Max Imdahl über Cézanne, Braque und Picasso, Teil 5

Max Imdahl, Cézanne - Braque - Picasso. Zum Verhältnis zwischen Bildautonomie und Gegenstandssehen, in: Ders., Reflexion, Theorie, Methode. Gesammelte Schriften, Bd. 3, hg. v. Gottfried Boehm, Frankfurt am Main 1996, S. 303-380.

 

Abschnitt V, S. 327-336.

Georges Braque, Femme à la guitare, 1913; Paris, Musée National de l'Art Moderne

 

 

Es wirkt zunächst ein wenig befremdlich, dass Imdahl Braques Bild "Femme à la guitare" als "eine grundsätzlich gegenstandsfreie [...] Bildkonstruktion" beschreibt (S. 327). Immerhin ist deutlich zu erkennen, dass es von der Gegenständlichkeit ausgeht und diese immer wieder durch die zur Abstraktion strebenden Bildelemente hindurchschimmert. Aber in Imdahls Sicht ist die Bildkonstruktion "von jeder sehend oder wiedererkannt gesehenen Gegenstandserscheinung unabhängig[ ]." Tatsächlich erhebt sich die Frage, ob diese Beschreibung nicht eher auf andere, vor allem spätere Bilder Braques zutrifft, nicht aber gerade auf ein Bild, das schon durch seinen Titel den Bezug zur Gegenständlichkeit sucht.

Zweifellos trifft zu, dass Braque jede 'klassische' Form der Bildgestaltung ablegt, beispielsweise die Gestaltung von Räumlichkeit oder auch von Gegenständlichkeit durch die klare Abgrenzung mithilfe von Konturen. Tatsächlich kombiniert Braque in "Femme à la guitare" "sich überlagernde Facetten", die in ihrer Begrenzung unklar bleiben, partiell ineinander verschmolzen sind, ohne dass man sie im Raum genau verorten könnte. Imdahl spricht entsprechend von diesem Facettensystem als einem "System räumlicher Unbestimmtheit" bzw. einem "System räumlicher Vieldeutigkeit", in dem die räumlichen Bestimmungsversuche einzelner Elemente durch die sie umgebenden, anderen Elemente und "Lesarten" im Erleben des Betrachters jeweils unterminiert werden. (328) Jeder sich im Bild ergebende Ansatz einer räumlichen Bestimmtheit wird durch die umgebenden Formen und Elemente sofort und nachhaltig relativiert.

In Imdahls Sicht wird hier ein Paradox fassbar. Mit Husserl geht er davon aus, dass jede Raum- oder Körpererfahrung subjektiv und damit relativ ist, doch werde "durch das Facettensystem Braques auf die absolute, das heißt objektiv ontologische körperräumliche Gegenstandsexistenz hingedeutet durch eine permanente Relativierung des Relativen." (328) - Die 'Relativierung des Relativen' - demnach arbeitet Braque hier mit einer doppelten Verneinung, um auf diese Weise auf eine neue Ebene zu gelangen: durch die Relativierung des Relativen zum Absoluten. "Zugunsten des Absoluten wird der hergebrachte und mimetisch darstellbare Vollständigkeitscharakter des Relativen destruiert." (328) Nicht mehr die relative Raumerfahrung wäre damit das Ziel Braques gewesen, sondern etwas, das sich dem absoluten Raum annähert. Immer wieder wird der Betrachter durch die Widersprüche und Unzusammenhänge des dargestellten Raumsystems aus seinem subjektiven Zugang zu einer Raumerfahrung herausgeholt und stattdessen auf den allen gemeinsamen Zusammenhang, den absoluten Raum verwiesen.

Denn es gibt, wie Imdahl deutlich macht, eine lineare Konstruktion, die soetwas wie ein optisches Diagramm bildet, das dem Bild zugrundeliegt. Imdahl analysiert es mithilfe von Skizzen der Struktur des Bilds, aufgeteilt in eine der oberen und eine der unteren Hälfte des Bilds.

 

 

Links: Skizze Imdahls zur Struktur der oberen Hälfte von Braques 'Femme à la guitare'

 

Demnach besteht die Struktur des Bilds aus einem Konglomerat von Beziehungen, die unterschiedliche Linien miteinander eingehen. "In ihrer Kohärenz als optische Ebene folgen sie dabei einem vielfältig rhythmischen Aufbauprinzip, dessen Makrostruktur einen im unteren Bildbereich dichten, im oberen Bildbereich dagegen lockeren Zusammenhang ergibt" (328), einen Zusammenhang indessen, der nicht etwa durch das Vorhandensein eines bekannten Systems mit einer bestimmten Bedeutung legitimiert wird bzw. Bedeutung erhält, sondern der durch "die künstlerische, schöpferische Intuition" als Neuschaffung gekennzeichnet ist. (330) Braque greift in seinem Streben nach der Erfahrung absoluter Räumlichkeit also nicht auf Bekanntes zurück, sondern beschreitet als Künstler neue Wege, die sich gewissermaßen selbst erst erschaffen.

"In Braques Bild besteht die beschriebene Konstellation jener Linien ohne jeden direkten Bezug auf ein außerikonisches Gegenstandskorrelat, das heißt, sie besteht grundsätzlich als die Entfaltung und Organisierung eines gegenstandsfreien Sehens" - wobei Imdahl an dieser Stelle und im Folgenden darauf zu sprechen kommt, dass es durchaus Bezüge zur Gegenständlichkeit gibt, von denen er als den "offensichtlich abgekürzten Bezeichnungen von Augen" usw. sowie auf Materialien wie Holz spricht. Auf diese Weise werde aus dem "autonom geregelte[n] Linearkonstrukt mitsamt der in ihm aufgehobenen räumlichen Vieldeutigkeit der Facetten" ein nachvollziehbarer Hinweis auf die Formen eines menschlichen Körpers und des Gegenstands 'Gitarre'. (330)

Zudem verwendet Braque collagenartige Elemente wie dieses ockerfarbene Trapez, das mit seiner gemalten Struktur auf das Material 'Holz' und damit wiederum auf konkrete Gegenständlichkeit hinweist. "Dabei wird, zusätzlich noch, auf die Gitarre als auf ein sowohl dreidimensionales als auch charakteristisches Formgebilde hingewiesen. Für die Dreidimensionalität stehen linear begrenzt Schattenzonen ein, welche in a-perspektivischen Verläufen die Fläche des 'Faux-bois' [des Trapezes] unterbrechen." (332)

 

"Wie in der Sprache die sprachlichen, so sind hier im Bilde die optischen Bezeichnungen für Materialität, für Körperlichkeit und für Körperform dissoziiert und jeweils verabsolutiert, im optisch autonomen Corpus des Bildes aber zugleich koordiniert zugunsten eines stringenten Zusammenspiels von Flächen, Geraden, Schwüngen und Bögen." (332)

 

Braque sucht dabei, wie an der Darstellung gerade des Holzes der Gitarre deutlich wird, malerisch Elemente der jeweiligen Gegenstände, die sie in besonderer Weise charakterisieren, wie beispielsweise das Holz die Gitarre. Aber dabei geht es ihm nicht in erster Linie um den Gegenstand, sondern stattdessen um das Bild als einer autonomen, von der "wiedererkannt gesehenen Gegenstandserscheinung unabhänige[n] Bildkonstruktion". (327) "Es ist für die kubistische Malerei charakteristisch und im Blick auf den Realitätsbezug von Malerei überhaupt neu und bedenkenswert, daß sich weniger vom Gegenstande als vielmehr vom Bilde her bestimmt, was und was nicht und was mehr und was weniger für den Gegenstand bezeichnend ist." (334) Und hier sind wir nun offenbar auf der Spur dessen, was Imdahl am Beginn des Abschnitts mit der "grundsätzlich gegenstandsfreie[n], a-mimetische[n] [...] Bildkonstruktion" meinte: Es geht in Braques Bild nicht um Nachahmung, sondern um Neuschaffung. Das Bild, das entsteht, bildet nicht ab, sondern es wird zu einer eigenständigen 'Realisation' - um einen Begriff Cézannes zu verwenden. Zwar ist der Ausgangspunkt des Braque'schen Bildschaffens der Gegenstand, der in einem frühen Stadium des Schaffensprozesses analysiert wird, doch wird dieser dann im Bild nicht etwa 'rekonstruiert': "Welche Sacheigenschaften eines Gegenstandes jeweils thematisert werden, welche Rangordnung ihnen jeweils zugewiesen ist, wie ihre Bezeichnungswerte im Bilde konkret auszusehen haben und wo sie im Bilde lokalisiert sind, das alles richtet sich nicht zuallererst nach einer wie immer denkbaren oder auch nicht denkbaren Hierarchie bestimmter Gegenstandsqualitäten, sondern vielmehr nach dem Prinzip, eine insgesamt gegenstandsfreie, von jeder Gegenstandserscheinung befreite Bildkonstruktion zu erschaffen." (334)

Braque geht es also nicht etwa um die Schaffung eines abstrakten oder sogar ungegenständlichen, autonomen Kunstwerks, wie man am Beginn dieses Abschnitts in Imdahls Text hätte glauben können. Vielmehr geht es ihm, Imdahl zufolge, um die Hervorbringung von Ausdruckswerten, die nicht auf Mimesis, auf äußerlich-formale Nachbildung abzielt, sondern auf ein "Ausdrucksäquivalent für die absolute, mimetisch nicht darstellbare Gegenstandsexistenz". (335) Dies setzt die Sensibilität für eine andere als die rein optische Wahrnehmung voraus. So scheint sich eine Gitarre im Erleben Braques in besonderer Weise durch ihr Material - Holz - auszuzeichnen, das im Zusammenspiel mit dem Schallloch und den Saiten für ihn in seinem persönlichen Empfinden das Phänomen 'Gitarre' besser, umfassender, in jedem Fall vielschichtiger beschreibt als eine mimetisch exakt und vollständig nachbildende Darstellung einer Gitarre in allen Details und der authentischen Wirkung eines trompe l'oeils. Und Braque wählt dazu künstlerische Mittel, die gerade diesen Aspekt des Gegenstands - der "absolute[n], mimetisch nicht darstellbare[n] Gegenstandsexistenz" (335) in ganz besonderer Weise thematisieren.

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