Diedrichs liest Imdahl (Teil 6): Newman und das Erhabene

Max Imdahl, Barnett Newman, "Who's Afraid of Red, Yellow and Blue III", in: Ders., Zur Kunst der Moderne. Gesammelte Schriften, Band 1, hg. v. Angeli Janhsen-Vukicevic, S. 244-273.

 

Das Thema, um das es im Zusammenhang von Newmans "Who's Afraid of Red, Yellow and Blue III" geht, ist das Erhabene.

 

Schon nach frühchristlichen Theorien ist mit der Erfahrung des "Erhabenen" eine Erfahrung gemeint, die in einem Erlebnis, nicht aber (primär) in einer intellektuellen Erkenntnis besteht. Es ist nicht auf dem Weg über den Verstand zu vermitteln, sondern nur auf dem Weg des Staunens oder der Erschütterung "machbar".

Darauf hat bereits Edmund Burke (1729-1797) hingewiesen und hat in diesem Erhabenen "die wichtigste Evokation der Kunst erblickt" (S. 248). In Deutschland läuft die Tradition über Kant und Schiller, von dort über Thomas Carlyle (1795-1881) in die angelsächsische Tradition.

 

Das Erlebnis des Erhabenen ist, Burke und Newman zufolge, nur erfahrbar über etwas Ungewohntes. Das Erhabene ist im Gewohnten nicht erspürbar.

Im Zuge seines Versuchs, das Erlebnis des Erhabenen durch die Erfahrung des Ungewohnten zu ermöglichen, wendet sich der Künstler Newman beispielsweise von dem für die Kunst über lange Zeit hinweg konstitutiven Anspruch auf Schönheit innerhalb der Kunst ab.

Die traditionelle Kunst und ihre Orientierung an einem Schönheitsbegriff oder -ideal gibt dem Erlebnis des Ungewohnten in seinem Verständnis nicht genügend Raum. Die "etablierte Rhetorik der Schönheit", so Newman, beherrsche die Welt der Kunst in einem Maße das nicht in jedem Fall erkennbar sei. Auch beispielsweise Geometrie, wie Piet Mondrian (1872-1944) sie verwende, sei letztlich an Schönheit orientiert und stelle sich daher dem Erlebnis des Erhabenen, für das das Ungewohnte konstitutiv sei, eher in den Weg.

Piet Mondrian, Komposition mit großem, rotem Feld, Gelb, Schwarz, Grau und Blau, 1921; Den Haag, Haags Gemeentemuseum

Formal grenzt sich Newman in diesem Sinne von Mondrian beispielsweise dadurch ab, dass er Komposition für seine eigenen Bilder vermeidet. Komposition mache ein Bild aus der Distanz und im Ganzen wahrnehmbar. Bei Mondrian hat jedes einzelne Element im Bild seine Funktion innerhalb der einheitlichen Komposition. Das Bild wäre zerstört, wenn man eines dieser Elemente verändern oder entfernen würde. Es ist Teil eines Ganzen, das vom Betrachter als solches wahrgenommen wird. "Das Bild ist ein idealer Kontext, in dem sich das Verlangen des Menschen nach Anschauung einer in der Realität so niemals hervorscheinenden Harmonie erfüllt wie eben in einem Bilde." (250) Wenn sie so in der Realität auch nie erscheint, so bleibt diese Harmonie doch auf diese bezogen, und eben dieser Bezug, diese Form der Repräsentation, macht sie für das Erlebnis des Erhabenen, welches nur über das Ungewohnte geht, untauglich.

 

Folgerichtig vermeide Newman, so Imdahl, jede Form der Komposition.

 

Barnett Newman, "Who's Afraid of Red, Yellow and Blue III", 1967; Amsterdam, Stedelijk Museum

 

Er vermeide konsequent jedes sich Kreuzen von Linien, die eine Komposition ergeben könnten. Komposition sei "eine Form der Harmonisierung von Gegensätzen" (251), damit zugleich aber auch eine Form, an die wir gewöhnt sind, die wir kennen, selbst wenn sie so in der Natur nicht begegnet: in der Natur gibt es keine Harmonisierung durch Komposition; wenn wir sie dort finden, ist sie von uns selbst aufgrund unserer Erfahrung dort hineingetragen und 'erkannt' worden.

Überwältigung durch das Erhabene aber ist ja, Newman zufolge, nur durch das "Erlebnis einer jede vertraute Erfahrung übersteigende Erfahrung" möglich, also auch nur ohne die uns bekannte Komposition.

 

Und dann formuliert Imdahl einen wesentlichen Gedanken Newmans, der vorher schon einmal kurz anklang. Darin geht es letztlich darum, worauf Newmans Bilder verweisen, wenn sie 'transzendieren', was sie ja grundsätzlich tun wollen.

Wenn europäische Künstler Transzendenz erzeugen, transzendierend arbeiten wollen, verweisen sie mit ihren Bildern demnach auf eine Realität, eine Wirklichkeit, die außerhalb ihrer selbst liegt. Wörtlich ist das die Bedeutung des Begriffs "transzendieren": die eigene Realität übersteigen.

Newmans Bilder dagegen verweisen den Betrachter auf sich selbst: "Der Beschauer selbst ist thematisiert als der im Anblick der erhabenen Erscheinung des Bildes seine eigene Erfahrung Erfahrende und dadurch Erhobene." (251) Transzendenz bei Newman bedeutet also das rückverwiesen-Sein des Betrachters auf sich selbst.

 

Es geht dabei geht es um eine Form der Überwältigung, die in dem ungewohnt intensiven Erlebnis der eigenen Präsenz besteht. "In der durch die Erhabenheit der Bilderscheinung bedingten konkreten Situation der Überwältigung wird das Präsenzerlebnis des Beschauers als eine neue Erfahrung und Erhöhung seines Selbst und seiner Freiheit zum Thema.

 

Barnett Newman und eine unbekannte Frau vor dem Bild "Cathedra", 1958 (Fotographie von Peter A. Juley)

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