeit mit uns herumtragen, stimmen ganz einfach nicht. Sie sind zu einfach, zu undifferenziert und außerdem aus einem gewissen, modernen Hochmut heraus entstanden. Das "noch" in der Formulierung "Der konnte das noch nicht" suggeriert beispielsweise einen 'Fortschritt' innerhalb einer Entwicklung, der das "Danach" dem "Davor" gegenüber als überlegen erscheinen lässt und dies allein aus Gründen, die wir dieser Kunst überstülpen. Ob dies auch die Kriterien waren, die die Zeit selbst an ihre Kunst anlegte, wird dabei meist nicht gefragt.
Diese kleine Zeichnung einer Alltagsszene aus der Stube eines mittelalterlichen Schreibers stammt aus dem 12. Jahrhundert, dem so genannten Hochmittelalter also, in dem die Künstler der gängigen Vorstellung entsprechend vieles "noch" nicht kannten oder konnten. Beispielsweise kannten sie noch nicht die Regeln der Linearperspektive, was u.a. an dem Tisch am rechten Bildrand zu erkennen ist, ebenso am Schreibpult - beide verjüngen sich, wenn man sie nach diesen Regeln beurteilt, in die falsche Richtung.
Schreiber und Gehilfe; Handschrift: Augustinus, De civitate Dei, um 1140; Prag, Kapitelbibliothek
Überhaupt gibt es viele 'Fehler' in dieser Darstellung: die gesamte rämliche Disposition stimmt nicht. der Schüler, Everwinus, schwebt frei im Raum, ebenso wie Schreibpult und Tisch des Schreibers Hildebertus. Letzterer scheint auf einem thoronartigen Sitz zu sitzen, doch seine Füße ruhen offensichtlich auf einem Felsbrocken, der kaum zum Interieur eines Innenraums gehören wird. So wie es keine Räumlichkeit gibt, so haben auch die Körper keinerlei Volumen, alle Münder lächeln - was wenig zu dem Ausspruch des Hildebert: "Verfluchte Maus, oft genug bringst Du mich in Zorn - dass Gott Dich vernichte!" passen will - und schließlich ist diese 'verfluchte Maus', die eine Schale mit einem Brathähnchen vom Tisch wirft, mindestens so groß wie eine ausgewachsene Ratte.
Wieder einmal müssen wir bei genauerem Hinsehen also konstatieren, dass in diesem Bild nichts stimmt.
Aber ist es deswegen ein schlechtes Bild? Ist es deswegen minderwertige Kunst? Oder funktioniert sie nicht vielmehr nach ganz anderen Regeln als die, die wir, geschult an den Idealen der Renaissance und des Klassizismus, ganz selbstverständlich an sie anlegen?
Ich möchte an dieser Stelle nicht so weit gehen, die Zeichnung im Augustinus-Manuskript in Prag zur Mona Lisa des 12. Jahrhunderts hochzustilisieren. Aber gerade dieser letzte, von mir angesprochene Aspekt rückt sie doch in ein ganz anderes Licht, als wenn wir lediglich die scheinbaren Fehler in der Ausführung in den Blick nehmen.
Bei näherem Hinsehen fällt nämlich beispielsweise auf, mit welcher Sicherheit der Künstler seine Federzeichnung anlegt. Er verwendet ausschließlich schwarze und rote Tinte und legt mit ihr die Zeichnung beispielsweise der Gewandfalten des Schreibers Hildebertus in einer ausgesprochen eleganten Linienführung an. Dabei wird ganz deutlich, dass es ihm mehr um die Parallelität und Schönlinigkeit dieser Linienführung geht als beispielsweise um die realistische Nachbildung von Rundungen des Körpers, der von dem Gewand bedeckt wird. Diese scheinen ihn schlichtweg nicht zu interessieren. Einzelne Details wie die Schreibfeder hinter dem Ohr des Schreibers oder das Messer, das er zum Anspitzen der Federkiele benötigt, lehnen sich deutlich an die Realität an, doch gerade der Faltenwurf des Gewands zeigt, dass es dem Künstler in diesem Fall um etwas ganz anderes geht, eher um einen Duktus, einen Stil.
Das kleine Bild findet sich in einer Handschrift mit dem "Gottesstaat" (De Civitate Dei) des Augustinus, entstanden im frühen 12. Jahrhundert. Der Schreiber oder Maler, der "Hildebertus" - also wohl sich selbst - in seinem Kampf mit der räuberischen Maus zeigt, hat sich hier gewissermaßen eine 'Auszeit' genommen von der anstrengenden Arbeit des Kopierens des theologischen Texts -
"O wie schwer ist das Schreiben: es trübt die Augen, quetscht die Nieren und bringt zugleich allen Gliedern Qual. Drei Finger schreiben, der ganze Körper leidet" (Anm. 1) -
und hat, wohl zum Zeitvertreib, aus einer Laune heraus seinem Ärger in dieser schnell hingeworfenen Zeichnung Luft gemacht.
Was hier indessen so einfach und selbstverständlich aussieht, dass kaum die Eleganz der Linienführung und die Anschaulichkeit der Erzählung auffällt, ist in seiner künstlerischen Wirkung durchaus nicht selbstverständlich und alles andere als 'einfach'.
Moderne Versuche, die Anweisungen der mittelalterlichen Malanleitungen und Musterbücher gewissermaßen 1:1 umzusetzen und mit in etwa den gleichen Mitteln, die den mittelalterlichen Künstlern zur Verfügung standen, vergleichbare Ergebnisse zu erzielen, haben ergeben, dass, um ähnliche Werke zu schaffen wie jene des Hildebertus, sehr viel mehr dazugehört, als nur handwerkliches Vermögen und der Wille zur Nachahmung. Dieses handwerkliche Vermögen demonstriert auf der Zeichnung des Hildebertus sein Schüler Everwinus, der seinem Meister zu Füßen sitzt und sich im Zeichnen eines Ornaments übt.
Ähnlich geschah es in den 1990er Jahren im Zusammenhang mehrere Ausstellungen, in denen es u.a. um mittelalterliche Buchherstellung ging. Anhand der originalen Malanleitungen wurde von einschlägig ausgebildeten Handwerkern versucht, mittelalterliche Buchmalerei nachzuahmen - mit dem Ergebnis, das auch ambitionierte Versuche, die sich technisch sehr gewissenhaft an den größtenteils 500-800 Jahre alten Vorgaben orientierten, künstlerisch zu nicht viel mehr als zu unbefriedigenden Comicfiguren oder naiv anmutenden Kinderzeichnungen führte.
(Anm. 2)
Auch im Mittelalter, dessen Kunst bis vor etwa zwei Generationen noch gewöhnlich als 'primitiv' bezeichnet wurde, kam 'Kunst' eben nicht ausschließlich von 'Können'. Die Kriterien dieser Kunst waren stattdessen gänzlich andere als die, die wir heute ganz selbstverständlich an die Kunst anlegen.
Wer ein Bild wie die "Geburt Christi" im Perikopenbuch Heinrichs II., entstanden um das Jahr 1010, unvoreingenommen ansieht, wird sofort erkennen, dass es dem Maler tatsächlich nicht um eine 'realistische' Darstellungsweise ging. Er wollte nicht Wirklichkeit nachbilden. Die Art, wie er beispielsweise Architektur malt, ist nicht etwa der Versuch, ein wirkliches Gebäude detailgetreu und perspektivisch überzeugend abzubilden. Zu einer solchen Annahme kann nur kommen, wer die Kriterien der Kunst des 15. und frühen 16. Jahrhunderts an dieses 500 Jahre ältere Bild anlegt. Beispielsweise anhand der - vollkommen 'unrealistischen' - Form der Krippe, in der der 'viel zu groß geratene' Jesus-
Geburt Christi, um 1007–12; sog. Perikopenbuch Heinrichs II.; München, Bayerische Staatsbibliothek
Knabe liegt, lässt sich stattdessen überzeugend belegen, dass der Maler in den Formen einer ausgesprochen eleganten Malerei in erster Linie bestimmte Bedeutungen vermitteln wollte (die 'Krippe' als Vorausdeutung des Sarkophags bei der Grablegung Christi; nachzuweisen anhand des Bilds der 'Grablegung Christi' einige Seiten nach der 'Geburt Christi'). Kunst diente hier einem gänzlich anderen Zweck, als es der von der l'art pour l'art-Argumentation geprägte Kunstrezipient des 20. und 21. Jahrhunderts erwartet. Und selbst ihre 'unrealistisch' anmutenden Formen sind dabei keineswegs 'primitiv', was unmittelbar sichtbar wird, wenn wir die Versuche ihrer Nachahmung durch moderne Handwerker zum Vergleich heranziehen. Stattdessen zeugen sie von einem ausgeprägten, künstlerisch hochrangigen Stil, der aber eben anderen Zwecken dient, als wir sie auf der Grundlage unserer Erfahrungen von der Kunst erwarten.
Vielleicht hat Hildebertus sich bei dem Versuch, die am Käse knabbernde Maus darzustellen,
die eine Schüssel mit einem Brathähnchen vom Tisch stößt, als ausgesprochener Avantgardist empfunden, denn in dieser spontanen Randzeichnung steht tatsächlich einmal der Gedanke der Mimesis, der mehr oder weniger 'realistischen' Darstellung einer Szene aus dem Alltag bzw. der Wirklichkeit im Vordergrund. Zugleich erkennen wir, wie souverän Hildebertus auch die ungewohnten Motive wie Maus und Brathähnchen darzustellen versteht, ebenso wie die Details seines Schreibpults, des zu seinen Füßen zeichnenden Schülers und schließlich seiner selbst, wie er wütend den Schwamm, der zu seiner Schreibausrüstung gehört, auf das gefräßige Nagetier auf seinem Esstisch wirft.
Zugleich aber erstaunt die Beobachtung, dass seine Mimik in keiner Weise zu seinem wütenden Fluch zu passen scheint, den er auf den Seiten des Buchs auf seinem Pult niedergeschrieben hat. Sein Gesicht scheint eher zu lächeln, als dass es seine Verärgerung ausdrückt.
Beispiele für das gleiche Phänomen lassen sich an einigen Stellen in der Kunst dieser Zeit finden, wir haben einige von ihnen bereits im Zusammenhang des Texts Lächelnde Heilige oder wie wir uns irren können kennengelernt. Auch in diesem Zusammenhang konnten wir beobachten, dass bestimmte Gewohnheiten, die dem Kunstbetrachter der Neuzeit und der Moderne als ganz selbstverständlich erscheinen - Mimik als Ausdruck der inneren Verfasstheit einer Figur - in der Kunst früherer Zeiten weder bekannt war noch Interesse erweckte. Die Kunst dieser Zeit funktionierte ganz einfach nach ganz anderen Kriterien und Regeln, als wir sie gewohnt sind.
Würzburger Miniatur, Kreuzigung Christi, Kanonblatt, um 1300; Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum
Es geht bei dieser Kunst tasächlich nicht um Mimesis, um die wirklichkeitsgetreue Nachahmung der 'Natur' (wie wir in diesem Zusammenhang sagen). Hildebertus will uns kein psychologisches Profil seiner selbst liefern, wenn er sich selbst bei seinem Kampf mit der Maus einen so entspannten Gesichtsausdruck verleiht, ebensowenig wie der Würzburger Miniaturenmaler eine widersprüchliche, innere Haltung der Gottesmutter andeuten wollte, als er sie das Schwert, das ihr beim Kreuzestod Christi durch die Brust dringt, lächelnd empfangen lässt. Diese Kunst funktioniert nach anderen Kriterien, und wir können sie nur einigermaßen angemessen beurteilen, wenn wir uns auf diese Kriterien einlassen.
Anmerkungen
(1) Notiz des Schreibers eines westgotischen Rechtsbuchs, 8. Jahrhundert (Berlin PKB); zit. nach Vera Trost, Skriptorium. Die Buchherstellung im Mittelalter, Stuttgart 1991/2011/2016, Coverbild.
(2) Die Abbildung zeigt die mit Zinnober, Ruß, Bleiweiß und anderen Pigmenten, u.a. Grünspan, Lauch- und Petersiliensaft, einem mittelalterlichen Vorbild nachempfundene Figur eines Schreibers an seinem Schreibpult; nach: Trost 1991 (wie Anm. 1), S. 38; hergestellt durch Rainer Daiß, Heidelberg.
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