Max Imdahl, Über einige narrative Strukturen in den Arenafresken Giottos (1973), in: Max Imdahl, Gesammelte Schriften, Bd. 2, hg. v. Gundolf Winter, Frankfurt am Main 1996, S. 180-209.
"Das große Anliegen von Max Imdahl (1925-1988), der nach dem Krieg in Münster studierte und Mitte der 60er Jahre Ordinarius des Kunsthistorischen Instituts der neugegründeten Ruhr-Universität in Bochum wurde, war es, die zeitgenössische, nicht-gegenständliche Kunst der wissenschaftlichen Reflexion zuzuführen. Selbst ehemals als Künstler tätig, wandte er sich u.a. dem Orphismus, der Optical Art, dem Abstrakten Expressionismus und der sogenannten Konkreten Kunst zu. Solche Forschungsinteressen waren noch bis in die 80er Jahre durchaus nicht selbstverständlich."
So leiten Wolfgang #Brassat und Hubertus #Kohle in ihrem "Methoden-Reader Kunstgeschichte (Köln 2003, S. 77) jenen Abschnitt ein, der den hermeneutischen Ansatz der Ikonik beschreibt. (Als Imdahls 'Kern-Text' zur Ikonik folgt dann sein 1971 entstandener Text zu Barnett-Newmans "Who's Afraid of Red, Yellow and Blue III", der Gegenstand eines der nächsten Blog-Einträge sein wird.)
Doch hat #Imdahl nicht allein die (damals) zeitgenössische Kunst für die Wissenschaft zugänglich gemacht. Seine "Ikonik" genannte Herangehensweise stellt innerhalb der Kunstgeschichte den Versuch der Rückkehr zu einer Betrachungsweise von Kunst dar, die den Künstler und die von ihm verwendeten künstlerischen Mittel ernst nimmt im Sinne einer eigenständigen, künstlerischen Aussage statt, wie es die damals dominierende, #ikonographisch-ikonologische Methode propagierte, im Kunstwerk nichts weiter als ein historisches Dokument zu sehen, das in (meist theologischen) Texten niedergelegte Aussagen für Analphabeten veranschaulichend 'übersetzen' sollte. Statt im Bild nur wiederzuerkennen, was der angeblich zugrundeliegende Text sagt, lenkt die Ikonik den Blick auf bildimmanente Strukturen und Strategien, die dem aufmerksamen, sensibilisierten Betrachter zu einem weniger theoretisierend-intellektuellen, als vielmehr zu einem 'sehenden', imaginativen und emotionalisierten Zugang verhelfen.
Diesen bewussten Schritt über die Methode Erwin #Panofskys hinaus hat Imdahl vor allem in seinen verschiedenen Texten zu den so genannten Arenafresken in Padua thematisiert und vorgefürt, angefangen bei seiner großen Studie zu "Giotto[s] Arenafresken" (bibliographische Angaben unten) bis zu einer Reihe von Vorträgen und Aufsätzen, die sich immer wieder mit den Fresken beschäftigen.
In den von Angeli #Janhsen-Vukicevic, Gundolf #Winter und Gottfried #Boehm 1996 herausgegebenen "Gesammelten Schriften" Imdahls finden sich zwei Aufsätze zu den Fresken.
"Narrative Strukturen" bzw. die bildliche Erzählweise (1973) bezeichnen gewissermaßen das Kernargument jener Fraktion von Kunsthistorikern, die in Bildern nichts weiter sehen als die "Literatur für Analphabeten".
Exkurs: "Bilder sind die Literatur der Analphabeten"
Zu dieser weit verbreiteten These, die bis heute immer erneut wiederholt wird, eine kurze Richtigstellung:
Die Vorstellung, dass Bilder die Literatur für diejenigen seien, die des Lesens und Schreibens nicht mächtig sind, geht auf einen Ausspruch des Papstes #Gregor der Große (+ 604) zurück.
Gregor war in vielen Belangen der Kultur- und Kirchengeschichte des Abendlands aktiv und hat sie nachhaltig beeinflusst (noch heute trägt beispielsweise der Gregorianische Choral [nicht der Gregorianische Kalender] seinen Namen). Als er allerdings seinen berühmten Ausspruch tat, die Malerei - also Bilder - sei die Literatur der Analphabeten (pictura litteratura laicorum; in: Registrum epistolarum, XI, 10; Corpus Christianorum Series Latina, Bd. 140A, Sp. 873-876), da sprach er über die europäische Gesellschaft des späten 6. Jahrhunderts, die noch ganz am Beginn ihrer Christianisierung und zudem an einer kulturgeschichtlichen Epochenschwelle stand. Zweifellos traf es in dieser Situation zu, dass viele Menschen nicht lesen und schreiben konnten und dass die biblischen Geschichten des Alten wie des (eben erst kanonisierten) Neuen Testaments noch nicht allgemein bekannt waren.
Als indessen #Giotto zwischen 1304 und 1306 die von Enrico #Scrovegni gestiftete Kapelle auf dem Areal einer römischen Arena in Padua mit Szenen aus dem Leben Jesu und der Gottesmutter Maria ausmalte, war die Christianisierung Europas - und vor allem Italiens - längst abgeschlossen und man darf getrost davon ausgehen, dass die Besucher der Kapelle, die Giottos Bilder betrachteten, mit den Geschichten wesentlich vertrauter waren, als wir es heute sind. Eine 'Übersetzung' der biblischen Texte in Bilder war nun also gänzlich überflüssig - der Ausspruch Gregors des Großen hatte spätestens zu diesem Zeitpunkt seine Berechtigung verloren. Die Funktion der Bilder muss stattdessen in einem ganz anderen Bereich gesucht werden. (Im Übrigen hätten die Bilder ihre Bedeutung ohnehin verloren, sobald die Betrachter die Geschichten verstanden hatten; dafür aber dürfte einem Bankier und Kaufmann wie Enrico Scrovegni der damals bereits hochberühmte Giotto di Bondone [1266-1337] entschieden zu teuer gewesen sein).
Sog. Arena- oder Scrovegnikapelle (Capella degli Scrovegni), 1302-1305; Padua
Die Nacherzählung von biblischen Geschichten war also nicht die Absicht Giottos, als er die Arbeit in Scrovegnis Kapelle begann. Seine Erzählweise muss stattdessen auf etwas anderes abgezielt haben. Von daher macht es sehr viel mehr Sinn, sich mit dieser Erzählweise eingehend zu beschäftigen, als beispielsweise die ikonographisch-ikonologische Methode annimmt. Stattdessen hebt Imdahl gleich zu Beginn seines Aufsatzes "Über einige narrative Strukturen in den Arenafresken Giottos" (1973) als Prämisse für seinen Ansatz hervor, dass dem Betrachter die dargestellte Geschichte bereits bekannt war, als er die Bilder in der Kapelle betrachtete. "Das Ereignisbild ist in Relation zu einer a priori schon bekannten Geschichte gemalt". (S. 180)
Doch Imdahl geht noch einen entscheidenden Schritt weiter: Ihm zufolge setzte der Maler nämlich nicht nur voraus, dass der Betrachter die den Bildern zugrundeliegenden Geschichten bereits kannte, vielmehr baute er die eigentliche Aussage seiner Bilder sogar auf dieser Voraussetzung auf: "wobei das Zu-Sehende das schon Gewußte artikuliert im Sinne von Interpretation" (S. 180), oder anders gesagt: die Interpretation hängt gerade an dem, was über das Selbstverständliche, das ohnehin schon Bekannte, hinaus geht. Die eigentliche Aussage seiner Werke ist also gerade in dem zu finden, was nicht schon in der Bibel steht!
Sog. Arena- bzw. Scrovegnikapelle, Inneres (Blick vom Eingang nach Osten)
Zu seiner Vorgehensweise äußert sich Imdahl nur kurz: er werde aus den beiden Zyklen des Lebens Christi und des Lebens Mariens "in willkürlicher Reihenfolge" vier Bilder auswählen und analysieren, wobei es bei dieser Analyse nicht um eine historische Einordnung oder Kontextualisierung gehe. Stattdessen werde er "ausschließlich von der Phänomenologie der Bilder selbst" ausgehen: "Es handelt sich, genaugenommen, um bloße Bildbeschreibungen." (S. 180)
Imdahl kündigt an, dass er dabei jede einzelne Beschreibung gleich ernst nehmen, nicht verallgemeinern oder abstrahieren werde, um zu allgemeingültigen Aussagen über 'die Kunst' oder 'das 14. Jahrhundert' zu kommen, und dass er dabei bewusst das Risiko eingehen werde, nicht Alles über Giottos Bilder und Erzählstrategien zu sagen, was sich darüber sagen ließe.
Was wir also von der folgenden Analyse erwarten, ist eine genaue Betrachtung von vier Bildern, die weitgehend den in den Bildern erhaltenen Strategien zur Lenkung des Blicks, von den immanenten Erzählstrategien folgen, wobei die Kenntnis der jeweiligen, biblischen Geschichte vorausgesetzt wird.
Der nächste Blog-Text wird sich mit diesen vier Beschreibungen beschäftigen.
Bibliographie - im Text genannte Publikationen Max Imdahls:
- Giotto - Arenafresken. Ikonographie, Ikonologie, Ikonik (= Theorie und Geschichte der Literatur und der Schönen Künste. Texte und Abhandlungen 60), München 1980.
- Über einige narrative Strukturen in den Arenafresken Giottos (1973), in: Gesammelte Schriften, Bd. 2, S. 180-209.
- Giotto. Zur Frage der ikonischen Sinnstruktur (1979), in: Gesammelte Schriften, Bd. 3, S. 424-463.
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