Diedrichs liest Imdahl (Teil 10): Moderne Kunst und visuelle Erfahrung

Max Imdahl, Moderne Kunst und visuelle Erfahrung, in: Ders., Zur Kunst der Moderne. Gesammelte Schriften, Bd. 1. Hg. v. Angeli Janhsen-Vukicevic, Frankfurt am Main 1996, S. 328-340.

 

Der Text war ursprünglich ein Vortrag. Daher ist er überschaubar und sehr pointiert. Imdahl selbst bezeichnet das, was er dort tut, als ein Experiment, das darin bestehen werde, drei Werke der modernen, gegenstandslosen Kunst zu betrachten. Da der Text 1979 entstanden ist, wird es sich um Werke der Nachkriegszeit handeln, und tatsächlich sind sie von 1966/67 (Max Bill), 1957/58 (Josef Albers) und 1974 (Giuseppe Spagnulo). Mindestens mit letzterem Werk gibt Imdahl die sichere Distanz des Historikers auf und bespricht ein Werk, ohne dessen Rezeptionsgeschichte  kennen zu können.

 

Zu Beginn seines Vortrag formuliert Imdahl einige Voraussetzungen, die weit über seinen Vortrag hinausgreifen und hineinführen in den Bereich der Kunstbetrachtung und -analyse. Obowhl sie eigentlich jedem Kunsthistoriker auf die Fahne geschrieben sein müssten, sind diese "Voraussetzungen" auch fast 40 Jahre nach ihrer Formulierung noch längst nicht überall eine Selbstverständlichkeit (und deshalb ist es auch so wichtig, einen vordergründig schon so 'alten' Text erneut zu lesen und in die Erinnerung zurück zu holen).

 

Denn, auch das formuliert Imdahl zu Beginn, Kunst und Kunstbetrachtung genügen nicht sich selbst, sondern sie sollen unsere Sensibilität, unsere Art der Wahrnehmung von Wirklichkeit kultivieren. Sie sollen uns dazu anregen, über die Wirklichkeit nachzudenken "und uns zu Einsichten führen, die sonst - ohne diese Werke - nicht oder jedenfalls nicht so leicht zu gewinnen sind." (S. 328)

 

Wer schon einmal Analysen von Kunstwerken gelesen oder - beispielsweise im Rahmen einer Museumsführung oder eines Vortrags - gehört hat, der weiß, wieviel Gelehrsamkeit häufig aufgewendet wird, um die historischen Umstände der Entstehung eines Kunstwerks zu erklären. Bis heute gefallen sich Vortragende darin, letztlich nichts weiter zu tun, als ihre eigene Gelehrsamkeit zu dokumentieren und auszustellen, wenn sie vorgeben, ein Kunstwerk zu 'erklären'.

 

Imdahl geht programmatisch einen anderen Weg: nicht seine Vorbildung soll im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, sondern das, was die Kunstwerke selbst zeigen. Man könnte auch sagen: Imdahl will nichts an die Werke heran tragen und in sie hinein legen, was nicht tatsächlich in ihnen liegt und aus ihnen heraus geholt werden kann. Das ist seine erste Voraussetzung und sie geht, wie gesagt, weit über diesen einen, kleinen Vortrag hinaus, berührt die Grundlagen der Betrachtung von Kunstwerken überhaupt.

 

Sie berührt eine Grundeinstellung gegenüber der Kunst, die Imdahl in das Wort "Unvoreingenommenheit" kleidet. "Unvoreingenommenheit heißt, daß wir nicht von einem schon etablierten, vorgefaßten Kunstbegriff ausgehen, sondern offen und zugleich nachdenklich auf das, was wir noch nicht gesehen und so noch nicht gewußt haben, hinsehen." (328)

 

Gerade dies aber fällt bis heute unglaublich schwer. Gewöhnlich suchen wir den Zugang zu etwas, das wir noch nicht kennen, über einen Text. Wir häufen erst Wissen an, bevor wir uns beispielsweise auf ein Kunstwerk einlassen. Es war bereits (und wieder einmal) Goethe, der die daraus resultierende Erfahrung in das eingängige Wort fasste: "Man sieht nur, was man weiß."*

 

Imdahl versucht, genau den anderen Weg einzuschlagen, um auf diese Weise dem Kunstwerk die Möglichhkeit zu geben, eigenständig etwas zu vermitteln, das neu ist und das es so noch in keinem anderen Medium - auch nicht dem der Schrift - gibt. Aus diesem Grund mahnt er die Unvoreingenommenheit an. Sie ist ein Wagnis, denn dafür muss man das Geländer des Vertrauten loslassen. Aber sie ist auch die Chance, etwas Neues zu erfahren, neue Anregungen zu erhalten, die zu neuen Erkenntnissen führen können. Das ist gewissermaßen das Lebenselixiert der Kunst und überhaupt alles Lebenden: "Die Kunst ist immer auch anders als unsere mitgebrachte Vorstellung von ihr. Wäre das nicht so, käme sie zum Stillstand, könnte sie nicht leben." (328) Und indem uns die Kunst Neues vermittelt oder bewusst macht, erweckt sie Bewusstsein.

 

Kunst ist also erst dort wirklich lebendig, wo wir ihr die Möglichkeit geben, sie selbst zu sein und selbst zu Wort zu kommen. Das geht nur, wenn wir ihr unvoreingenommen begegnen. Erst dann kann sie unser Bewusstsein erweitern, Bewusstsein überhaupt erst schaffen.

 

Diese Aussagen gehen wahrlich weit über die drei Kunstwerke hinaus, die Imdahl im Folgenden besprechen will.

 

Offenbar aus leidvoller Erfahrung macht er aber noch eine zweite Voraussetzung für seine folgende Analyse und auch diese hat Geltung für die Betrachtung von Kunstwerken im Allgemeinen, in diesem Fall ganz besonders der von moderner Kunst. Hierbei geht es um die allenthalben hörbare Aussage: 'Das kann ich auch!' Um zu zeigen, wie unzutreffend diese beliebte Feststellung ist, unterscheidet Imdahl zwischen (handwerklicher) Ausführung und Erfindung bzw. Konzeption. "Viele von uns können mathematische Regeln anwenden - wohl kaum einer von uns könnte sie erfinden." (329)

 

Die Leistung, dessentwegen ein Künstler Künstler genannt und als solcher geachtet wird, ist aber nicht die Anwendung von Regeln, sondern ihre Entwicklung. Das Kunstwerk, gerade das moderne, ist indessen häufig nur das materiell fassbare Ergebnis am Ende einer langen Erfindungs- und Entwicklungsphase.

 

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* Vgl. Christof L. Diedrichs, Die Königshalle in Lorsch. Wiedergeburt der Antike im frühen Mittelalter (= einblicke. Kunstgeschichte in Einzelwerken 1), Freiburg i. Brsg./ Norderstedt 2015, S. 7-11.

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