Das Prinzip des genauen Hinsehens, das der Reihe "einblicke - Kunstgeschichte in Einzelwerken" zugrunde liegt, gilt nicht nur für die Kunst. So wie auch Kunst nicht sich selbst genügt, selbst wenn sie es demonstrativ für sich in Anspruch nimmt, so gilt auch die Notwendigkeit des genauen Hinsehens weit über die Kunst hinaus.
Beispielsweise gilt es für die Sprache.
Die Sprache ist unser Werkzeug, ob im Alltag oder in hochgeistigen, abstrakten Auseinandersetzungen. Jeder Handwerker, der sein Handwerk möglichst gut beherrschen will, bemüht sich um gutes, funktionstüchtiges Werkzeug und er wird dieses Werkzeug gepflegen. Ein Landwirt, der seine landwirtschaftlichen Maschinen nicht regelmäßig wartet und repariert, wird irgendwann mit seinem Traktor auf dem Feld stehenbleiben. Ein Friseur, der seine Scheren nicht schleift, wird irgendwann keine Kundschaft mehr haben.
Bei unserer Sprache allerdings tun wir so, als wenn sie uns 'einfach so' zur Verfügung steht und keinerlei Pflege bedarf. Ja, die Rechtschreibreform vor einigen Jahren hat sogar gezeigt, dass wir in diesem Fall, ganz anders als selbst bei unseren geliebten Autos, bereit sind, das Werkzeug zu vereinfachen, ohne auf die Folgen zu achten. Dass die Abschaffung des "ß" von vielen Menschen so favorisiert wurde und bis heute im Alltag durchgehalten wird, ist ein Zeichen dafür, dass vielen Menschen offenbar nicht bewusst ist, dass eine solche Simplifizierung auch eine Verringerung der Ausdrucksmöglickeiten, eine Einschränkung der Genauigkeit unserer Sprahe bedeutet (kein Handwerker würde dies für sein Werkzeug akzeptieren). Wer das "ß" abschafft, weiß ohne Erläuterung nicht, was beispielsweise das Wort "Masse" bedeuten soll:
"Masse" - mit kurzem "a" - bedeutet ja etwas anderes als
"Maße" - mit langem "a".
Das aber können wir mithilfe des "ß" eindeutig machen - die Schweizer, die das "ß" leichtfertig abgeschafft haben, können dies nicht. Für sie gibt es schriftlich kein Äquivalent für die höchst unterschiedlichen Aussagen:
"Alkohol in Massen" und
"Alkohol in Maßen"
- sie können diesen Unterschied nicht mithilfe der Sprache ausdrücken, ohne einen Nebensatz einzufügen, und der Leser dieses Satzes hat im Bereich der Schweizer-deutschen Orthographie keine Möglichkeit, den Satz ohne Erläuterung richtig zu verstehen. Mithilfe der hochdeutschen Sprache - in diesem Fall: Rechtschreibung - ist dies aber ohne weiteres präzise auszudrücken.
Die Sprache ist unser Werkzeug, und wir tun gut daran, sie entsprechend zu pflegen.
Dazu gehört, dass wir sie bewusst verwenden, uns über sie Gedanken machen, sowohl wenn wir sie selbst verwenden, als auch wenn wir sie hören. So können Missverständnisse vermieden und Aussagen präzisiert werden.
Ein Beispiel aus der Kunst: Der Begriff der 'Abstraktion'.
Im Bereich der Kunst meint der Begriff 'Abstraktion' eigentlich einen rein formalen Vorgang: eine Form abstrahieren oder abstrakt darstellen, heißt, sie zu vereinfachen, zu stilisieren. Hinter der Form bleibt indessen der Gegenstand erhalten. Nur wird er - eben - abstrakt und nicht konkret bzw. wirklichkeitsgetreu dargestellt.
Der Begriff "abstrakte Kunst" ist also durchaus nicht synonym zu gebrauchen mit dem der "ungegenständlichen Kunst". Bei präzisem Gebrauch der Begriffe haben wir hier zwei unterschiedliche Phänomene vor uns:
- das eine meint einen formalen Prozess (die wirklichkeitsgetreue Darstellung vereinfachen),
- das andere benennt gewissermaßen den Ausgangspunkt eines Kunstwerks (kein Gegenstand).
Wassily Kandinsky, Landschaft mit roten Flecken II, 1913; Venedig, Sammlung Peggy Guggenheim
Kandinskys Bild "Landschaft mit roten Flecken" z.B. ist ein abstraktes Bild - aber kein ungegenständliches. Es zeigt eine konkrete Landschaft, die man sogar topographisch ziemlich genau bestimmen kann, allerdings nicht etwa so, wie wir sie beispielsweise von niederländischen Malern aus dem 17. Jahrhundert (Jacob Ruisdael etc.) oder englischen Malern des 19. Jahrhunderts (John Constable etc.) kennen.
Selbst Malewitschs Bild "Flugzeug im Flug" ist kein ungegenständliches, aber ein abstraktes Bild, denn Malewitsch teilt uns über den Bildtitel mit, dass es sich bei der Zusammenstellung von geometrischen Figuren auf der Leinwand um die Darstellung eines Flugzeugs im Flug handelt.
Sobald er diesen Bezug zur Wirklichkeit allerdings aufgibt und uns nur noch geometrische Figuren - beispielsweise ein Quadrat - zeigt, ohne einen gegenständlichen Bezug zu benennen, haben wir es - wahrscheinlich - mit einem ungegenständlichen Bild zu tun.
Kasimir Malewitsch, Flugzeug im Flug, 1915; New York, Museum of Modern Art
Immer dann, wenn ein Bild nur noch "Komposition" heißt, die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass es sich um ein ungegenständliches Bild handelt.
Wir finden dies bereits bei Kandinsky, der um 1912/13 dazu übergeht, den Bezug zur konkreten Wirklichkeit auch im Titel aufzugeben, dann aber vor allem etwas später mit Werken beispielsweise von Wols. Der Unterschied zwischen einem abstrakten und einem ungegenständlichen Bild ist ein elementarer - er fällt uns aber erst auf, wenn wir diese Begriffe sorgfältig unterscheiden und sie bewusst auf Bilder anwenden (oder eben nicht anwenden: Kandinsky malt sowohl abstrakte, als auch ungegenständliche Bilder).
Wols, Composition (Öl auf Leinwand), 1946/47; Stuttgart, Staatsgalerie
Die Verwirrung der Begriffe - vielmehr: die Unaufmerksamkeit in Bezug auf ihren Gebrauch - geht so weit, dass strenggenommen ein gesamter Stil falsch benannt ist.
Denn wir sprechen beispielsweise bei den grandiosen Kompositionen von Clifford Still von "abstraktem Expressionismus" - es ist keine Frage, dass rein formal diese Bilder abstrakt sind. Aber vor allem sind sie wie diejenigen Jackson Pollocks ungegenständlich. Das ist es, was sie in besonderem Maß auszeichnet, das ist ihr charakteristisches Merkmal. Entsprechend sollten wir den Stil oder die Bewegung, der auch Künstler wie Mark Rothko, Willem de Kooning, Barnett Newman und - eben - Jackson Pollock angehörten, eigentlich
Clifford Still, 1950-A, No. 2, 1950 Öl-Leinwand Washington D.C. Hirshhorn Museum and Sculpture Garten, Smithsonian Institution
"ungegenständlicher Expressionsmus" nennen - der Begriff wäre präziser, würde außerdem eine Zusatzinformation enthalten, die über den allgemeinen Begriff des "abstrakten Expressionismus" hinausginge.
Ein solches Nachdenken über die Angemessenheit eines Begriffs - das genaue Hinschauen - macht deswegen Sinn, weil uns auf diese Weise über das Phänomen selbst, das der Begriff bezeichnet, einiges klarer werden kann. Denn dazu dient das Instrument der Sprache: es verdeutlicht, macht klarer.
Anregung
In diesem Sinn wäre es beispielsweise interessant, über den Begriff "Abstrakte Motive" nachzudenken. Demnächst wird in einem Verlag, der eher praktische Elemente von Kunst behandelt und seinen Leser/innen keine theoretischen Erörterungen zumuten möchte, ein Buch unter eben diesem Titel erscheinen.
Aber: gibt es das überhaupt: abstrakte Motive?
Wieviel Gedanken haben sich die Verantwortlichen in jenem Verlag vor der Entscheidung für den Titel über den Begriff der Abstraktion wohl gemacht?
Nachtrag
Der synonyme Gebrauch der beiden Begriffe ist inszwischen so sehr in den Alltagsgebrauch unserer Sprache eingegangen, dass selbst renommierte Allgemein-Lexika ihn so angeben: "abstrakte Kunst - gegenstandslos Kunst, gegenstandsfreie Kunst [...]"; dazu wird Kandinskys "Improvisation 20" von 1911 (Moskau, Puschkin-Museum) gezeigt. (Anm. 1)
Es ist im streng schulischen Sinn also nicht falsch, die Begriffe so zu gebrauchen. Aber dieser Gebrauch entspricht dem Gebrauch eines Autos, ohne jemals den Ölstand oder den Reifendruck zu prüfen, oder eines Bleistifts, ohne ihn jemals anzuspitzen: unsere Sprache aber kann sehr viel mehr, wenn wir sie entsprechend pflegen. Das sollten wir uns nicht gedankenlos nehmen lassen.
Anmerkung
Das ZEIT-Lexikon. Lexikon in 20 Bänden, Hamburg 2005, Bd. 1, S. 48. - Der Lexion-Artikel geht rein historisch vor und benennt mit dem Begriff ausschließlich jene "Phase der modernen Kunst, die dem Stil oder Gefüge der reinen Farben und Formen Wirkungen abgewinnt, die ohne den Verzicht auf Gegenstandsabbilder nicht erreicht werden können. Im weiteren Sinn gehören auch Werke zur abstrakten Kunst, die Dingliches noch in stark abgewandelter Form erkennen lassen." An dieser Formulierung wird deutlich, dass es unter dem Begriff "abstrakte Kunst" ausschließlich um ungegenständliche Kunst geht.
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