Max Imdahl, Über einige narrative Strukturen in den Arenafresken Giottos, in: Ders., Zur Kunst der Tradition. Gesammelte Schriften, Band 2. Hg. v. Gundolf Winter, Frankfurt am Main 1996, S. 180-209.
Teil 4 (Abschluss)
Bild 3: Die Auferweckung des Lazarus (Joh 11,1-46)
Giotto di Bondone, Die Auferweckung des Larazus, 1304-1306; Padua, sog. Arenakapelle
Auch in dieser Bildanalyse geht Imdahl vom Bibeltext aus, den er in diesem Fall jedoch nicht wörtlich zitiert, sondern paraphrasiert. Schon hier verweist er aber auch darauf, dass Giotto in Teilen seiner Bildlösung der byzantinischen Ikonographie verpflichtet bleibe (nämlich dort, wo die beiden Frauen Maria und Martha vor Jesus niederfallen).
Schon im zweiten Absatz aber geht er über zur Kompositionsanalyse. Am meisten fasziniert ihn die auffällige Diagonale des Grabhügels, die das Bild in zwei Hälften teilt. Doch hat diese Diagonale auch noch andere Funktionen. "Indem [...] die Grabhügellinie bei der Christusfigur beginnt und bei der Lazarusfigur endet [über ihr knickt die Linie ab], stellt sie eine Beziehung zwischen diesen Figuren her und verdeutlicht sie zugleich als die dominanten Figuren der Szene." (S. 194)
Daneben arbeitet Imdahl weitere, wichtige Funktionen dieser Linie heraus, summarisch diesmal, unter denen v.a. die der Betonung der Gebärde Christi auffällt. Die Linie des Grabhügels verläuft genau parallel zu Christi rechter Hand und betont die Geste nicht nur, sondern stellt zugleich einen von dieser Geste ausgehenden Handlungsablauf her.
Tatsächlich fassen Linie wie Gebärde mehrere aufeinander folgende Ereignisse zusammen. Würde man die Linie eliminieren, indem man das Bild auf Kopfhöhe der Figuren beschnitte, so "entfiele die bildbeherrschende Diagonale und mit dieser die beherrschende Macht der Gebärde." (195) Gebärde und Linie fassen das ganze Bild mit seinen ungleichzeitigen Szenen zusammen - sie scheinen die Handlung gewissermaßen voranzutreiben, Spannung zu erzeugen, wie wir es im Zusammenhang eines Buchs oder Films formulieren würden.
Ungleichzeitigkeit, also die gemeinsame Darstellung von Szenen, die in Wirklichkeit nacheinander geschehen (sind), ist in der nachmittelalterlichen Malerei ein Problem, da sie künstlerisch ein Paradox ist. Giotto, so arbeitet Imdahl heraus, umgeht bzw. bearbeitet dieses Problem, indem er (beispielsweise) jene grüngewandete Figur genau aufder Bild-Mittelachse platziert: "Es ist evident, daß diese Figur in einem rein formalen, bildrhythmischen Sinne zwischen Christus und Lazarus vermittelt, darüber hinaus aber ist ihre doppelseitige Gebärde auch von narrativer Bedeutung.
"Zuerst hatte - so kann es scheinen - die Figur auf Christus geblickt, während jetzt ihr Blick auf den erweckten und vor dem Grab stehenden Lazarus gerichtet ist. Für die eben jetzt aktuelle, schreckhafte Hinwendung auf Lazarus spricht die ans Kinn geführte [linke] Hand (als ein Gestus des Staunens), und für die vergangene Hinwendung auf Christus spricht der noch erhobene [rechte] Arm mit der erschlafften Hand." (196) Der rechte Arm der Gestalt weist quasi auf die Vergangenheit, der linke steht für die Gegenwart So entsteht Sukzession, ein erzählter Ablauf: "In der Fähigkeit zur Vermittlung von Noch und Jetzt ist diese Figur die spannungsvollste Reaktionsfigur, indem sie das Gegenüber von Christus und Lazarus zeitlich dehnt und dynamisiert." (196)
In ähnlicher Weise finden sich weitere Verweise im Bild, die, strenggenommen, durch die Darstellung von Ungleichzeitigem einen Handlungsablauf suggerieren. So wird die Grabplatte auf der rechten Seite gerade noch weggeräumt, während Lazarus schon vor dem Grab steht und die nimbierte Figur vor ihm bereits damit begonnen hat, die Leichenbinden zu entfernen. Zugleich stellt formal die auffällige Parallelität der Grabplatte mit dem Rücken des Grabhügels und damit mit der Geste Christi ein gewissermaßen kausales Verhältnis her.
Imdahl bezeichnet die Geste Jesu als "polyfunktional" (197), denn sie drückt zugleich den Befehl zur Öffnung des Grabs, den Anruf an Lazarus, herauszukommen, und die Anweisung, die Binden zu lösen, aus.
Ein ausgesprochen vielsagender und wichtiger Begriff für die Narrativik eines Bilds, den Imdahl an dieser Stelle einführt, ist der der "Scharniergruppe" (198); man könnte ihn auch auf den von "Scharnierfiguren" verkleinern, die in sehr vielen Bildern begegnen. Das sind eben jene Gruppen oder Figuren, wie wir sie soeben in jener grüngewandeten Figur auf der Mittelachse des Bilds beobachtet haben. Ein Scharnier bilden sie insofern, als sie verschiene Zeitzonen - ein "vorher" und ein "jetzt" oder "nachher" - miteinander verbinden und auf diese Weise Handlung in den Fluss gerät, statt zu erstarren wie ein Schnappschuss. Im Fall dieses Bildes allerdings wird der gesammelte Handlungsfluss durch die eine Geste Christi motiviert und damit zusammengefasst, was künstlerisch-formal durch die Diagonale des Grabhügelrückens unterstützt wird.
Faszinierend auch, dass Imdahl ein Bildbeispiel aus der Unterkirche der Magdalenenkapelle in Assisi anführen kann, bei dem sich der Maler ganz offensichtlich an Giottos Bildlösung orientiert, seine narrative Strategie aber nicht verstanden hat. So geht beispielsweise Christi Geste im Gewirr von Hintergrundlandschaft unter und die erwähnten, für die Erzählung so wichtigen Scharniergruppen fallen ganz einfach weg.
Bild 4: Joachim kommt zu den Hirten
Die Textvorlage für das vierte Bild steht zwar nicht in der Bibel, war den Menschen in Form von Erzählungen, die von Mund zu Mund gingen, aber ebenso vertraut wie ein Bibeltext. Zudem hatte der Dominikaner Jacobus de Voragine die verstreuten Erzählungen gesammelt und um 1264 zur berühmten Legenda aurea zusammengestellt, die bis heute überliefert ist. Darin findet sich auch jene Episode, die die Vorlage für das Bild Giottos liefert.
Giotto di Bondone, Joachim kommt zu den Hirten, 1304-1306; Padua, sog. Arenakapelle
Nach dem Zitieren des Texts führt Imdahl nun eine Praxis vor, die er im Verlauf seiner Analysen immer wieder anwendet; in diesem Fall kann er sich dabei auf Vorarbeit des älteren Kunsthistorikers Dagobert Frey stützen.
Imdahl untersucht das Bild, indem er es verändert. Er experimentiert, indem er - in diesem Fall - die Hauptfigur im Bild verschiebt, ihre Position innerhalb der Komposition verändert - nicht radikal, aber in Nuancen. Denn schon Frey hatte damit zeigen können, "daß schon ihre [der Figuren] Stellung in ihm [dem Bildfeld] etwas Bestimmtes, Entscheidendes aussagt." (S. 200; Imdahl zitiert Frey)
Diese erste Analyse-Skizze zeigt die Stellung der Figur des Joachim innerhalb der Bildfläche so, wie sie Giotto gewählt hat. - Anders als Imdahl experimentiert Frey nicht mit Nuancen, sondern regt an, die Figur radikal zu verschieben, beispielsweise bis in die andere Bildhälfte hinein. Imdahl geht dagegen sehr viel subtiler vor, was zugleich schwieriger nachvollziehbar ist.
Der Grundgedanke hinter diesem Experiment ist der, dass nicht allein Mimik und Gestik einer Figur diese deuten bzw. auf ihre Bedeutung verweisen, sondern ebenso ihre Position innerhalb der Bildfläche.
Im Fall der Darstellung Joachims im Fresko der Arenakapelle in Padua präzisiert Imdahl den dargestellten Augenblick, vom "gedankenvollen Vorwärtsschreiten", wie Frey ihn bezeichnet hatte, zur Ankunft Joachims bei den Hirten. Das impliziert verschiedene dynamische, spannungsvolle Momente des Vorher-Nachher bzw. Dort-Hier.
Nun führt Imdahl sein Experiment der Veränderung der Position der Figur durch und stellt fest, dass sich das Verhältnis Figur - Bildfläche verändert, je weiter die Figur ins Bild hinein gerückt wird:
"Während in Abb. 61 die Figur und das leere Bildfeld [...] wie gleichwertige Größen aufeinander bezogen erscheinen [...], erscheinen sie in Abb. 62 ungleichwertig zugunsten einer deutlichen Dominanz der Figur [...]. In Abb. 61 erweist sich das leere Bildfeld als ein Spannungsfeld mit Bezug auf die Figur, in Abb. 62 ist dagegen das leere Bildfeld eine neutrale Folie, gewissermaßen ein Hintergrund oder ein bloßes Environment der Figur." (201f)
Das bedeutet: Je weiter die Figur in die Mitte des Bilds gerückt wird, desto mehr verliert der Bildraum, das Bildfeld, das die Figur umgibt, an Bedeutung. Oder umgekehrt - denn de facto steht Joachim in Giottos Bildlösung sehr weit links, dem Bildrand sehr nahe: je weiter die Figur an den Rand gerückt wird, desto mehr Bedeutung gewinnt die übrige Bildfläche. Die Figur tritt mit der Bildfläche in ein spannungsvolles Verhältnis.
Joachims Ankunft bei den Hirten wird auf diese Weise nicht zu einem Zur-Ruhe-Kommen, sondern es wohnt ihr Spannung inne. Joachim ist auf einem Weg, und der Weg - die Spannung - ist mit dieser Ankunft nicht zu Ende. Eine Reihe weiterer Elemente im Bild, wie beispielsweise der an Joachim hochspringende Hund, verdeutlichen das ebenfalls, Imdahl zufolge "verleiht" dieses Springen dem "Stillestehen selbst einen Ausdruck von Momentaneität": es wird nicht andauern. (203)
Dieser "Momentaneität" stehen wiederum die Reaktionen der Hirten gegenüber: sie zeigen zwei Phasen der Reaktion auf die Ankunft Joachims.
Ein weiteres Experiment besteht darin, die Gestalt des Joachim in dieser veränderten, in Richtung der Bildmitte gerückten Position nun wieder in die Gesamtszene zurückzusetzen, also Hirten und Umgebung nach der Veränderung der Komposition wieder an ihre Plätze in Bildfeld zu setzen.
Nun "wird aus jener bei den Hirten angekommenen Joachimfigur eine Figur bei den Hirten. Die dynamische Situation hat sich in eine statische Situation verwandelt. Die Joachimfigur verliert den Status der szenischen Hauptfigur." (203) Die drei Figuren scheinen vielmehr in einer fortwährenden Konversation zu verharren.
Was also als "prägnante[r] Erfüllungsmoment", als soetwas wie der aus der Dynamik geborene oder entwickelte 'goldene Augenblick' gedacht ist, wird hier verwischt oder verwässert zu einer unbestimmten Dauer eines niemals zu einem Ende kommenden Gespächs - eines Geplauders.
Die Dynamik bzw. Spannung des Bilds - und sicher nicht nur dieses Bilds - hängt also ganz entscheidend von der Positionierung der Hauptfigur im Bildfeld ab. Auch damit kann ein Bild narrativ werden, also nicht allein durch eine Gebärde, einen Blick oder eine Handlung, sondern auch durch die Positionierung einer Figur, ihr Verhältnis zur übrigen Bildfläche, den Raum, den sie als "Leerraum" oder als "Leerstelle" lässt oder erst eröffnet.
Der narrative Stil Giottos
Imdahl charakterisiert den narrativen Stil Giottos, indem er den von F. Wickhoff geprägten Begriff des distinguierenden Stils verwendet. Dieser besteht darin, den prägnantesten Moment innerhalb des Ablaufs des Geschehens auszuwählen und ihn in einer auf einen Blick überschaubaren Komposition darzustellen, ohne dabei das Raum-Zeit-Kontinuum zu verlassen, ohne beispielsweise dieselbe Figur mehrere Male in einer Szene bzw. auf einer Bildfläche erscheinen zu lassen. Trotz aller Einheit von Zeit und Raum gelingt es Giotto, in seinem Bild "Joachim kommt zu den Hirten" eine Sukzession anzudenten.
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Christel Kuhn (Montag, 29 August 2016 11:13)
Lieber Herr Dr. Diedrichs,
herzlichen Dank für die spannenden Ausführungen über Imdahls Ikonik.
Der Begriff des Raum-Zeit-Kontinuums (keine Imdahlsche "Erfindung") wird in der kunstwissenschaftlichen Literatur oft etwas schwammig und unterschiedlich definiert.
Eine Definition des Begriffes Zeit macht für mich Sinn: Zeit bezieht sich auf eine sukzessive Handlung im nicht bewegten Bild. Bin Ihnen dankbar für eine Klärung des Begriffes aus Ihrer Sicht.
Gruß und Dank, Christel kuhn
Dr. Christof Diedrichs (Dienstag, 30 August 2016 07:37)
Liebe Frau Kuhn,
vielen Dank für Ihre Nachfrage - die notwendig war, denn ich habe hier etwas missverständlich, zumindest nicht präzise genug formuliert. Mit dem Raum-Zeit-Kontinuum meinte ich jene "Einheit von Zeit und Raum", die Aristoteles für das Drama gefordert hatte. In der Malerei wurde sie im Mittelalter häufig nicht beachtet, hier konnten Figuren mehrere Male in demselben (Bild-)Raum begegnen, Ungleichzeitiges (etwas, das nacheinander geschieht) konnte gleichzeitig (auf derselben Bildfläche) dargestellt werden. Noch Hans Memling macht das am Ende des 15. Jahrhunderts so.
In der Renaissance, in Rückbesinnung auf Aristoteles aber auch durch den quasi-naturwissenschaftlichen Blick auf die Wirklichkeit (Frühe Niederländer), wird dies unmöglich: U n g l e i c h z e i t i g e s darf nun nicht mehr g l e i c h z e i t i g dargestellt werden, auch der Künstler darf sich nicht mehr über die Naturgesetze hinwegsetzen, denn es ging u.a. um eine möglichst gute Nachahmung der äußerlich wahrnehmbaren Wirklichkeit.
Der richtige Begriff im Zusammenhang meines Texts wäre also der der "Einheit von Zeit und Raum" gewesen.
Ich hoffe, damit ist Ihre Frage für Sie befriedigend beantwortet!
Viele Grüße!
C. Diedrichs