Cézanne - Braque - Picasso; Teil 2

Max Imdahl, Cézanne - Braque - Picasso. Zum Verhältnis zwischen Bildautonomie und Gegenstandssehen, in: Ders., Reflexion, Theorie, Methode. Gesammelte Schriften, Bd. 3, hg. v. Gottfried Boehm, Frankfurt am Main 1996, S. 303-380.

 

In diesem eigentlich einleitenden Abschnitt seines Aufsatzes stellt Imdahl drei kunsttheoretische Ansätze vor, die erste Überlebungen zu Abstraktion und Ungegenständlichkeit anstellen vor dem Hintergrund, dass die entsprechenden Autoren aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum fortgeschrittenen 19. Jahrhundert eine eigentlich ungegenständliche oder auch nur abstrakte Kunst tatsächlich noch gar nicht  kannten.

John Ruskin (1819-1900), Jules Laforgue (1860-1887) und Konrad Fiedler (1841-1895) haben über Malerei nachgedacht und dabei in ihren Theorien (mit Vorreiterrolle) eine 'reine Malerei' in den Blick genommen, ohne dass sich zu ihrer Zeit die Malerei schon von ihrem Bezug zu konkreten Gegenständen vollständig gelöst hätte. Was sie u.a. verbindet, ist ihr Streben nach einer "Entbegrifflichung der Welt", wie Imdahl das nennt (S. 309), also die Loslösung von einer Erkenntnis, die notwendigerweise über den Weg der Begriffe (der Sprache, der sprachlichen Logik) hergestellt werden muss. An die Stelle der Begriffe treten bei ihnen die Sinne und damit die Kunst.

 

Ruskin stellte bereits heraus, dass Sehen eigentlich nur aus der Wahrnehmung von Farben besteht, die erst durch unsere Erfahrung zu Gegenständen mit Funktionen und Bedeutungen werden. Malerei - die Kunst vor allem der Farben - könne dazu beitragen, soetwas wie die Unschuld des Auges zurückzuerlangen ("painting depends on our recovery of what may be called the innocence of the eye"; S. 309), eine Art kindlicher Form der Wahrnehmung dessen, was rein optisch gesehen zunächst nichts weiter als zweidimensionale Farbflecken sind. Auf diese Weise werde "das Sehen durch Malerei zu sich selbst gebracht", (310) was nicht zuletzt bedeutet, auch Gegenstände nicht automatisch als Gegenstände, sondern zunächst als eine Ansammlung von Sichtbarkeitswerten wahrzunehmen. Heute würden wir das reine Phänomenalität nennen, was Ruskin mit dieser Reduktion auf das rein Optische anspricht. Diese aber rekurriert auf jenes Sehen, das Imdahl als das sehende Sehen bezeichnet hatte, während Ruskin dieses eben gerade vom wiedererkennenden Sehen zu lösen und zu emanzipieren beginnt. Das Ziel wäre dann ein gegenstandsfreies Sehen, ein Sehen ohne die geistige Leistung der Identifizierung und der Funktionszuschreibung. Wobei Ruskin noch nicht an ein vollkommen gegenstandsloses Sehen denken konnte, für die Ungegenständlichkeit auch in der Kunst war die Zeit noch nicht weit genug fortgeschritten.

 

"Ähnlich wir Ruskin hat auch Laforgue die Geltung der Farbe hervorgehoben und gefordert, daß die Malerei vom Auge, einzig vom Auge auszugehen habe, welches für die Malerei dasselbe bedeute wie das Ohr für die Musik." (311) Als einem der Wortführer des Impressionismus ist ihm die Lösung der Gegenstände - denn auch im Impressionismus geht es noch immer um gegenständliche Kunst - von einer strikten Begrifflichkeit ein Anliegen, die "Entbegrifflichung der gegenständlichen Erscheinungswelt" (311), wobei er noch wesentlich konsequenter als Ruskin die Farbe - ohne Ergänzung durch die Form - ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit stellt. Das Bild wird zu einem System aus Farben unter möglichster Vermeidung von allem, was einen formalen Bezug zu einem Gegenstand herstellen könnte. Das würden beispielsweise Zeichnung, Licht, Modellierung oder Perspektive tun, und aus diesem Grund sind sie im Bild zu vermeiden - nur so wäre ein sehendes Sehen gewährleistet - wir wissen ja, wie groß die Versuchung ist, sehendes Sehen durch wiedererkennendes Sehen zu ersetzen. Sehendes Sehen aber wäre in Laforgues Sicht natürliches Sehen. Der Impressionismus versuchte, dieses Postulat umzusetzen, indem er vor allem diese natürliche Art optischer Rezeption zu fördern und mit ihrer Malerei Mittel zu schaffen versuchte, sie adäquat in Kunst umzusetzen.

 

Vor allem Fiedler erkannte "die ausschließliche Bestimmung der Malerei darin, zu immanent geregelten und ganz aus sich selbst verständlichen Systemen vorzudringen". (312) Sehen wird auf diesem Weg ein Vorgang, der vollkommen autonom ist, zu einer isolierten Tätigkeit, die unabhängig von aller Begrifflichkeit Erkenntnis vermittelt. Eine solche Form der 'Erscheinung im eigentlichen Sinne' herzustellen, ist Aufgabe der Kunst. Das Ziel ist nicht etwa, zu einem Erkenntnis-Begriff zu gelangen, sondern unabhängig von Begriffen zu sein. Anschauung habe ein ebensolches Recht dazu, ausgebildet und erkenntnisfördernd eingesetzt zu werden, wie das Denken in abstrakten Begriffen. Nicht allein Begrifflichkeit, sondern ebenso Anschauung sei zur 'Aneignung' der Welt geeignet. Das Nachdenken zu beleben, sei in diesem Sinn das Ziel von Kunst. Arnold Gehlen sprach in diesem Zusammenhang von der "Intelligenz des Auges" (312), die der Betrachter einsetzen solle, um über formulierbare, begriffliche Erkenntnis hinaus zu unformulierbarer Erkenntnis zu gelangen. Offenbar steht hier die Gestaltung dem begrifflichen Denken gegenüber.

 

Diese Gedanken werden beträchtliche Auswirkungen auf die moderne, gegenstandslose Malerei haben, selbst wenn alle drei Autoren die gegenstandslose Kunst noch nicht kannten.

 

Was hier zum erstenmal in der abendländischen Kunsttheorie thematisiert wird, ist ein Sehen, das zugleich ein  "von allem Vorwissen oder von allen Gewißheiten aus nichtoptischen Erfahrungen weithin gereinigter Erkenntnisakt" darstellt, also um das, was Imdahl das sehende Sehen nennt.

 

Wenn auch Fiedler seine Theorie vor allem mit Hans von Marées in Beziehung brachte, so wird sich Imdahl im Folgenden auf das Werk Cézannes beziehen.

 

Paul Cézanne, Die Montagne Saint-Victoire von Les Lauves aus gesehen, 1904-06; Zürich, Kunsthaus

 

Imdahl erscheint diese Malerei wesentlich mehr durch die Farbe bestimmt. Nicht zuletzt bezeichne sie "wie kaum eine andere [...] die Nahtstelle zwischen gegenständlicher und gegenstandsloser Malerei." Die Malerei scheint sich vom Gegenstand zu lösen und autonom, unabhängig zu werden. Aus diesem "gegenstandsfreien Sehen[ ] erwächst dem Maler ein aus reinen, nichts weiter bedeutenden Sichtbarkeitswerten bestehendes optisches Material, das für Gestaltung, das heißt für eine optisch autonome, immanent geregelte Konstruktion disponibel ist." Im Ergebnis entsteht eine Malerei, die vom Gegenstand ausgeht, bei der die Identifikation der Form mit einem Gegenstand aber "nur eine untergeordnete Miteigenschaft des sehenden Sehens ist." (314)

 

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