Diedrichs liest Imdahl (Teil 7): eine neue Form der Totalität

Max Imdahl, Barnett Newman, "Who's Afraid of Red, Yellow and Blue III", in: Ders., Zur Kunst der Moderne. Gesammelte Schriften, Band 1, hg. v. Angeli Janhsen-Vukicevic, S. 244-273.

 

Nach der Darstellung der Theorie des Erhabenen, die von Edmund Burke zu Barnett Newman führe und von der für Newman besonders die Erfahrung des Ungewohnten wichtig wurde - das Erlebnis des Erhabenen werde erst durch die Erfahrung des Ungewohnten möglich -; nach dem Hinweis schließlich auf die Abwendung der Kunst Barnett Newmans von einem Konzept äußerer Schönheit hin zu einem Konzept des Erlebnisses des Erhabenen, das für den jeweiligen Betrachter eines Bilds im optimalen Fall in der Überwältigung durch die Erfahrung der eigenen Präsenz besteht, wendet sich Imdahl dem Bild "Who's Afraid of Red, Yellow and Blue III" zu und befragt es auf diese Erfahrung des Erhabenen hin, durch die der Betrachter sich seiner selbst, seiner Präsenz und seiner Freiheit bewusst werden soll.

 

 

Die erste Erfahrung, die der Betrachter vor dem Bild macht, ist die der Größe des Bilds; steht er, wie von Newman gewünscht, ganz nahe davor, so verliert er die Orientierung, erfährt sich selbst als räumlich desorientiert, als ortlos. Er hat keinen Anhaltspunkt, an dem er sich räumlich festhalten könnte, empfindet sich stattdessen als mehr oder weniger frei im Raum schwebend.

Gleichzeitig aber weiß der Betrachter, dass das Bild begrenzt ist. Es befindet sich an einem Ort - und mit ihm der Betrachter - und hat Grenzen, selbst wenn es aus entsprechender Perspektive Anderes suggeriert. Das Erlebnis dieses Changierens zwischen Totalität und Begrenzung gehört für Newman zum Erlebnis der Neuartigkeit und der Erhabenheit des Bilds hinzu.

 

"Die von Newman intendierte Ermöglichung einer alle vertraute Erfahrung übersteigende Erfahrung als die Überwältigung zur Erhabenheit geschieht durch ein ebenes, unüberschaubar großes, begrenztes und zugleich vermöge der Malerei in eine neue Art von Totalität transformiertes Kontinuum." (S. 254)

 

Zeitlich kurz vor Newman hat Jackson Pollock bereits daran gearbeitet, "die Grenzen des rechteckigen Bildes zu ignorieren zugunsten der Erfahrung eines Kontinuums, das in alle Richtungen zugleich und über die faktische Dimension des jeweils gegebenen Werkes hinaus sich erstreckt." (255)

 

Jackson Pollock, Number 32. 1950 (Lackfarbe auf Leinwand), 1950; Düsseldorf Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen

 

Pollocks Technik bezeichnet man als das "polyfokale all-over": '

Polyfokal' = mit einer Vielzahl von optischen Brennpunkten;

'all over' = eine Struktur, die netzartig die gesamte Bildfläche überzieht.

 

"Das polyfokale all-over ist eine antikompositionelle, den Beschauer desorientierende Bedeckungsstruktur, so daß der Beschauer, wo immer vor dem Bildfeld er steht und wohin immer er blickt, die prinzipell gleiche Erfahrung macht und desorientiert ist wie vor einer unüberschaubaren Wand." (255)

 

Was bei Pollock auffällt, ist die Tatsache, dass diese all-over-Struktur tatsächlich potentiell erweiterbar ist über die Grenzen des Bilds hinaus. Imdahl spricht hier von einem "ermalte[n] Kontinuum von grundsätzlich anderer, nicht nur mehr materieller Kategorie", die erweiterbar sei "ins potentiell Unbegrenzte". (256)

 

Ähnliches geschehe bei Newman mit der Farbe Rot. Diese Farbe hat in diesem Zusammenhang keinen symbolischen oder auch harmonisierenden Effekt - jedenfalls wird dieser von Newman nicht angestrebt -, stattdessen zielt die Farbe auf ihre "absolute Qualität" (Newman), die im Bild "Who's Afraid" noch gesteigert wird durch die schmalen Farbstreifen in Gelb und Blau. "Die Farben Rot, Gelb und Blau sind die polaren Buntheiten, und sie drücken zugleich, auch wenn sie als ebene Farbfelder begegnen, verschiedene Raumimpulse und Aktivitäten aus." (257)

 

Diese Farben begegnen auch bei Piet Mondrian, doch hier sind sie durch die orthogonal sich durchkreuzenden Linien gewissermaßen domestiziert.

 

Piet Mondrian, Komposition Nr. 10 (unvollendet), 1938-1942; Privatsammlung

 

Bei Newman dagegen wird ihre Kraft freigesetzt, und von daher wird auch der Bildtitel verständlich, denn nun kann es wirklich geschehen, dass ein Betrachter Angst bekommt vor diesen entdomestizierten, befreiten Farben Rot, Gelb und Blau. "In Mondrians Bildern sind die den Farben Rot, Gelb und Blau innewohnenden spezifischen Energien, auch die des räumlichen Vordringens und Zurückweichens, gegeneinander ausbalanciert im Kontext der Bildkomposition als einem Ausgleichsprodukt all dieser Kräfte." (258)

 

 

Newmans Bild "Vir Heroicus Sublimis" aus dem Jahr 1950 wird ebenfalls geprägt durch die dominierende Farbe Rot.

 

Barnett Newman, Untitled (Vir Heroicus Sublimis), 1950 (Öl-Leinwand, 242.2 x 513.6 cm); New York, Museum of Modern Art

 

Diesmal aber ist die nicht zu erfassende, rote Fläche von fünf schmalen, farbigen Linien unterbrochen, die parallel zu den seitlichen Bildrändern verlaufen und auf diese Weise mit ihnen korrespondieren, ohne indessen eine Regelmäßigkeit oder Ordnung erkennen zu lassen (die ohnehin nicht erkennbare wäre, denn auch für dieses Bild fordert Newman ausdrücklich die größtmögliche Nähe des Betrachters zur Bildfläche). Wieder gibt es keine Kreuzungen von Linien, mithin keine Komposition.

 

Funktion der Streifen scheint es - unter anderem - zu sein, das von ihnen durchbrochene, jedoch fortgesetzte und dominierende Rot als "potentiell grenzenlos und amorph" erfahrbar werden zu lassen. "Niemals hat Newman es bei der Desorientierung bewenden lassen, die schon durch die Unüberschaubarkeit eines riesigen einfarbigen Bildfeldes bewirkt ist." (260)

 

 

"Who's Afraid of Red, Yellow and Blue" ist in seiner zweiten Fassung von 1967 ebenfalls durch senkrechte Farbstreifen gegliedert.

 

Barnett Newman, Who's Afraid of Red, Yellow and Blue II, 1967; New York, Sammlung Anna Lee Newman (305 x 259 cm)

 

Hier allerdings sieht die Aufteilung der Flächen und Streifen anders als als in Version III. Zwar dominiert auch hier das Rot, doch sind die gelben und der blaue Streifen innerhalb der Fläche anders positioniert. Sie scheinen ihren Platz nicht beliebig gefunden zu haben, wirken stattdessen als symmetrische Gliederungselemente. Sie sind hier aktiver als in Version III. Hier "bedingen die Streifen vermöge ihrer Farbstärke gegenüber dem Rot und vermöge ihrer im Bildfeld entschiedenen, symmetrischen Lokalisierung die Erscheinung einer Vertikalstruktur ohne bestimmbaren Anfang und ohne bestimmbares Ende." (261) Wieder verzichtet Newman auf jede Form der Komposition, die Mondrians Bilder harmonisierend ausbalanciert hatten.

 

Die besprochenen Bilder Newmans führen, Imdahl zufolge, "bei aller Verschiedenheit ihrer Erscheinung vor Augen, daß die in homogenen Farbflächen und senkrechten Linien sich entfaltende Malerei Newmans das jeweils gegebene (gewählte), quer- oder hochformatige Bildfeld als eine begrenzte Ebene sowohl legitimiert als auch transformiert in eine durch das Bildfeld nicht mehr eingeschränkte und dieses selbst entgrenzende Totalität ('a new kind of totality'), und zwar durch die Einführung regelloser wie ebenso auch geregelter, symmetrischer Streifenstrukturen." (261f)

 

 

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