Lektüre-Blog: Diedrichs liest Boehm (Teil 9)

Gottfried Boehm, Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin 2007/ 3. Auflage 2010.

 

S. 229-242: Die Kraft der Bilder. Die Kunst von 'Geisteskranken' und der Bilddiskurs

 

Boehms Interesse an der Kunst der früher so genannten Geisteskranken entzündet sich an der um 1920 angelegten "Sammlung Prinzhorn" in Heidelberg, die 2001 in einem Museum untergebracht und damit der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Schon 1922 hatte Hans Prinzhorn (1886-1933), promovierter Kunsthistoriker, später zum Psychiater weitergebildet und nach dem Ersten Weltkrieg als solcher tätig, ein Buch veröffentlicht über die "Bildnerei der Geisteskranken". Die Publikation rief eine lange, intensive Debatte hervor.

 

Boehm will sich ausdrücklich nicht mit der Frage beschäftigen, ob Bilder von Geisteskranken 'Kunst' sind oder nicht.

Vielmehr interessiert ihn, was es ist, das diesen Bildern ihre besondere Kraft verleiht.

 

Die Sammlung Prinzhorn entstand zwischen 1890 und 1920, in der Zeit der so genannten Klassischen Moderne also: "Klassisch deshalb, weil in dieser Zeit für den ganzen Bereich der bildnerischen Gestaltung neue, maßgebende und fortwirkende Grundlagen geschaffen wurden, in der vielleicht tiefgreifendsten Revolution, welche die europäische Bildgeschichte bis anhin erlebt hat." (S. 231)

Die 'Kunst der Geisteskranken' ist deshalb kulturgeschichtlich so interessant, weil sich um sie der Mythos rankte, diese Zeugnisse künstlerischen Ausdrucks seien schlechthin ursprünglich, kulturell gewissermaßen ohne Einflüsse durch andere Kunstwerke oder andere, bildliche Äußerungen, gingen aus der Tiefe der menschlichen Seele hervor wie "Eruptionen gleichsam aus einer verborgenen und unberührten Magmaschicht der menschlichen Natur." (S. 231) Als berührten sie Schichten des Menschseins, der unter normalen Umständen unter Schichten von Erziehung und kultureller Prägung verborgen liegen und gewöhnlich unzugänglich bleiben.

Nicht zuletzt die Werke selbst aber zeigen indessen, Boehm zufolge, in welchem Maß auch diese 'Geisteskranken' kulturell geformt worden sind. Jedoch ist auch dies nicht das Thema, mit dem Boehm sich befassen möchte.

 

Boehm bezieht sich auf den (in geistiger Umnachtung geendeten) Nietsche, auf den (eine Art Sprache der Seele in ihren abnormen Zuständen entdeckenden) Sigmund Freud und auf den (phasenweise psychische Behandlung in Anspruch nehmenden) Aby Warburg, der "aufgrund seiner Lebensgeschichte auch ein deutliches Wissen davon [hatte], dass authentische Bilder ihre Prägekraft sehr häufig aus dem Leben gewinnen." (S. 234) Aber bevor diese drei ihre Gedanken und Erfahrungen niederschrieben, waren diese von Künstlern bereits vorweggenommen worden, beispielsweise von Gauguin, der nach Tahiti reiste, um "das finstere 'Herz der Wildnis' zu spüren" und vor diesem Hintergrund "eine neue Ordnung der Lebendigkeit des Bildes" zu schaffen, "die den klassischen Kanon abstreifte, um im Horizont einer neuen, umfassenden und offenen Welt glaubwürdige Bilder zu schaffen." (S. 235)

In der Darstellung Boehms zeichnet es praktisch den gesamten Bildprozess der Moderne aus, dass Künstler sich Elemente anderer, als 'ursprünglicher' angesehener Kulturen aneignen, gelegentlich auch der eigenen 'Volkskultur' (vgl. beispielsweise den Almanach Der Blaue Reiter, 1912, in den seine Herausgeber Wassily Kandinsky und Franz Marc bayerische Glas- und Votivbilder, Werke der russischen Volkskunst, Holzskulpturen aus Südborneo, von den Oster- und den Marquesasinseln, aus Kamerun, Mexiko, Neukaledonien, aus Malaisien und Benin, Masken aus Brasilien, Stickereien aus Alaska und nicht zuletzt Märchenillustrationen und Kinderzeichnungen aufnahmen). In dieser Praxis spiegelt sich eine "Einsicht, die zu den wichtigsten gehört, die wir der Moderne verdanken, die Einsicht nämlich, dass Bilder über eine eigene, stumme Logik verfügen, ein eigenes Organ der Erkenntnis darstellen, im Wettstreit  mit anderen, vor allem Sprache und Begriff." (S. 236f)

Die Andersartigkeit dieser Kultur der 'Geisteskranken' tritt derjenigen der Kultur der Kinder an die Seite. Auch diese zeichnet vor allem ihre Andersartigkeit aus, die in ihrer Eigenart die Frage eines gänzlich anderen Sehens eröffnet jenseits derjenigen, die wir gewöhnlich für die 'einzig wahre' und sogar einzig mögliche halten. Viele moderne Künstler beschäftigten sich mit diesen neuen, andersartigen Welten, angefangen bei Gauguin und Picasso, Brücke und Blauem Reiter bis weit in die Nachkriegszeit hinein. "Es sind allesamt Prozesse der Moderne, die wir mit Stichworten wie Entgrenzung, Transgression, Steigerung der Intensität, einer 'anderen' Lebendigkeit oder mit der Neuordnung der Ausdruckssprache andeutend charakterisiert haben." (S. 237)

 

Boehm grenzt sich, wie gesagt, ab von der Frage, ob diese Bilder 'Kunst' sind oder nicht. Er verlässt bewusst die akademische Disziplin der Kunstwissenschaft und geht stattdessen bildwissenschaftlich vor. Er will die Frage beantworten, was diese seltsamen Bilder der 'Geisteskranken' so stark macht. Tatsächlich werden diese Kunstwerke durch die Grundzüge moderner Kunst - Betonung auf 'moderne' - gekennzeichnet, und dies in einer Weise und einem Maß, die bzw. das wir an modernen Kunstwerken nur selten finden:

  • sie sind absolut authentisch,
  • individuell,
  • original und
  • bleiben zugleich gänzlich offen für Deutungen des Betrachters, wobei diesem schnell klar wird, dass sich der Sinn, der in diesen Werken steckt, ganz anders aktualisiert, als wir es gewohnt sind, also nicht "der Linearität der Sprache und der Logik des Satzes folgend." (S. 239)

"Bevor das Bild etwas sagt, das man auch in Worte fassen könnte, ist es ein Akt des Zeigens, der visuellen Entfaltung." (S. 240)

Die Kraft dieser Bilder, so beobachtet Boehm, besteht nicht in der Vermittlung von etwas, sondern im Ereignis. Es geschieht etwas. Es bilden sich Beziehungen, gewöhnlich Unverbundenes, Unvergleichliches, Unabhängiges tritt in Kontakt zueinander, es ergeben sich überraschende Verbindungen. Grenzen fallen, Konventionen werden aufgehoben, Werte verschieben sich. "Hier wird Ereignis", was anderswo unmöglich schien. (S. 240)

 

August Natterer, Hexenkopf; Sammlung Prinzhorn

 

Und dann kommt Boehm zum Kern des Ganzen, nicht zuletzt da man die folgenden Sätze, die er über die Bilder der Geisteskranken sagt, mit Gewinn auf Bilder überhaupt, auch auf Kunstwerke, übertragen kann:

"Was Bilder sind und was sie leisten [...]: Sie bringen auf eine evidente Weise zusammen, was sich sonst nur auszuschließen scheint: Greifbares und Ungreifbares, Nahes und Fernes, Inneres und Äußeres, Phantastisches und Reales, Abgesondertes und Verbindendes, high and low." Und noch einmal, pointiert zusammengefasst: "Bilder sind, wenn sie gelingen, plausible Synthesen dessen, was sich einer normalen Ja/Nein-Logik entzieht." (S. 240)

 

Und eben das ist es, was sie in unserer von Schriftlichkeit, der erwähnten Ja/Nein-Logik, der damit einhergehender, ständiger Vereinfachung und der so genannten 'Schwarz-Weiß-Malerei' geprägten Kultur so unverzichtbar macht.

 

In Bildern steckt sehr viel mehr drin, als sich in Worte fassen lässt. Und weil diese Erkenntnis so grundlegend und so wichtig ist, fällt Boehm mit dem folgenden Satz in einen geradezu alttestamentarisch-prophetischen Ton:

"Für vieles unter der Sonne - auch dafür - gibt es die richtigen Worte nicht. Nur der Blinde kann deshalb an seiner Existenz zweifeln." (S. 241)

Dieser Satz ist in vielerlei Hinsicht von Bedeutung, allen voran mit Blick auf Text-Bild-Debatten. Angesichts des Wettstreits zwischen Text und Bild, der irrigen Vorstellung, Bilder seien 'Illustrationen' von Texten, die ihnen zugrundeliegen, würden jenen, die Schwierigkeiten mit dem Text haben, deren Inhalt vermitteln etc., hält Boehm programmatisch fest:

Bilder 'sagen', vielmehr: 'zeigen' sehr viel mehr, als Worte sagen können, nicht zuletzt da sie vollkommen anders funktionieren als diese. Sie kennen eben nicht nur schwarz und weiß, sondern eine Vielzahl von Farben und Nuancierungen und haben die Möglichkeit, nach ganz anderen Logiken vorzugehen, als diejenigen Medien, die an die Sprache gebunden sind. In Bildern stecken Wahrheiten, die sich dem sprachlichen Zugriff verschließen, die aber trotzdem da sind - nur ein Blinder kann an ihrer Existenz zweifeln. Sie zu leugnen, weil sie nicht in Worte, in eine Ja/Nein-Logik zu fassen sind, hieße nur an das zu glauben, was man sehen kann.

 

Offenbar steht Psychotikern diese Erkenntnis eher zur Verfügung als den so genannten gesunden Menschen. Sie verwenden Paradoxa und Widersprüche leichter, was indessen nur im Bild geht, nicht in der Sprache. In Bildern können sie nach alternativen Ordnungen suchen, die ihnen "Botschaften aus der Verschlossenheit" ihrer selbst ermöglichen. (S. 241)

 

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