Diedrichs liest Imdahl (Teil 8): Vom 'Betrachter' zum 'Erlebenden'

Max Imdahl, Who's Afraid of Red, Yellow and Blue III, in: Ders., Zur Kunst der Moderne. Gesammelte Schriften, Bd. 1, hg. v. Angeli Janhsen-Vukicevic, Frankfurt am Main 1996, S. 244-273.

 

 

Abschnitt 8: S. 262-266.

 

Als eine Art Zwischenbeobachtung können wir an dieser Stelle schon einmal zwei bemerkenswerte Feststellungen machen.

  1. Imdahl entwickelt mit seinem Aufsatz über Newmans Bilder Möglichkeiten der Beschreibung und Analyse von Kunstwerken, die nicht nur ungegenständlich sind, sondern auf denen darüber hinaus bei einem flüchtigen Blick überhaupt kaum etwas zu sehen ist.
  2. Und dazu bedient er sich in unspektakulärer Weise des althergebrachten, kunstwissenschaftlichen Mittels des Vergleichs.

 

So wird deutlich, dass Version III des Bilds "Who's Afraid of Red, Yellow and Blue" aufgrund der Gliederung in drei unterschiedlich große Farbflächen oder -streifen ganz anders funktioniert als die anderen Versionen.

 

Barnett Newman, Who's Afraid of Red, Yellow and Blue IV, 1969-70; Berlin, Nationalgalerie

 

In der Version III ist das die rote Fläche nicht unterbrochen, das Kontinuum des Rot wird nicht gestört, ist also nicht nur potentiell (= möglich, vorstellbar), sondern aktuell (= verwirklicht, sichtbar). Dagegen sind die Farbstreifen, die ganz an den Rand gerückt sind, auf ein Minimum reduziert, nicht nur in ihren Ausmaßen, sondern vor allem in ihrer Wirkung, die von einem Spannungsverhältnis geprägt ist.

Barnett Newman, Who's Afraid of Red, Yellow and Blue II, 1967; New York, Sammlung Anna Lee Newman

 

Außerdem wirkt auf diese Weise in Version III das Rot noch ein wenig dominierender. Imdahl spricht von der "ausdrückliche[n] Evokation der Riesigkeit des Rot". (S. 262)

 

Dennoch aber sind die zu Randstreifen minimierten Farbstreifen notwendig, denn sie erweitern das Bild im Auge und im Empfinden des Betrachters über den Bildrand hinaus "in eine neue, übergreifende Totalität". (262) Optisch ist der Betrachter also versucht, die gewissermaßen angebrochenen Farbstreifen zu vervollständigen und er greift dabei unwillkürlich über die Bildgrenzen hinweg in den Raum, der das Bild umgibt.

 

Das ist noch deutlicher, wenn Newman, wie in "Chartres" (1969), die Leinwand so beschneidet, dass ihre scheinbare Unvollständigkeit noch unmittelbarer spürbar wird und der Betrachter auf diese Weise noch unwillkürlicher auf die Herausforderung reagiert, das Bild über seine Grenzen hinweg zu erweitern.

Barnett Newman, Chartres, 1969; New York, Sammlung Annalee Newman

 

Die vertikal angeordneten, durch die Schräge fragmentierten Streifen verlangen suggestiv unbedingt eine Erweiterung nach oben und wirken in dieser Weise "exzentrisch", wie Imdahl (263) sich ausdrückt. Durch ihre Fragmentierung "evozieren" diese unvollständigen Streifen also "Totalität", rufen das Bestreben nach Vollständigkeit hervor: sie wirken über die Grenzen des Bilds hinaus in den Raum hinein, der die Leinwand umgibt, denn der Betrachter möchte das Bild in diesen Raum hinein fortsetzen, um das scheinbar fragmentierte Dreieck mit den abgeschnittenen Streifen zu einem Rechteck zu vervollständigen (wie das beispielsweise in "Who's Afraid II" verwirklicht ist).

 

"Das symmetrische Dreieck wird sozusagen zu einem exzentrisch verschobenen Ausschnitt aus einem potentiell unbegrenzten symmetrischen Vertikalsystem." (263)

 

Auf diese Weise wird deutlich, dass das Bild im Empfinden des Betrachters die Begrenzung durch das Ende der Bildfläche verweigert. Im Erleben des Betrachters strebt das Bild unablässig danach, sich weiter auszubreiten in den Raum hinein (warum beispielsweise ein Bildrahmen ebenso hinderlich wäre wie die Begrenzung, die den Betrachter im Museum auf Abstand zum Bild hält.

 

Seitenblick in die Wissenschaftsgeschichte

 

Was Imdahl hier bereits 1971 tut, wird innerhalb der Kultur- und Sozialwissenschaften des folgenden halben Jahrhunderts immer mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Wäre er nicht bereits 1988 verstorben, so hätte Imdahl mit Sicherheit die Performativitätsforschung in entscheidender Weise mitgeprägt. Denn seine Analyse der Werke Barnett Newmans basiert auf der - aus der Sicht der kunstwissenschaftlichen Forschung neuartigen - aktiven Beteiligung des Betrachters am Kunstwerk. Imdahl nennt den Betrachter an dieser Stelle noch "Beschauer", tatsächlich wird er aber eigentlich zu einem "Teilnehmer" am Kunstwerk, denn er muss aktiv werden, muss mit Hilfe seiner Fantasie das Kunstwerk in Bewegung versetzen, damit es 'gelingt' oder, klassischer formuliert, 'vollendet' wird.

 

So setzen beispielsweise Imdahls Überlegungen zu einer "übergreifende[n] Totalität" die Gegenwart und Bereitschaft zur Mitwirkung eines Betrachters voraus, dessen Fantasieleistung das Kunstwerk überhaupt erst vervollständigt (wenn eine 'Vollständigkeit' überhaupt möglich ist). Ohne diese Leistung des Betrachters oder - eben - Teilnehmers bleibt das Kunstwerk unfertig.

Imdahl arbeitet hier also implizit bereits mit einem Werkbegriff, der wenig später im Rahmen der Performativitätsforschung von größter Bedeutung werden wird und der sich dann auch in spektakuläreren Formulierungen wie "Der Betrachter ist im Bild" (Wolfgang Kemp, 1985) ausdrücken wird.

 

Caspar David Friedrich, Mönch am Meer, um 1808-09; Berlin, Alte Nationalgalerie

 

Und tatsächlich wechselt Imdahl an dieser Stelle seines Texts über "Who's Afraid III" die Terminologie: er vergleicht Barnett Newmans "Who's Afraid" mit Caspar David Friedrichs "Mönch am Meer" und spricht nun vom Betrachter nicht mehr - wie zuvor - als dem "Beschauer", sondern als dem "Erlebenden".

 

Das entspricht in vielem den von der Theaterwissenschaft geprägten Begriff des "Teilnehmers".

Gerade das Bild "Chartres", aber auch die verschiedenen Versionen von "Who's Afraid" machen deutlich, in welchem Maß der Rezipient, der Besucher vor dem Bild, selbst aktiv werden muss, damit das Bild aussagekräftig wird, damit es also 'funktioniert'.

 

Das Bild wird erst zum Kunstwerk, indem der betrachtende, fantasierende, empfindende, erlebende Besucher seine Rolle in dem 'Spiel' annimmt und mithilfe seiner Fantasie die vielfältigen Grenzen des Leinwandbilds als durchlässig und vorübergehend empfindet - indem er sie überschreitet und erweitert.

 

Der 'Erlebende' wird damit zu einem konstitutiven Teil des Kunstwerks, das im Grunde nicht mehr ein 'Werk' im Sinne einer durch einen Künstler hervorgebrachten, materiellen Manifestation ist, sondern ein Konzept.

 

Nur benennt es Imdahl noch anders: "Die Rolle des Erlebenden kommt dem Beschauer in eigener Person zu, und das zu Erschauende ist das unmittelbare, das heißt nicht auf eine Naturerscheinung bezogene Kontinuum." (265)

 

Entsprechend wird aus dem 'erlebenden Betrachter' nun gar der "in eigener Person unmittelbar Betroffene", und auch hier wird deutlich, inweiweit sich das Verhältnis zwischen Kunstwerk und Rezipient oder "Besucher" in den Werken Jackson Pollocks, Clyfford Stills, Barnett Newmans und Mark Rothkos - also der führenden Vertreter der amerikanischen Malerei unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg - tatsächlich verändert hat.

 

Für sie alle gilt der von der Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte geprägte Satz: "Jeder Zuschauer erschafft sich seine eigene Aufführung."* Auf die bildende Kunst übertragen können wir entsprechend sagen, dass sich jeder Betrachter - Beschauer, Teilnehmer, Erlebene, Betroffene - sein eigenes Kunstwerk erschafft - nicht materiall, denn an Leinwand und Farbe wird nichts mehr verändert, sobald das Werk im Museum hängt, sondern an dem, was das materielle Kunstwerk erst zum Leben erweckt und vervollständigt: an dem, was im Bewusstsein des Betrachters oder Teilnehmers von diesem Kunstwerk ankommt und dort damit geschieht. Denn dort entsteht das eigentliche Kunstwerk, nicht aber auf der Leinwand, auf die Farbe aufgetragen wird - das ist eine der wirklich faszinierenden Einsichten der Kultur- und Sozialwissenschaften der vergangenen 30 Jahre, die die Sicht auch auf ältere Kunst nachhaltig verändert hat.

 

 

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*  Erika Fischer-Lichte, Grenzgänge und Tauschhandel. Auf dem Weg zu einer performativen Kultur, in: Uwe Wirth (Hg), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2002, S. 277-300, hier S. 283.

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