Max Imdahl, Moderne Kunst und visuelle Erfahrung, in: Ders., Zur Kunst der Moderne. Gesammelte Schriften, Bd. 1. Hg. v. Angeli Janhsen-Vukicevic, Frankfurt am Main 1996, S. 328-340.
Teil 2: S. 329-
Nach der geradezu programmatischen, weit über den Vortrag hinausreichenden Einleitung geht Imdahl im Folgenden konkret auf drei Werke von Max Bill, Josef Albers und Giuseppe Spagnulo ein. Und auch hier ist sehr gut zu beobachten, wie genau er die Werke betrachtet. Es ist beeindruckend, wie viele Aspekte in seine Beschreibungen einfließen. Hierbei kommt ihm zweifellos seine Erfahrung als Künstler zugute, der, wie es Franz Marc einmal formuliert hat, "unendlich feinere Sinne" als der 'gewöhnliche' Mensch haben muss.*
I. Max Bill,
feld aus sechs sich durchdringenden farben,
1966/67
(150 x 155 cm)
Zunächst beschreibt Imdahl das aus Quadraten und gleichschenkligen Dreiecken in verschiedenen Farben bestehende Bild.
In einem zweiten Schritt arbeitet er eine Reihe von "Folgeordnungen" heraus, also Strukturen oder Systematisierungen, die sich erst einem zweiten Blick erschließen, das Bild und seine Wahrnehmung zweifellos aber prägen, noch dazu das Bild über sich selbst hinaus erweitern, denn die Strukturen - in der Hauptsache Reihungen - regen dazu an, über den Bildrand hinaus fortgesetzt zu werden. Andererseits gibt es Stellen, an denen sich das Bild bzw. die Struktur einer solchen imaginären Erweiterung verschließt. "Das Bild ist ein Gesamtsystem, in dem sämtliche Formen und Farben teilhaben sowohl an einer offenen, ergänzbaren als auch an einer geschlossenen, unergänzbaren Folgeordnung, so daß Vorstellungen der potentiellen Unendlichkeit und Erfahrungen der aktuellen Endlichkeit ineinsfallen." (S. 330)
Mit der Dialektik von Unendlichkeit und Endlichkeit geht die der Vieldeutigkeit und Eindeutigkeit einher. Sie scheinen einander zugleich aus- und einzuschließen. Diese eindeutige Uneindeutigkeit "der konkreten Erfahrung zugänglich zu machen ist die Leistung des Bildes." (331) Es lässt den Betrachter zugleich die Erfahrung von Ganzheit und Endlichkeit machen - denn das Bild ist ohne weiteres im Ganzen und damit als endliches Ganzes wahrnehmbar - wie auch die von Offenheit und Unendlichkeit, denn die Imagination kann das Bild jederzeit über seine Grenzen hinaus erweitern.
"Die moderne Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts ist wie keine andere eine Demonstration frei produzierender Einbildungskraft." (331)
II. Josef Albers, Strukturale Konstellation, 1957/58
Wiederum steht am Beginn der Auseinandersetzung mit der "Strukturalen Konstellation" von Josef Albers eine eingehende Beschreibung unter Zuhilfenahme der entsprechenden Fachterminologie, in diesem Fall der geometrischen Fachbegriffe: was Albers hier zeige, so Imdahl, sei ein "inversionssymmetrisches Flächensystem". (331) Eine bestimmte optische Wirkung werde erzielt, nämlich "perspektivische Raumerfahrung", der "sich das Auge gar nicht entziehen kann". (331f) Andererseits beruht diese suggestive Raumerfahrung auf einem Paradoxon, dem in der Wirklichkeit - im realen Raum - nichts entspricht. Es handle sich um eine "Bildlichkeit [...], in der die Projektion etwas projiziert, das nur in der Projektion bestehen kann." (332)
Es geht also um Verwirrung bzw. Irritation. Im Grunde werde das Auge überfordert. "Es ist geradezu von einem unauflöslichen Konflikt zu sprechen." (333) Das Auge strebt danach, die "Konstellation" als Ganzes aufzufassen und wahrzunehmen, doch muss es, um sich orientieren zu können, das Ganze in Teile aufteilen und auf diese Weise immer einen Teil des Bilds ignorieren. Das Bild gibt dabei allerdings keinerlei Hilfe, die beispielsweise in einer Wertigkeit eines der Teile bestehen könnte. Die Teile erscheinen stattdessen als absolut gleichwertig. Deshalb wechseln sie auch beständig untereinander, "weil es keine Vorherrschaft der einen Lesart über die andere gibt." (333)
"Die Perspektive vereinnahmt unser Betrachter-Ich, also das Subjekt des Betrachters, und läßt es nicht zur Ruhe kommen." (333)
"In ihrem besonderen wechselseitigen Bestimmungsverhältnis von symmetrischem Ebenensystem und wechselnden Raumerfahrungen stellt die 'Strukturale Konstellation' von Josef Albers sozusagen einen Ermöglichungsfundus oder ein Ermöglichungsangebot immer wechselnder und immer partieller, das heißt immer nur teilweise geltender und immer nur teilweise richtiger Raumerfahrungen dar, wobei diese partiellen Raumerfahrungen das Ganze in seiner Ganzheit niemals einholen können." (334)
Wer sich auf das Werk einlässt, hat zwei Möglichkeiten: Entweder sieht er darin einen sich selbst genügenden optischen Trick, eine "trickreiche optische Verunsicherung". (334) Oder er sieht mehr darin: die Einladung zum Nachdenken "darüber, wie irrational das Rationale ist oder wieviel Irrationalität in Rationalität einbeschlossen sein kann." (335) Das schließt das Nachdenken über unseren Wirklichkeitsbegriff mit ein: gibt es eine messbare äußere Realität oder ist diese sogenannte Realität nicht allein eine Projektion in unserem Bewusstsein? Und in welchem Verhältnis zueinander stehen sie, in welcher Weise wirken sie aufeinander ein?
"Man kann sich im Anblick der 'Strukturalen Konstellation' der Frage hingeben, wie weit unser Sehvermögen reicht, wenn es durch ein Werk entsprechend programiert wird, welche Einsichten dem Sehvermögen und nur dem Sehvermögen zugänglich sind." (335)
Zugleich wird auf diese Weise deutlich, dass visuelle Erfahrung etwas Einzigartiges ist, das durch keine sprachliche Form oder Gedankenkonstruktion ersetzbar ist.
III. Giuseppe Spagnulo,
Grande Diagonale ("Die große Diagonale"), 1974
(45 x 166 x 200 cm);
Bochum, Kunstsamm-lungen der Ruhr-Universität, Slg. Paul Dierichs
Da es sich in diesem Fall um eine Skulptur bzw. Plastik handelt, bezieht Imdahl in seine Beschreibung auch die räumliche Beziehung zum Betrachter mit ein: die Skulptur befindet sich auf dem gleichen Boden, auf dem auch der Betrachter steht "ohne jede Isolierung durch einen Sockel". (336)
Auch die Skulptur ist ungegenständlich, stellt nichts Gegenständliches dar. Sie "ist, was sie darstellt" (336): eine Gruppierung von drei 'Stahlbrammen, die vom Künstler an unterschiedlichen Stellen mit einem Schneidbrenner bearbeitet wurden und sich als dessen Folge in ihrer Form verändert haben.
"Indem Spagnulos Plastik ohne jede Beziehung zu Dingen oder Formen außerhalb ihrer selbst ist, fällt sie unter die Gattung der sogenannten konkreten Plastik. Die konkrete Plastik ist, was sie darstellt." (336)
Die 'Stahlbrammen' sind von Spagnulo auf verschiedene Weise bearbeitet worden; als Produkt dieses Vorgangs "halten die drei Elemente in jeweils verschiedenen Graden ihr materialspezifisches Reagieren auf materialspezifische Verletzungen fest." (337)
"Jedes Element erleidet gewissermaßen sein eigenes Schicksal, aber dennoch ist jedes Element auf die anderen bezogen." (337)
Und da das nachfolgende jeweils als die Fortsetzung des vorangehenden erscheint, weist die Reihung wiederum über das Werk hinaus in die Unendlichkeit hinein.
Auch in diesem Fall ist Imdahls Beschreibung lesenswert, denn sie bezieht eine Reihe von Elementen und Aspekten mit ein, die zu thematisieren bei der Betrachtung keineswegs selbstverständlich ist. So bezieht Imdahl nicht nur den Boden - den fehlenden Sockel - mit ein, sondern ebenso die Art der 'Verletzung' der Stahlelemente, ihre Verformung in Bezug auf die jeweils anderen Elemente, ihren Abstand, die Art und Wirkung der Diagonalen, die sich durch die Elemente hindurchzieht, und nicht zuletzt die Aktivität, die die Skulptur in der Imagination des Betrachters hervorruft: die "Imagination des Unendlichen". (339)
Imdahls interpretatorische Beschreibung geht aus von der Sicht auf die Schneidbrennerspuren als Verletzungen. Durch diese werden die ursprünglich seriellen Elemente der 'Brammen' einerseits unverwechselbar, andererseits verweisen sie auf die Unendlichkeit. Während der Gedanke der 'Verletzung' als negativer Eingriff zu sehene wäre, könnte eine andere Interpretation auch von einem postitiven Eingriff im Sinne der Herstellung von Unverwechselbarkeit, der Schaffung von Individualität also ausgehen. Beiden Interpretationen spricht Imdahl unbedingte Berechtigung zu, denn "Werke der modernen Kunst lassen oft unterschiedliche, zuweilen sogar gegensätzliche Deutungen zu", wie Imdahl ausdrücklich bemerkt (339f).
Abschließend thematisiert Imdahl noch einmal den Grundgedanken dieses Vortrags-Texts: Es gibt endliche Systeme (Kunstwerke), die "eine Vorstellung des Unendlichen" hervorrufen. Und eben dieser Gedanke solle im Sinne eines "Anschauungsmodell" dazu anregen, über uns selbst und unser Nachdenken nachzudenken. Denn das ist der Sinn von Kunst: Über sich selbst hinauszuweisen und den Betrachter dazu anzuregen, über sich selbst, die Bedingungen seiner Wahrnehmung und die Bedingtheit der daraus zu ziehenden Schlüsse nachzudenken.
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* Franz Marc, Aufzeichnungen auf Blättern in Quart, in: Klaus Lankheit (Hg), Franz Marc. Schriften, Köln 1978, S. 99f, hier S. 100.
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