Diedrichs lies Imdahl (Teil 9): Barnett Newman und Frank Stella

Max Imdahl, Barnett Newman, "Who's Afraid of Red, Yellow and Blue III, in: Ders., Gesammelte Werke, Band 1. Hg. v. Angeli Janhsen-Vukicevic, Frankfurt am Main 1996, S. 244-273.

 

S. 265-273 (Schluss)

 

Imdahl zufolge verfolgt Mark Rothko mit seinen großformatigen Werken, die "vor allem Sensationen in Farbe" seien, den gleichen Weg wie Barnett Newman.

 

Mark Rothko, Mural. Section III, 1959 (247 x 420 cm); Privatbesitz

 

Auch Rothkos Bilder sollen aus entgrenzender Nähe wahrgenommen werden, so dass die Farben "wie in der Schwebe zwischen Verhüllung und Enthüllung [erscheinen]. Schwerelos, das heißt schwebend sind auch die Formen im Bildfeld, und auch sie selbst erscheinen als solche wiederum wie in einer Schwebelage, gleichermaßen als sich bildende und sich auflösende Phänomene." (265)

 

Steht der Betrachter nahe genug vor einem solchen Bild, so tut sich die Bildfläche als Bildraum auf, in dem die angedeuteten Formen wie im freien Raum zu schweben scheinen, ohne irgendwo befestigt zu sein.

 

"Das Bild eröffnet dem Beschauer eine Möglichkeit seiner bedingungslosen, selbstvergessenen Versenkung in eine imaginäre Traum- und Jenseitswelt." (265)

 

Allerdings unterscheiden sich Rothko und Newman dadurch, dass ersterer die Aufmerksamkeit des Betrachters innerhalb des Bildraums hält, dessen Grenzen also gerade nicht überschritten werden. Der Betrachter bleibt im Rahmen des durch das Bild vorgegebenen, begrenzten Bildraums, während er sie bei Newman imaginär überschreitet.

 

Auch Rothkos Bilder setzen im Übrigen über die Möglichkeit, sie in größter Nähe ansehen zu können, hinaus eine bestimmte Art der Präsentation voraus, die im Museum allerdings in den seltensten Fällen geboten werden kann: seine Bilder sollten nicht voll ausgeleuchtet sein, sondern in Dämmerlicht gezeigt werden, so dass Bildraum und Realraum nicht genau bestimmbar sind, ineinanderfließen. Rothko will auf diese Weise "die diffuse Raumillusion seiner Bilder in die Realität integrieren." (267) In dieser Hinsicht ist Imdahls Feststellung also offenbar zu relativieren, die Aufmerksamkeit des Betrachters solle bei Rothko innerhalb der Bildgrenzen verbleiben. Auch hier werden diese Grenzen durchlässig.

 

 

Ein typisches Merkmal amerikanischer Kunst seit dem 1940er Jahren

 

Die Größe der Leinwände, die Newman - wie auch andere, amerikanische Kollegen - verwendet, kann als typisch amerikanisches Merkmal bezeichnet werden. Darin steckt nicht zuletzt eine Absage an die europäische Tradition des Tafelbilds mit seiner auf Überschaubarkeit abzielenden und sie voraussetzenden Komposition: "Die Unüberschaubarkeit des Bildes entspricht dessen antikompositionelle Binnenstruktur." (267) Wir haben gesehen, dass Newmans Konzept des Erhabenen gerade auf diesen Markmalen - Unüberschaubarkeit, Vermeidung von Komposition - fußt. Jedoch gibt es dazu innerhalb der gegenstandslosen, amerikanischen Malerei auch Gegenpositionen. Beispielsweise geht Frank Stella gerade anders vor, wenn er - z.B. in "Quathlamba" (1964) - gerade den Bildumriss zum Thema macht, wie er zugleich auch auf kompositionellem Weg die Form im Bild für den Betrachter fassbar macht.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Frank Stella, Quathlamba, 1964 (194 x 414 cm); New York, Slg. Carter Burden

 

Damit rekurriert Stella auf Piet Mondrian, setzt sich zugleich aber auch von ihm ab: "Stella thematisiert nicht das den Teilen übergeordnete und diesen erst Sinn gebende Ganze, sondern die Teile selbst und deren unhierarchische Reihung." (268) In "Quathlamba" tut er dies beispielsweise durch eine variierende Reihung eines v-förmigen Elements, welches das Bildformat bzw. die Bildgrenzen dadurch thematisiert, dass es sich auf unterschiedliche Weise genau in diese einpasst. Allerdings ist der Bildumriss nicht, wie beim Tafelbild, festgelegt, bevor der Prozess des Einpassens der Formen beginnt, sondern er ergibt sich erst durch die Addition der in der Farbe variierenden, in der Form aber gleichen Formen.

Das Bild einschließlich seines Formats ergibt sich durch die konsequente Anwendung einer einzigen Regel: die v-förmigen Elemente jeweils an ihrer Längsseite aneinanderzufügen. "Die Regel ist simpel, aber indiskutabel und unmittelbar sichtbar." (268) Das bedeutet indessen auch, dass auch der Künstler samt seinem kreativen Geist außen vor bleibt. "Es gibt keine schöpferische Geste des Künstlers, und es gibt keine Verstehensswierigkeiten auf Seiten des Beschauers." (268)

 

"In 'Quathlamba' ist das Verhältnis der Teile zum Ganzen nicht, wie in Mondrains 'Komposition aus Rot und Schwarz', ein einmaliger, individuelle verwirklichter Ausdruck einer allgemeinen, an Balance und Harmonie orientierten Ganzheitsvorstellung und auch nicht allein der ästhetischen Sensibilität des Beschauers zugänglich, sondern es ist rational bestimmt, nämlich vollkommen durchschaubar und prinzipiell ohne Anspruch auf eine nichtrationale Evidenz." (268f) 'Quathlamba' ist gewissermaßen durch und durch systematisch ('Systematic Art').

 

Die beiden Werke von Newman ("Who's Afraid of Red, Yellow and Blue III") und Stella ("Quathlamba") können "innerhalb der gegenstandslosen amerikanischen Malerei Extremmöglichkeiten des durch die Komposition, das heißt durch die Funktion der Harmonisierung und Idealisierung (durch die 'etablierte Rhetorik der Schönheit') nicht mehr legitimierten Bildes bezeichnen." (269) Newman zielt mit seinem Konzept auf Überwältigung und Erhöhung ("exaltation"), während Stella im Gegenteil mithilfe der durch und durch rationalen Struktur seiner 'shaped canvas' jeden möglichen emotionalen Zugang verweigert. Diesen sucht Newman aber gerade, wenn er mithilfe des Formats dem Betrachter zu einem Erleben zu verhelfen strebt, das durch und durch emotional ist, ihn zu sich selbst bringt: er soll sogar "zur moralischen Person" erhoben werden. "Der Zusammenhang zwischen Erhabenheitserlebnis und Moralität", so schließt Imdahl seinen Aufsatz ab, "ist gar nicht zu bezweifeln. Kunst soll 'Ethik, nicht Ästhetik' sein (Newman). Barnett Newmans Anspruch an die gegenstandslose Malerei ist außerordentlich." (269f)

 

 

 

 

Der nächste Aufsatz, der an dieser Stelle vorgestellt wird, wird Imdahls Text "Moderne Kunst und visuelle Erfahrung" (1979) sein.

 

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