Max Imdahl über Cézanne, Braque, Picasso; Teil 3

Max Imdahl, Cézanne - Braque - Picasso. Zum Verhältnis zwischen Bildautonomie und Gegenstandssehen, in: Ders., Reflexion, Theorie, Methode. Gesammelte Schriften, Bd. 3, hg. v. Gottfried Boehm, Frankfurt am Main 1996, S. 303-380.

 

Abschnitt III, S. 314-319.

 

In diesem dritten Abschnitt schildert Imdahl am Beispiel des Bilds "Montagne Sainte-Victoire" und einer Reihe von Selbstäußerungen Cézannes, was dieser selbst unter 'reiner Malerei' verstand.

 

Paul Cézanne, Montagne Sainte-Victoire, 1904-06; Basel, Kunstmuseum

 

Demnach begegnete Cézanne der Natur unter dem Gesichtspunkt der - wie Imdahl es nennt - "bloßen Optizität des Motivs" (S. 314), also gewissermaßen der reinen Sensation (dem reinen Sinneneindruck), ohne aus den wahrnehmbaren Farben und Flächen imaginativ Räume und Gegenstände zu formen. Man könnte auch sagen, dass das "begriffsblinde[ ], gegenstandsfreie[ ] Sehen[ ]" im Akt des Malens auf die imaginative Vervollständigung verzichtet, die im Kopf des Künstlers Farbflecken als Gegenstände oder Räume deutet. Mathilde Vollmoeller hat es einmal Schauen "wie ein Hund" genannt. Cézanne selbst (in der Übertragung Imdahls): "Es sind [...] unter der Bedingung der Verdrängung des gegenständlichen zugunsten jenes gegenstandsfreien, nur sehenden Sehens nur farbige 'taches' [Flecken] oder 'plans' [Flächen]", "systemlos und chaotisch". (315)

Cézanne hatte also für den Akt des Malens selbst ein Sehen im Sinn, das vollständig gegenstandsfrei ist, also ohne die imaginative Deutung von Farbflecken als Gegenstände auskommt. Dem eine malerische Entsprechung zu geben, führt ihn zu einer weitgehend-reinen Fleckenmalerei, ohne jede bewusste Assoziation eines Gegenstands, ohne jede Form der Systematisierung. Das Auge des Malers ist in diesem Prozess so autonom tätig, dass sich auf der Leinwand gewissermaßen etwas Neues ergibt. Es erschafft ein neues, rein optisches Gebilde aus Flecken und Flächen, das von jedem Gegenstandsbezug frei ist, sich von Abbildhaftigkeit gänzlich gelöst hat. Stattdessen entwickelt es eigene Gesetze, die dem reinen, dem 'sehenden Sehen' verpflichtet sind und damit eine ganz neue Form des Sehens 'realisieren'. "Die 'plans' oder 'taches' sind als das nur-optische Material der Bildkonstruktion von vornherein durch nichts anderes bestimmt als durch die Möglichkeit, mit ihnen als den Daten der bloßen Optizität des Motivs und im Kontakt mit dieser einen optisch in sich begründeten, nur aus sich verständlichen und das ganze Bildfeld gleichmäßig aktivierenden Zusammenhang zu bilden [...]. An die Stelle des verstandesmäßigen, auf das wiedererkennende Sehen des Gegenstandes gestützten Ordnens tritt die Ordnungskraft der (begriffsblinden) Sinne." (315)

 

Am kürzesten fasst Imdahl dieses Prinzip zusammen in dem Aphorismus, dass "jedes Bewußtsein vom Gegenstande das Malen selbst lähmt." (315)

 

Paul Cézanne, Montagne Saint-Victoire, 1902-06; Philadelphia, Museum of Art

 

Das Sehen des Malers wird bei Cézanne also in "reine[ ] Sichtbarkeitswerte" aufgelöst, die jede bewusst angelegte Assoziation eines Gegenstands ablegt.

Das Sehen des Betrachters dagegen ist kulturell zu einem wiedererkennenden Sehen angehalten, wird also entsprechend automatisch Gegenstände assoziieren, wo der Maler nur Flecken und Flächen hinterlassen hat. "Insofern in Cézannes Bild aber der Gegenstand aus einer optisch immanent geregelten Kontextualisierung von bloßen, dem gegenstandsfreien Sehen begegnenden Sichtbarkeitswerten hervorgeht, wird er für den Beschauer zum Anlaß eines solchen Gegenstandssehens, das nicht wie gewöhnlich das sehende dem wiedererkennenden, sondern umgekehrt das wiedererkennende dem sehenden Sehen subordiniert." (316)

 

Malen und Betrachten (Beschauen) des Bilds sind also zwei unterschiedliche Arten der Leistung. Der Malvorgang emanzipiert sich bei Cézanne vollständig von jeder Form der Mimesis (Nachahmung), von jeder bewussten Nachbildung eines Gegenstands, so wie sie innerhalb der abendländischen Kunstgeschichte über Jahrhunderte hinweg Brauch gewesen war; für den Maler bedeuten die Sichtbarkeitswerte (Flecken, Flächen) nichts als sie selbst: Flecken und Flächen. Im Vorgang des Betrachtens dagegen stellt der kulturell geprägte Betrachter, von diesen Flecken und Flächen ausgehend, wiederum Bezüge und Zusammenhänge zu Gegenständen her. Auf diese Weise werden im Akt des Sehens rein optischer Sichtbarkeitswerte Gegenstände neu erschaffen.

"Eben auf diese Weise wird der Gegenstand, mit Cézanne selbst zu reden: 'realisiert'." (316)

 

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