Diedrichs liest Boehm (Teil 10)

Gottfried Boehm, Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin 2007/ Darmstadt 2010 (3. Auflage)

 

S. 243-267: Zuwachs an Sein. Hermeneutische Reflexionen und bildende Kunst

 

Der letzte Aufsatz des Bandes ist zugleich der komplexeste. Er ist lang und bietet viele Ansatzpunkte zur Diskussion. Aus diesem Grund werden wir ihn unterteilen.

In diesem zehnten Teil unserer Lektüre wird es um die Abschnitte Eine Dominanz der Sprache? und Starke Bilder - schwache Bilder gehen. (S. 243-248)

 

Vorbemerkung

Der Text "Zuwachs an sein" ist offensichtlich im Zusammenhang des Schweizerischen Nationalen Forschungsschwerpunkts (NFS) 'Bildkritik' entstanden, dessen Direktor Boehm von 2005 an war. Solche großangelegten, hochkarätig besetzten Forschungsprojekte, denen in Deutschland die von der DFG geförderten Sonderforschungsbereiche (SFB) entsprechen, entwickeln in der Regel ihre eigene Dynamik, die im optimalen Fall die übrige Wissenschaft mitreißt oder zumindest inspiriert. Hier werden neue Forschungsperspektiven erarbeitet und erprobt und gegebenenfalls die dafür notwendige Terminologie neu entwickelt. Viele Texte werden geschrieben, denn der 'Ertrag' bemisst sich - worüber diskutiert werden kann - nicht zuletzt an der Anzahl der Publikationen. Und nicht wenige dieser Publikationen entstehen aus Antragstexten: Texten der Fachleute für Kollegen.

 

Allerdings bedeutet das auch, dass diese Texte für Nicht-Fachleute nur schwer oder gar nicht verständlich sind. Fachbegriffe werden unter den Kollegen auch mündlich verwendet, ihr Gebrauch wird in zahlreichen Gesprächsrunden und auf Tagungen diskutiert, in Debatten geklärt (oder kontrovers stehengelassen) und dann verwendet, ohne sie im Text erneut zu definieren. Das ist ja auch nicht nötig, wäre für die Kollegen, die den Text lesen, eher ärgerlich. Für denjenigen indessen, der nicht an den Diskussionen beteiligt ist und einen solchen Text in die Hand bekommt, ist die Terminologie kaum verständlich. Entweder bleiben die fremdartigen Worthülsen für ihn leer oder er füllt sie in einer Weise, wie sie ursprünglich nicht gemeint waren. Es entsteht eine Unschärfe, die für den Fachmann ärgerlich, für den Nicht-Fachmann frustrierend ist.

 

Dieser Fall liegt auch im vorliegenden Text vor. Als Beitrag in einem von der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft herausgegebenen Aufsatzband - einem Band, der also explizit auch für wissenschaftlich interessierte Nicht-Fachleute gedacht ist - ist diese Praxis nicht unproblematisch. Allerdings zeigt die Praxis, dass das Unschärfenproblem bereits an der Peripherie solcher 'peergroups' auftritt.

 

Ein besonderer Fall stellt in diesem Zusammenhang bereits der Begriff der 'Hermeneutik' dar. Boehm erklärt ihn nicht, setzt seine Kenntnis voraus, auch wenn er ihn in die Kunstwissenschaft ausdrücklich überhaupt erst einführen will. Denn auch dies setzt er voraus, dass der Begriff in der Kunstwissenschaft ungebräuchlich sei, was nun selbst für den Fachmann überraschend ist, gibt es doch seit den 1980er Jahren eine eigene "Kunstgeschichtliche Hermeneutik" (Oskar Bätschmann), die sich ihrerseits ausdrücklich auf Gadamer bezieht, auf die Boehm indessen nicht eingeht. - Dies mag ein solcher Punkt sein, der im NFS 'Bildkritik' diskutiert worden ist, außerhalb dieses Raums aber kaum nachvollziehbar ist.

 

Angesichts dieser Schwierigkeiten möchte ich im Folgenden versuchen, den Text "Zuwachs an Sein" langsam und sorgfältig zu lesen, ohne ihn mit zu vielen, zu langen Erklärungen zu zerreißen. Denn trotz der angesprochenen Schwierigkeiten bleibt es unbestreitbar, dass Boehms Texte viele Türen öffnen, zu Reflexionen anregen, Einsichten vermitteln, und von daher wert sind, sorgfältig gelesen und bedacht zu werden.

 

Eine Dominanz der Sprache?

In diesem Aufsatz kehrt Boehm, promovierter Philosoph (habilitierter Kunsthistoriker) und Schüler des Heidelberger Philosophen Hans-Georg Gadamer (1900-2002), zu seinen Wurzeln zurück, um die philosophische Hermeneutik in der (maßgeblichen) Prägung durch Gadamer für die Kunstwissenschaft fruchtbar zu machen. Wie Boehm selbst sehr gut weiß, ist dies nicht zuletzt deswegen eine Herausforderung, da Gadamer sich grundsätzlich mit Sprache beschäftigt und daher sprachfixiert ist. Eigenem Bekenntnis zufolge war Gadamer "die Welt der Musik und des Auges (begründet durch seinen Bildungsgang) sehr viel weniger zugänglich". (S. 243)

Zur "Sprache" zählt Gadamer indessen viel mehr, als der Begriff in engem Sinn erfasst. Gadamer meint damit jede Form des Ausdrucks. Mit "Sprache" meint er eine "Sprache der Dinge", die über das, was in Buchstaben zu fassen ist, weit hinausgehe. "In Buchstaben lässt sich so wenig schreiben wie aussprechen", schreibt Boehm, stattdessen kann sich "Sprache" der verschiedensten Medien bedienen, "das ganze Spektrum kultureller Manifestationen darf man hier einfügen: neben Wort, Bild und Musik sicher auch Mimus, Gebärde, Tanz, das Schöne der Kunst und der Natur, die Sprache der Dinge und so weiter." Alle diese Ausdrucksmöglichkeiten, die sich den unterschiedlichsten Sinnen des Menschen mitteilen, "vermitteln Plausibilitäten und Sinn", mit welchem unserer Sinne ihn auch wahrnehmen mögen. (S. 244)

Eine dieser Manifestationen ist, Gadamer zufolge, die "Sprache der Schönheit" ...

 

An dieser Stelle fürchten wir ein wenig, dass Gadamer 'Schönheit' und 'Kunst' synonym gebrauchen könnte, aber das könnte Boehm so eigentlich nicht stehenlassen bzw. er dürfte es so nicht übernehmen. Vermutlich also irren wir uns und Gadamer meinte das irgendwie anders, so dass Boehm sich nicht zu einem Eingreifen genötigt sah ...

 

... Ausdrücklich nimmt er dies aus jeder Wertung heraus, stellt sie als "gleichberechtigt neben den Logos". (S. 244) Dabei ist mit 'Schönheit' im Kern keine äußere, rein formale Qualität gemeint. Unter 'Schönheit' ist vielmehr etwas zu verstehen, bei dem die Form oder Erscheinungsweise durch einen Inhalt oder Sachgehalt so ergänzt wird, dass sie nicht mehr von einander zu trennen sind und denjenigen, der sich ihr hingibt, in kaum differenzierungsfähiges Entzücken versetzt. Schönheit ist demnach also mehr eine Erfahrung als ein formales Prinzip, ein Ereignis, das sich entwickelt. "Wen Schönes entzückt, dem fehlt jede Handhabe, seine Formqualität vom begleitenden Gehalt zu unterscheiden. [...] Schönheit ist keine einzelne, abhebbare Eigenschaft an einer Sache, sondern etwas, das hervortritt, sich ereignet." (S. 245)

Im Zusammenhang der Bilder ist damit das Zusammenspiel von Darstellung (dem Bild) und dem Dargestellten angesprochen.

Diesen hermeneutischen Zugang zu den Bildern, zu bildnerischen Phänomenen, hat offenbar Gadamer eröffnet, ohne dass er, wie Boehm schreibt, in der zugehörigen intellektuellen Debatte bisher vollkommen angekommen wäre.

 

Möglicherweise ist das Wort 'vollkommen' der Schlüssel. Oskar Bätschmann (Einführung in die kunstgeschichtliche Hermeneutik. Die Auslegung von Bildern, Darmstadt 1984/ vierte Auflage 1992) bezieht sich bei seinem hermeneutischen Ansatz zu einer Auslegung von Bildern ausdrücklich auf Gadamer, und auch für ihn ist die Frage der 'Dominanz der Sprache' innerhalb von Gadamers Ausführungen ein Problem. "Nach Gadamers simpelster Bestimmung", so schreibt er, "ist die Hermeneutik die Kunst, etwas wieder sprechen zu lassen, deren Paradigma das Lesen von Texten" (Bätschmann 1992, S. 35). Allerdings hält Bätschmann das Bild für ein wesentlich komplexeres Gebilde als einen Text und die Antwort auf die selbstgestellte Frage, ob wir Bilder lesen sollen, lautet: nein, das ist nicht möglich! Bilder sind keine Texte. Bätschmanns kunsthistorisch-hermeneutischer Ansatz geht über einen sprachlich-hermeneutischen Ansatz deutlich hinaus - und regt gewissermaßen zu größerer Vorsicht gegenüber jedem Versuch der 'Dechiffrierung' von Bildern an, die eine Begrenzung der Möglichkeiten des Bildes darstellen würde.

 

Starke Bilder - schwache Bilder

 

 

Der nun folgende Abschnitt ist auch für den Nicht-Fachmann besonders interessant, da er eine wichtige Unterscheidung aufmacht, die zum Verständnis der 'Macht der Bilder' viel beitragen kann:

 

Wenn Boehm von "Hermeneutik" spricht oder von "hermeneutischer Reflexion" (S. 245), meint er damit keine Auslegung, keine Deutungs des Bilds in dem zurückhaltenden Sinn, in dem Bätschmann den Begriff verwendet. Vielmehr scheint er ein eher semiotisches Verständnis im Kopf zu haben: Hermeneutik als ein "Lesen" des Bilds oder einzelner Aspekte des Bilds im Sinn  epistemologischer Metaphern; das Bild als Indiz, als Zeichen für etwas anderes, das keiner bewussten Bedeutungswahl entspringt. Indem die Hermeneutik solche Aspekte in den Blick nimmt und ihnen "Bedeutung" entnimmt, erweitert sie den "Bedeutungsumfang des Bildes", lenkt sie den Blick auf "verdeckte[] Valenzen." (S. 245)

 

Schließlich geht Gadamer auf die Unterscheidung zwischen 'Starken Bildern' und 'Schwachen Bildern' ein. Während er dafür unterschiedliche, historische Bildformen analysiert, überträgt Boehm die Fragestellung in einen allgemeineren, nicht mehr kunst-, sondern bildwissenschaftlichen Zusammenhang, der sich dadurch auszeichnet, dass der Bereich der Kunst, des Kunst-Bilds erweitert wird durch neuere Formen von Bildern, allen voran den technischen.

Das technische Bild, so wie Boehm es versteht, gibt es seit dem 19. Jahrhundert, und seit es das technische Bild gibt, verändert dieses den Umgang des Menschen mit dem Bild als solchem, mit jeder Form des Bilds. "Es wäre gewiss unangemessen und gegen den Geist hermeneutischer Distinktionen, würde man alle technischen Bilder gleich behandeln, als defizitär kritisieren." Einige von ihnen, wie beispielsweise Fotographien, können selbst künstlerisch produziert werden.  "Sie vermögen, was aller Kunst zugeschrieben wird: neue Sichten auf Realität zu eröffnen, die es ohne sie nicht gäbe." Und eben das ist es, was starke gegenüber schwachen Bildern auszeichnet: Schwache Bilder beschränken sich auf das Reproduzieren, das Abbilden, während starke Bilder diese "Limitationen [Beschränkungen] der Abbilder" überwinden und "neue Sichten auf Realität [...] eröffnen." (S. 246)

Schwache, d.h. rein reproduzierende, abbildende Bilder bezeichnet Boehm als "das eigentliche Produkt der visuellen Massenmedien", deren Ziel es sei "abzuschildern, Informationen via Auge zu verbreiten."

"Die Logik dieser Bilder besteht in einer Selbstverleugnung, im Bestreben, sich ganz anzugleichen, die Haltung einer Sachhaltigkeit einzunehmen, der man allein angemessene und richtige Informationen zutraut." (S. 246f)

 

Während die Unterscheidung Starke - Schwache Bilder höchst produktiv ist, erscheint der Schluss, den Boehm zieht, eher fragwürdig, ist vielleicht der Tatsache geschuldet, dass der Artikel bereits 20 Jahre alt ist. Denn heute wird kaum noch jemand ernsthaft annehmen wollen, dass Massenmedien wirklich nüchterne Informationen 'abschildern' und vermitteln wollen, wenn Sie Bilder verwenden. Neil Postmans 1985 erstmals vorgetragene These von der westlichen Kultur als einer 'sich zu Tode amüsierenden' Kultur gilt heute womöglich noch unumschränkter als vor 30 Jahren. Bilder in den Massenmedien müssen vor allem unterhalten. Sie müssen Einschaltquoten und Auflagenzahlen in die Höhe treiben. Ein journalistischer Ehrencodex mit dem Hauptaugenmerk auf sachliche Information können sich inzwischen nur noch öffentlich-rechliche Medien leisten - und selbst diese geraten unter Druck angesichts der wachsenden Konkurrenz.

Vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen erscheint es (zumindest in dieser Hinsicht) als ein Anachronismus, wenn Gadamers Weltsicht - sein Hauptwerk "Wahrheit und Methode" erschien 1960 - zur Grundlage von Beobachtungen eines Texts gemacht wird, der 2007 erscheint: die Massenmedien, von denen die Rede ist - Zeitungen, Fernsehen - mögen zu Gadamers Zeiten in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts zum Ziel gehabt haben, Wirklichkeit andäquat abzubilden, d.h. Daten und Fakten zu wiederholen, Realität zu dokumentieren. Doch das tun Massenmedien am Beginn des 21. Jahrhunderts nur noch in Ausnahmefällen (vgl. die 'Berichterstattung' im Fall des Bundespräsidenten Christian Wulff, nach dessen Rücktritt - und rechtskräftigem Freispruch - sich Pressevertreter zu Entschuldigungen genötigt sahen; es ist nicht vorstellbar, dass ihnen während der Kampagne die Unhaltbarkeit ihres Vorgehens, bei dem Bilder eine wichtige Rolle spielten, nicht bereits klar gewesen wäre). Gerade solche Kampagnen, in denen an Emotionen appelliert wird, funktionieren inzwischen hauptsächlich über Bilder, die im digitalen Zeitalter theoretisch (und praktisch) so sehr manipulierbar sind, dass sie eigentlich jeden Dokumentationswert verloren haben müssten.

Die Selbstverleugnung, von der Boehm spricht, wird tatsächlich aufrechterhalten - je mehr an den Bildern manipuliert wird, umso mehr; denn der Schein der Objektivität ist eine wesentliche Voraussetzung für die Stärke der starken Bilder.

 

Spannend wäre es vor diesem Hintergrund gewesen, über die tatsächliche, die geheime Stärke der vermeintlich schwachen Bilder nachzudenken. Denn so werden die Bilder in den Massenmedien ja nicht selten verwendet. Gadamer zufolge bringen diese Bilder "keinerlei Eigenwillen ins Spiel", sondern tun so, als fokussierten sie ganz auf die Sache. Selbstverständlich tun sie dies im Zeitalter der Massenmedien jedoch gerade nicht.

 

Allein jene Bilder, so fährt Boehm fort, die nicht in die Massenmedien gelangen, können soetwas wie Objektivität noch für sich in Anspruch nehmen. 'Schwache Bilder' sind heute (nur) noch die technischen Bilder wie Röntgen- oder Ultraschallbilder, Simulationen zu wissenschaftlichen oder technischen Zwecken etc. "Die so gearteten technischen Bilder sind mithin auch ganz schwache Bilder. Ihre Schwäche resultiert aus der Negation ihres Eigenwertes und aus dem Vorrang der bildichen Angleichung an das Dargestellte. (S. 247)

 

Boehm zufolge beginnt die Geschichte der schwachen Bilder, die Geschichte der Abbilder, in der Renaissance, als geometrische Regeln (und Maschinerien) entwickelt wurden, mit denen adäquate Abbildungen überhaupt erst möglich wurden. Der nächste große Schritt wurde dann im 19. Jahrhundert mit der Entwicklung der Fotographie vollzogen, die nicht nur eine Vielzahl von Bildern, sondern ebenso eine große Masse von Bilderzeugern hervorbrachte und damit zugleich das Bild aus seiner distinguierten Exklusivität heraushoben - es mit ihrer steigenden Zahl zugleich schwächte.

 

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0