Diedrichs liest Boehm (Teil 11): Starke Bilder - schwache Bilder

Gottfried Boehm, Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin 2007/ Darmstadt 2010 (3. Auflage)

 

S. 248-252: Gadamers "ästhetische Unterscheidung"

 

Gadamer/Boehm sprechen in diesem Abschnitt ein wichtiges Charakteristikum von Kunstwerken an: Die Tatsache nämlich, dass vor dem Beginn der Moderne entstandene Kunstwerke, wie beispielsweise Bilder, ursprünglich gewöhnlich für Kontexte geschaffen wurden, aus denen sie inzwischen herausgerissen und stattdessen in den Kontext des Museums gestellt worden sind. Dabei verwenden sie den etwas missverständlichen Begriff des "Tafelbilds", der von Kunsthistorikern anders gebraucht wird als von Gadamer. Dieser versteht darunter einfach ein mobiles Bild (ein Bild also, das, da es auf Holz oder Leinwand von überschaubarer Größe gemalt ist, herumgetragen werden kann). Diese Tatsache ermöglicht es, dass auch beispielsweise Altarbilder, wie das seit gut 200 Jahren der Fall ist, aus ihrem angestammten Zusammenhang in Kirchenräumen entfernt und stattdessen in Kunstsammlungen verbracht worden sind. Damit werden sie als 'Kunstwerke', nicht zuletzt im Rahmen eines historischen Ablaufs, nun in einem vollkommen anderen Licht präsentiert, als es zuvor der Fall war, als sie beispielsweise der Andacht dienten. Damit ergibt sich aber auch eine Art der Rezeption für sie, die ihnen eigentlich in keiner Weise entspricht.

Seit der Romantik geht das so weit, dass Bilder 'autonomisiert' werden, also nur noch sich selbst verpflichtet sind, nur noch einer Kunst-Betrachtung dienen und aus jedem funktionalen Zusammenhang gelöst werden. Die Aufmerksamkeit des Betrachters verbleibt von nun an gewissermaßen innerhalb des Bildrahmens, konzentriert sich ausschließlich (und geschichtswidrig) auf das "eigene Sein des Bildes", wie es bei Gadamer heißt. "Diesen Wandel kennzeichnet Gadamer mit einer, auch für die Bildtheorie, wichtigen Kategorie: der 'ästhetischen Unterscheidung'." (S. 250)

Das Bild, das nur noch sich selbst verpflichtet ist und gewissermaßen jede Beziehung zur Realität aufgegeben hat, erschafft sich, Gadamer zufolge, sein 'eigenes Sein'.

 

Das alte Bildverständnis, das weder historisch noch ästhetisch orientiert war, beruhte darauf, dass Etwas dargestellt wurde, das bildwürdig war. Das konnten Herrscher, Würdenträger, bedeutsame Personen oder Ereignisse sein. Ihre Identifizierung mit dem Bild ging so weit, dass eine Verletzung eines solchen Bilds einer Verletzung der dargestellten Persönlichkeit gleichkam. (Gelegentlich wurde davon berichtet, dass ein solches Bild zu bluten oder zu weinen begonnen habe.) Aber auch beispielsweise eine Ehrung erreichte unmittelbar die dargestellte Person. "Nur die Annahme einer Nichtunterscheidung (des Bildes von seinem Inhalt) erklärt, warum von der Unverletztlichkeit oder der Heiligkeit bestimmter Werke gesprochen wurde." (S. 251)

 

Diese historischen Bilder offenbaren eine Eigenschaft von Kunst, die bis heute starke Bilder auszeichnet. Sie bilden nicht einfach ab (wie es schwache Bilder tun), sondern sie bringen etwas hervor. "Stark sind solche Bilder, weil sie uns an der WIrklichkeit etwas sichtbar machen, das wir ohne sie nie erführen." Sie machen "eine gesteigerte Wirklichkeit sichtbar", die über eine reine Abbildung weit hinaus geht. (S. 252)

 

 

S. 252-257: Darstellung, oder: das Lebendige

Gadamer sieht ein Bild - auch wenn er vom 'Tafelbild' spricht - nicht als ein starres Ding, sondern als einen Prozess. Diesen nennt er in philosophischer Manier einen "Seinsvorgang". (S. 253)

Er ist abhängig von dem Kontext, in dem das Bild steht.

 

Schon in der griechischen Antike lautete der Name für ein Bild "zoon" - "das Lebendige".

Auch hierin steckt die Vorstellung der Prozessualität, wie ein Lebewesen, das eine eigenständige Existenz hat. Diesem klassischen Verständnis zufolge steckt im Bild etwas darin, das in ihm auf eigenständige Weise weiter besteht; eine Wirklichkeit, die über die reine Abbildhaftigkeit, die Wiedergabe eines äußeren Scheins, hinaus geht. Ein solches Bild hat eine eigene Realität, ist gewissermaßen ein eigenständiges Wesen, das auf seinen Betrachter einwirkt. Dieses 'Wesen', das in dem Bild steckt, könnte man auch als das 'Urbild' bezeichnen

 

Dabei ist das 'Urbild' auf zwei verschiedene Weisen zu denken (man kann den Begriff auf zwei verschiedene Weisen verstehen).

 

1. Schwaches Bild = Abbild

Wenn wir als Beispiel ein Porträt nehmen, so stellt das Porträt selbst das Bild, der Porträtierte aber das Urbild dar.

Das Verhältnis der beiden zueinander ist ein einseitiges, zumal ein dezimierendes: das Bild ist in seiner Konkretisierung zugleich eine Beschränkung, gewissermaßen ein Kompromiss. "Von einer Wechselbeziehung kann keine Rede sein." (S. 254)

 

2. Starkes Bild

Ein starkes Bild dagegen bildet nicht etwa ab, sondern bringt selbst etwas hervor. Es wirkt auf das 'Urbild' ein, fügt ihm etwas hinzu. "Durch die Darstellung erfährt es gleichsam einen Zuwachs an Sein", (S. 254) lautet die für den Nicht-Philosophen etwas sperrige Formulierung.

Ein starkes Bild tut also etwas, in der Terminlologie der Theorie des Performativen gesprochen.

 

Caspar David Friedrich,

Zwei Männer in Betrachtung des Monds,

1819-20;

Dresden, Gemäldegalerie

 

Starke Bilder sind nicht einfach nur Dekorationen oder Kulissen, sondern sie stellen Eingriffe in die Wirklichkeit dar. Sie verändern die Wirklichkeit, indem sie die Menschen verändern, die sie ansehen. Das kann beispielsweise über Einsichten oder Deutungen vonstatten gehen oder der Mensch ist ergriffen, erfreut oder schockiert. "Für den Kunstfreund sind das vertraute Erfahrungen." (S. 254)

Etwas erscheint durch ein (starkes) Bild in einem anderen Licht, das zugleich Einsichten ermöglicht, und sei es nur die Veränderung des bisher unaufmerksamen oder anders geprägten Blicks. - Claude Lorrain und Caspar David Friedrich sind die vielleicht besten Beispiele dafür, wie Bilder nachhaltig den Blick der Betrachter verändert haben: nicht nur den Blick auf die Bilder, sondern den Blick auf die Wirklichkeit.

"Hundertmal gesehene Sachen; ein Gesicht, ein Wald oder Berg, Krug oder Flasche werden erst durch die Erchließungsleistung des Bildes bemerkenswert, bedeutsam, kostbar." (S. 254)

 

Man kann sagen, dass nur starke Bilder 'Kunst' sind.

 

 

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