Vorabveröffentlichung: Band 4 der Reihe "ein-blicke"

In einigen Tagen wird das neue Buch, Band 4 der Reihe "ein-blicke. Kunstgeschichte in Einzelwerken", in den Druck gehen. Sein Titel wird lauten: 

 

Wie unendlich feinere Sinne muss ein Maler haben: Franz Marcs "Tiger"

 

Heute finden Sie hier den ersten Teil des ersten Kapitels - Thema: Was ist die "Moderne" in der Kunst? - als Vorabveröffentlichung. - In der kommenden Woche wird der zweite Teil folgen: Kennzeichen der Kunst der Moderne.

 

 

Hier der Text (die Anmerkungen mit Literaturangaben und weiterführenden Hinweisen werden an dieser Stelle weggelassen; sie finden sich im Buch):

 

Einleitung: Kunst der Moderne

Der Begriff „Moderne Kunst“ wird von Kunstliebhabern und kunsthistorischen Fachleuten in unterschiedlicher Weise verwendet. Die einen meinen damit zeitgenössische, also aktuelle Kunst des frühen 21. Jahrhunderts, andere die Kunst des fortgeschrittenen 20. Jahrhunderts, für viele ist es die Kunst van Goghs, Gauguins, Monets, August Mackes, Franz Marcs, Wassily Kandinskys und Paul Klees, also jene Kunst, die gewöhnlich als „Klassische Moderne“ bezeichnet wird.

 

Der weiteste und am besten begründete Begriff von „Moderner Kunst“ umfasst die Kunst zwischen der Zeit um 1800 und der Mitte des 20. Jahrhunderts, etwa bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs.

 

Wesentlich für die Entscheidung, den Beginn der Moderne um 1800 anzunehmen, war die Beobachtung, dass sich zu dieser Zeit die Gesellschaft und mit ihr die Kunst – ihre Bedingungen und ihre Formen – in grundlegender Weise geändert haben. Noch die Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts steht auf jenen Fundamenten, die am Ende des 18. Jahrhunderts gelegt worden sind und die nicht allein den Kunstbetrieb, sondern das Verständnis von Kultur überhaupt vollständig verändert haben. Ohne diese Fundamente sähe unsere Kultur heute anders aus.

 

 

Was ist die "Moderne" in der Kunst?

Alles begann mit der Aufklärung, deren führende Köpfe Immanuel Kant († 1804), Jean-Jacques Rousseau († 1778), Voltaire († 1778) und Montesquieu († 1755) waren. Diese beriefen sich ihrerseits auf die kurz zuvor entstandene, neue philosophische Denkweise vor allem von René Descartes († 1650), Spinoza († 1677), Gottfried Wilhelm Leibnitz († 1716) und anderen.

 

Im Unterschied zu den vorhergehenden Jahrhunderten, die unter der Führung der Kirche das Heil des Menschen ausschließlich von der Gnade Gottes abhängig gesehen hatten, wollten die Aufklärer unter dem Wahlspruch Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ den Menschen nun auf dem Weg der Vernunft zum „Ausgang aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ führen. Sie verpflichteten den Menschen auf seine eigenen, geistigen Fähigkeiten, auf Vernunft und Verstand, und zertrümmerten damit das alte, auf der christlichen Offenbarungsreligion fußende Weltbild. Alles Unerklärliche und auch manches Erklärbare auf das Einwirken Gottes zurückzuführen, dessen Ratschluss bekanntlich unergründlich ist und ein allzu beharrliches Fragen verwehrt, war es, was Kant mit der geistigen Unmündigkeit des Menschen gemeint hatte: nicht weiter fragen zu dürfen, die Antworten statt in Natur und Vernunft in der Bibel und den Traktaten der Theologen suchen zu sollen.

 

Allerdings zertrümmerte die Aufklärung gemeinsam mit dem Glauben an einen Schöpfergott und an die Prädestination [Mit einem Stern gekennzeichnete Begriffe werden am Ende des Texts (Glossar, siehe unten) erklärt] auch jede Gewissheit in Bezug auf die wichtigsten Fragen der menschlichen Existenz – woher kommen wir? wer sind wir? wohin gehen wir? Von nun an musste jeder Mensch diese Fragen ganz individuell für sich beantworten.

 

Historisch folgte dieser geistigen Umwälzung der Aufklärung kurz vor der Wende zum 19. Jahrhundert die Französische Revolution und in ihrer Folge die Suche nach neuen Staats- und Regierungsformen jenseits des Gottesgnadentums, deren neuartiges, umstürzlerisches Kennzeichen es sein sollte, dass in ihnen alle Menschen gleichberechtigt wären. Dieses Ringen wird das 19. Jahrhundert in entscheidender Weise prägen.

 

Darüber hinaus ist das 19. Jahrhundert die Zeit der immer schneller fortschreitenden Industrialisierung, die die Menschen vom Land in die Städte zog und sie zugleich dem Arbeitsprozess entfremdete. Großstädte entstanden als ein neues Phänomen: Paris, London, später Berlin. Neue, gesellschaftliche Aufgaben waren zu bewältigen, die bei der Schaffung von Wohnraum begannen und bis zu Ernährung, Hygiene und medizinischer Versorgung reichten. Schließlich betrafen sie auch jenes sich im frühen 20. Jahrhundert als verhängnisvoll erweisende Vakuum, das durch das Schwinden der Religion, damit zusammenhängend der Institution der Kirche, entstanden war.

 

 

Konsequenzen für die Kunst

Gerade diese Institution, die Kirche, war es jedoch gewesen, in deren Auftrag Künstler in dem Jahrtausend seit der Herrschaft der Karolinger weit überwiegend gearbeitet hatten. Die Kirche und die Herrscher, die im Zuge der Französischen Revolution entmachtet wurden, seit dem 15. Jahrhundert auch reich gewordene Bürger, die höfische Repräsentationsformen für sich einzusetzen versuchten, waren die Auftraggeber für die Künstler gewesen, welche sie nicht selten über Jahre oder sogar Jahrzehnte hinweg gebunden und damit ihre Existenz gesichert hatten. Die Kunst hatte den Auftraggebern Möglichkeiten der Selbstdarstellung und der Jenseitsvorsorge geboten und diese hatten sie in ihrem Sinn eingesetzt. Als Gegenleistung hatten sich die Künstler, die für sie arbeiteten, einer verhältnismäßig soliden Existenz erfreuen können. Der Auftrag für ein größeres Gemälde oder gar einen Altar mit mehreren Tafeln sicherte den Lebensunterhalt des Malers, seiner Familie und seiner Werkstatt nicht selten über Jahre hinweg.

 

Mit den gesellschaftlichen Umwälzungen im Zuge von Aufklärung und Französischer Revolution, vor allem durch das Zurückdrängen des Einflusses der Kirche und der Höfe, veränderte sich die Situation der Kunst und damit notwendigerweise auch der Künstler. Zuvor hatte die Kunst im weitesten Sinn im Dienst von Predigt und religiöser Kontemplation gestanden oder mit Hilfe mythologischer Themen an überzeitliche Werte erinnert und Persönlichkeiten, die sich diesem Kanon in besonderer Weise verpflichtet fühlten (oder zumindest diesen Eindruck erwecken wollten), gefeiert. Von nun an waren es nicht mehr die religiösen und politischen Instanzen, die über Kunstwürdigkeit und Kunstwert entschieden, sondern die Künstler selbst. Kein Wunder, dass ein Bild wie Gustave Courbets Die Steineklopfer (entstanden 1849; 1945 verbrannt; Abb. 2 [siehe unten]) beim Publikum Anstoß erregte. Schon die Motivwahl musste angesichts dessen, was die Ausstellungsbesucher gewohnt waren, irritierend wirken: Ein Straßenarbeiter – heute würden wir sagen: ein Bauarbeiter – war in ihrem Verständnis weder heroisch noch in anderer Weise beispielhaft; es war daher nicht nachvollziehbar, warum er zum Thema eines Kunstwerks gemacht werden sollte. Dass Courbet aus seiner persönlichen, von sozialen Interessen geprägten Überzeugung heraus mit seiner Kunst etwas anderes erreichen wollte, als exemplarisch Helden im Schlachtgetümmel zu feiern, blieb für das Publikum nicht unverständlich.

 

Abb. 2: Gustave Courbet, Die Steineklopfer, 1849; 1945 verbrannt

 

 

Eben hieran wird allerdings deutlich, dass die Künstler in der neuen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts in einem existentiellen Dilemma steckten:

  •  entweder schufen sie Kunstwerke, die vornehmlich ihre eigenen, nicht selten sozialen oder gar kunstimmanenten Ziele* verfolgten, für den gewöhnlichen Betrachter aber kaum nachvollziehbar waren, weil sie die gewohnten Pfade der Kunstgeschichte verließen;
  • oder sie orientierten sich an den Erfordernissen und Wünschen des Markts, schauten dem Publikum auf den Mund und – überlebten, wurden gelegentlich sogar berühmt und reich.

Vor dem Beginn des 19. Jahrhunderts und damit vor der Moderne hatten die Künstler also gewissermaßen in festen Arbeitsverhältnissen zu ihren Auftraggebern gestanden. Es ist nur logisch, dass diese nicht selten massiven Einfluss auf die künstlerische Arbeit nahmen; im Zweifelsfall lehnten sie ein Werk, das ihnen nicht gefiel, ab und der Maler musste die Arbeit ein zweites Mal ausführen, selbstverständlich ohne zusätzliche Vergütung. Mit dem Entstehen eines freien Kunstmarkts seit der Zeit um 1800 fielen die Künstler aus dieser Abhängigkeit heraus und betraten eine Bühne, auf der sie ganz auf sich gestellt waren. Nun schufen sie nicht mehr im Auftrag und zu einem vorher festgelegten Preis. Stattdessen malten, gravierten, bildhauerten, schrieben oder komponierten sie nun ohne Vorgaben, ohne die Gängelung eines Auftraggebers – allerdings auch ohne die Gewissheit, für ihre Leistung am Ende bezahlt zu werden.

 

Wer seine Bilder verkaufen, von seiner Kunst leben und Frau und Kinder ernähren können wollte, war von nun an gut beraten, sich am Publikumsgeschmack zu orientieren und sich keine Extravaganzen zu leisten. Andernfalls riskierte er, dass seine Bilder – zumindest zu seinen Lebzeiten – unverkäuflich blieben, wie es nicht nur Vincent van Gogh (1853–1890) und Paul Gauguin (1848–1903) erging, die beide kaum genug Geld verdienen konnten, um satt zu werden.

 

 

Die andere Seite der Freiheit

Häufig wird in einschlägigen Darstellungen die ‚Freiheit‘ gefeiert, in die die Künstler um 1800 mit der Entstehung eines freien Kunstmarkts entlassen wurden. Aus heutiger Sicht war dies tatsächlich ein Segen für die Kunst: Von nun an konnten die Künstler vordergründig allein ihrem eigenen Antrieb folgen und in Bezug auf künstlerische Motive, Techniken und Stil frei schalten und walten. Nur so sind Künstler wie Gustave Courbet (1819–1877) und Paul Cézanne (1839–1906) und neue Stilrichtungen wie der Impressionismus, der Expressionismus, der Futurismus oder gar die Bewegung ‚Dada‘ zu erklären, die allesamt anfänglich auf Unverständnis des Publikums stießen und in den entsprechenden, publikumswirksamen Ausstellungen lautstark verhöhnt und verspottet wurden.

 

Doch war eben dies die janusköpfige andere Seite der Medaille: Der Freiheit der Künstler steht das Unverständnis und demzufolge die Ablehnung des Publikums gegenüber. Wie hätte es auch anders sein können:

 

„Niemand leitet die Menge und was soll sie im lauten Getöse der derzeitigen Meinungen anfangen?“,

 

schrieb Émile Zola (1840–1902) in einer seiner mutigen Kunstkritiken in dieser Zeit des kulturellen Umbruchs. Dabei beobachtete er einerseits jene Künstler, die sich dem Publikumsgeschmack anpassten:

 

„Jeder Künstler hat die Menge an sich gezogen, indem er ihr schmeichelt, indem er ihr die mit rosa Seidenbändchen geschmückten Spielzeuge schenkt, die sie mag. Auf diese Weise ist die Kunst bei uns zu einer riesigen Konditorei geworden, in der es Bonbons für jeden Geschmack gibt.“

 

Die Künstler, fährt Zola fort, hätten sich zu „armselige[n] Dekorateure[n]“ erniedrigt, die Tapeten für die Wohnungen der Bourgeoisie bemalten und sich kurzlebiger, oberflächlicher Beliebtheit erfreuten.

 

„Und diese beschämende Geschäftemacherei, diese wertlosen Schmeicheleien und Bewunderungen finden im Namen der sogenannten heiligen Gesetze der Kunst statt.“

 

Dem stehen im Verständnis Zolas andererseits jene Künstler gegenüber, die sich gerade nicht dem ignoranten Unverständnis des lachenden Publikums beugten und es riskierten, dass ihre Bilder nicht im offiziellen Salon* gezeigt, nicht von der Jury ausgezeichnet und entsprechend nicht verkauft wurden. Für den Zeitgenossen Zola steckte darin schon die „ewig gleiche Geschichte der [erst] verhöhnten und dann fanatisch bewunderten Talente“, die er bereits von Eugène Delacroix (1798–1863) und Gustave Courbet kannte und in dem Schicksal Édouard Manets (1832–1883) wiederentdeckte. Feinsinnig stellte er fest:

 

„Er [Manet] befindet sich an dem Punkt, wo die Lachstürme sich allmählich legen, wo das Publikum Seitenstechen hat und nichts lieber möchte, als wieder ernst zu werden.“

 

Das Neue, das ‚Moderne‘ dieser Kunst liegt in ihrer Unabhängigkeit von den Erwartungen eines Auftraggebers oder eines Publikums, dessen Kunstgeschmack und -verständnis auf die Vorgaben staatlicher Akademien zurückgehen und in diesen ein verlässliches Koordinatensystem zur Beurteilung von Kunst zu finden meinten. Irritation als künstlerisches Mittel, die Anregung von Reflexion gerade durch die Nicht-Erfüllung von Erwartungen und Gewohnheiten war diesem Publikum noch vollkommen fremd.

 

Auszug aus dem Glossar:

 

Kunstimmanente Ziele: Ziele, die innerhalb der Diskussion über Kunst verbleiben, statt über die Kunst hinaus beispielsweise der Weltdeutung zu dienen. Eine typisch kunstimmanente Frage ist die nach dem Wesen und der Eigenart von Kunst.

Prädestination: Auf der Grundlage von Schriften des Apostels Paulus (Römerbrief 8,28–30; Epheserbrief 1,3–14) und des Kirchenvaters Augustinus († 430) entwickelte Lehre von der Vorherbestimmung des Menschen zu ewiger Seligkeit oder Verdammnis. Der problematischste Teil dieser Lehre ist die sich aus ihr ergebende, theoretische Unmöglichkeit eines freien Willens, damit einer eigenständigen Entscheidung des Menschen für das Gute oder das Böse, aus der seine Seligkeit oder Verdammnis folgt.

 

 

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