Ein unbeachtetes Detail mit faszinierenden Folgen

Der Band "Woran stirbt Jesus Christus? Und warum?" über die Kreuzigungstafel des Isenheimer Altars steht kurz vor der Veröffentlichung - da plagen mich als Autor Zweifel. Habe ich einen bestimmten Aspekt des Bilds genügend gewürdigt? Oder gehört er gar nicht in das Buch? - Letzteres kann ich mit Sicherheit verneinen, aber Ersteres? Sollte dieses Detail nicht einen größeren Stellenwert, damit mehr Raum in dem Buch erhalten? Bisher verweise ich nur in einer Anmerkung darauf, um den 'Gang der Erzählung' nicht zu stören.

 

Worum geht es?

 

Es geht um ein Detail, das wir die ganze Zeit, wenn wir den Isenheimer Altar betrachten, vor Augen haben, es aber gewöhnlich nicht beachten - jedenfalls ist es mir in der Forschungsliteratur, soweit ich mich erinnern kann, bisher nicht begegnet. Und mir selbst ist es erst vor einiger Zeit aufgefallen.

 

 

Das Detail tritt an zwei Stellen auf: ganz am oberen Bildrand (Bild oben) und ganz am unteren (Bild unten), dort, wo die Bildtafel auf den Bildrahmen trifft.

 

 

Worauf es mir ankommt, ist die Stellung des Kreuzes zum Bildrahmen. Man könnte auch sagen: die Entfernung des Kreuzes zum Bildrahmen, vielmehr: die Nähe. Das Kreuz ist so gemalt, dass es oben und unten vom Bildrahmen angeschnitten wird.

 

Der Bildrahmen kennzeichnet die Bildebene - also die Ebene, auf der das zweidimensionale Bild gemalt ist, - wie der vordere Bühnenrand jene Ebene bezeichnet, hinter der alles spielt, das auf der dreidimensionalen Bühne zu sehen ist. Alles Dargestellte muss sich aus Gründen der Logik hinter dieser Bildebene (dem Bühnenrand) befinden, hinter dem Bildrahmen also, in dem Raum, der sich hinter dem Bildrahmen öffnet. Was an diesen Rahmen - oben und unten, nicht an den Seiten - anstößt oder von ihm gar angeschnitten wird, muss räumlich gesehen von hinten an ihn anstoßen oder ihn gar nach vorne hin überschreiten.

 

So markiert beispielsweise in der Mailänder Pietà von Giovanni Bellini (um 1460; Mailand, Pinacoteca di Brera) die Brüstung am unteren Bildrand zugleich den vorderen Rand des Bilds (bzw. der Bühne). Die Hand Christi, die auf dieser Brüstung liegt, suggeriert gewissermaßen schon deren Überschreitung nach vorne, in den Raum des Betrachters hinein ('suggeriert' meint, dass diese Hand die Überschreitung zwar andeutet, sie tatsächlich aber nicht vollzieht). Strenggenommen hängt der Zettel, der sich an der vorderen Wand der Brüstung befindet, bereits im Raum des Betrachters vor dem Bild (der optische Effekt ist hier jedoch noch verhältnismäßig gering).

Wenn wir unter diesem Gesichtspunkt nun die beiden oben gezeigten Bilder der Kreuzigungstafel des Isenheimer Altars betrachten, die ich bewusst mit dem Bildrahmen zeige, dann fällt auf, dass die vordere Kante des Kreuzstamms unmittelbar an den Bildrahmen anstößt, so wie es auch der Saum des Kleids der Maria Magdalena tut (Bild oben). Die vordere Kante des nur ganz leicht schräg gestellten Kreuzstamms stimmt also mit der Bildebene, dem vorderen Rand des Bild- oder Bühnenraums, weitgehend überein. Das heißt der Kreuzstamm liegt genau auf dieser (Bild-)Ebene. Die vordere linke Ecke des Kreuzstamms stößt, wenn man sich das Kreuz dreidimensional vorstellt, von hinten direkt an die Bildebene an - wäre diese durch einen Gazestoff sichtbar gemacht, würde das Holz des Kreuzstamms dort an diesen Stoff stoßen, ihn vielleicht sogar ein Stück nach vorne drücken.

 

Wenn dies aber so ist - und daran kann bei genauem Hinsehen kein Zweifel bestehen - wo befindet sich dann der Körper Christi, der an diesem Kreuz hängt (wenn wir ihn uns ebenfalls dreidimensional vorstellen)? Auf welcher Seite des erwähnten Gaze-Stoffs wäre das Schild mit der Inschrift "INRI" zu finden? Und wohin ragt das so auffällige, ausladende Suppedaneum (Fußbrett) mit den noch weiter hervor ragenden Füßen Christi?

 

 

Die Antwort lautet: der Körper Christi, der am Kreuz hängt, muss sich räumlich gesehen vor der Bildebene befinden.

Wenn der Gazestoff auf der Höhe des Bildrahmens gespannt ist und die Vorderseite des Kreuzstamms von hinten an ihn anstößt, können sich Suppedaneum, Füße und der Körper Christi nur vor ihm befinden, damit im Raum des Betrachters vor dem Bild.

 

Wenn das aber so ist, dann lässt sich auch die eigentartige Haltung der Maria Magdalena erklären. Denn sie kniet zwar (fast) ganz am vorderen Bild- oder Bühnenrand und damit wirklich unter dem Kreuz, aber um von diesem Punkt aus dem Gekreuzigten ins Gesicht sehen zu können, muss sie sich von ihr aus gesehen zur Seite neigen, das bedeutet: vor die Bildebene, geradezu aus dem Bild heraus. Tatsächlich neigt sie sich dem Betrachter entgegen, in dessen Raum vor dem Kreuz hinein.

 

 

Wir kennen ähnliche Überschreitungen des Bildraums nach vorne von anderen Beispielen in der Kunstgeschichte. Ich habe oben bereits eines von mehreren Beispielen des Giovanni Bellini gezeigt. Ein geradezu spekakuläres Beispiel innerhalb der italienischen Kunstgeschichte bietet Andrea Mantegna mit seiner "Beweinung Christi".

 

Andrea Mantegna, Beweinung Christi, um 1490-1500; Mailand, Pinacoteca di Brera

 

Auch hier ist die Bildebene oder der vordere Bühnenrand durch den vorderen Rand der Steinplatte gekennzeichnet, auf der der tote Christus liegt. Über diesen Rand jedoch ragen die Füße Christi hinaus und reichen damit optisch in den Raum des Betrachters vor dem Bild hinein.

 

Nördlich der Alpen ist es vor allem Jan van Eyck, der mit dieser Grenze spielt, und dies noch sehr viel früher, als es die Italiener tun. Dabei geht er subtiler vor, als es beispielsweise Mantegna tut. In der (Doppel-)Tafel der "Verkündigung" des Genter Altars (fertiggestellt 1432; Gent, St. Bavo) lässt er einen Schatten des realen Bildrahmens in das Bild hinein fallen. Im "Verkündigungs"-Diptychon der Sammlung Thyssen-Bornemisza (1439; Madrid) treibt er das Verwirrspiel noch weiter.

 

Hier verwischt er die Grenzen zwischen Kunst und Realität so weit, dass sie kaum noch aufzulösen sind (schon gar nicht mit einer Reproduktion; die Auflösung ist allein am Original möglich, wo zu erkennen ist, wo der reale Rahmen aufhört und das gemalte Bild beginnt). Dabei nutzt er nicht nur die Möglichkeit, die Grenze zwischen Bildraum und Betrachterraum zu überschreiten (Schatten und Engelsflügel scheinen deutlich vor dem Bildrahmen zu sein), sondern er vermischt auch die verschiedenen Kunstgattungen: er malt Skulpturen. Nur so ist es auch möglich, dass die Taube des Heiligen Geists ohne eine sichtbare Halterung vor der schwarzen Marmorplatte zu schweben scheint.

 

Aber es gibt noch andere Möglichkeiten für eine solche optische Überschreitung des Bildraums in den Betrachterraum hinein.

 

Francesco del Cossa, Verkündigung, 1470-72; Dresden, Staatliche Kunstsammlungen

 

 

Der aufmerksame Betrachter entdeckt beispielsweise auf dieser "Verkündigung" von Francesco del Cossa - vielleicht etwas irritiert - eine Schnecke, die zu Füßen des Erzengels Gabriel durch das Bild zu kriechen scheint. Ist das ein Scherz?

Der Dresdener Sammlungskatalog versucht der Schnecke, die - so wörtlich! - "am unteren Bildrand entlang kriecht", eine theologische Bedeutung zu geben, indem er die Schnecke als ein "Symbol für die Reinheit Mariens" bezeichnet. Wer jedoch genauer hinieht, erkennt, dass die Schnecke ebenso 'falsch' dargestellt ist, wie der Katalogtext sie falsch beschreibt.

Diese Detailvergrößerung, die zudem den realen Bildrahmen mit einbezieht, zeigt, dass die Schnecke perspektivisch nicht etwa den Bodenplatten des Bildraums entsprechend konstruiert ist, so dass sie sich über diese Platten hinweg bewegt, sondern dass sie stattdessen so gemalt ist, als wenn sie über den Bildrahmen kriechen würde.

Wäre sie ein Teil des gemalten Bildraums - würde sie also der Realitätsebene des Engels und der Maria angehören -, müsste sie in Aufsicht, also von oben, zu sehen sein, so wie es das Gewand des Erzengels ist, das sich etwas weiter links ebenfalls am unteren Bildrand befindet. Tatsächlich ist die Schnecke jedoch direkt von vorne gezeigt, als würde sie über den Rahmen des Bilds kriechen und sich damit vor der Bildebene, im Raum des Betrachters vor dem Bild befinden.

 

Alle diese Beispiele zeigen, wie Maler mit der Grenze zwischen Bild- und Betrachterraum spielen. Ob dahinter ein theologisches/spirituelles Konzept steht - um beispielsweise die Bedeutung der dargestellten Szene für die Gegenwart des Bildbetrachters deutlich zu machen -, soll an dieser Stelle dahingestellt bleiben.

Michelangelo Caravaggio, Evangelist Matthäus, 1602; ehemals Berlin, SMB-PK (verschollen)

 

Ob beispielsweise der ungewaschene, linke Fuß des bäuerlichen Evangelisten Matthäus, der in Caravaggios Altarbild deutlich über die Bildebene hinausragt und zudem dem zelebrierenden Priester am Altar unmittelbar vor Augen gestanden hätte, wirklich eine solche theologische Bedeutung hatte, erscheint zweifelhaft. Hier scheint es eher um einen spektakulären Effekt gegangen zu sein, um die Demonstration handwerklich-künstlerischer Virtuosität - vielleicht entsprach es aber auch ganz einfach Caravaggios ganz eigener Art von Humor (jedenfalls wurde das Bild von den Auftraggebern nicht zuletzt aus diesem Grund nicht angenommen, Caravaggio musste stattdessen eine neue, harmlosere Version des Bildvorwurfs malen).

 

In jedem Fall ist es überraschend, dass wir eine solche Rafinesse ausgerechnet bei Mathis Gothart Nithart finden, der gemeinhin als ein zwar großartiger, für seine Zeit jedoch eher konservativer Maler gilt. Tatsächlich scheint er mit einigen seiner Werke noch gewissermaßen mit einem Bein im Mittelalter zu stehen (z.B. das "Schneewunder" vom Marie-Schnee-Altar, um 1519; Freiburg im Breisgau, Augustinermuseum).

 

 

Auch der Größenunterschied an der Kreuzigungstafel des Isenheimer Altars wird gemeinhin so erklärt, dass Mathis sich des eigentlich überholten, künstlerischen Mittels bedient habe, die bedeutsamste Gestalt seines Bilds den Regeln der Fluchtpunktperspektive zum Trotz in seinen Proportionen zu vergrößern, etwas, das wir aus dem Mittelalter als 'Bedeutungsperspektive' kennen.

 

Nach den oben geschilderten Beobachtungen wäre die (Über-)Größe des gekreuzigten Christus jedoch noch auf eine andere Weise zu erklären: Sie könnte der Tatsache geschuldet sein, dass der Körper Christi deutlich vor dem Bildrahmen hängt und damit dem Betrachter theoretisch sehr viel näher ist als die Figuren, die hinter dem Bildrahmen, innerhalb des Bildraums verharren. Vor diesem Hintergrund wäre geradezu zwangsläufig, dass der Gekreuzigte größer dargestellt wird. Nur so kann er optisch aus der Bildebene heraus, vor den eigentlichen Bildraum treten.

 

 

Ob eine Darstellung dieser Zusammenhänge, die eine eigene Untersuchung wert wäre (zu der es bereits einige Literatur gibt), den 'Gang der Erzählung' des Buchs über die Kreuzigungstafel des Isenheimer Altars in der Reihe "einblicke" eher stört, werde ich in den kommenden Tagen entscheiden müssen. Vielleicht gelingt es ja, den Gedanken zumindest anzudeuten und auf diese Weise zum genaueren Hinsehen und Weiterdenken zu animieren.

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0