Lektüre-Blog: Diedrichs liest Boehm - Teil 8

Gottfried Boehm, Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin 2007/ Darmstadt 2010 (3. Auflage)

 

S. 213-228: Begriffe und Bilder. Über die Grenzen sokratischen Fragens

 

Thema dieses Kapitels innerhalb von Boehms Buch über die Macht des Zeigens - oder besser: der Ausgangspunkt - ist ein Text von Paul Valéry (1871-1945) aus dem Jahr 1921 ("Eupalinos oder der Architekt"), in dem dieser in der Tradition von Platos Sokrates-Dialogen diesen - Sokrates - über Kunst nachdenken lässt.

Sokrates hatte seine philosophische Methode bekanntlich hauptsächlich auf die Frage gestützt, der er eine einzigartige Kraft beimaß. Bis heute zählt diese zu den Grundlagen jeder wissenschaftlichen Methodik.

Der Dialog Valérys indessen spielt nicht etwa in einer Athener Philosophenschule, sondern im Hades, in der Unterwelt.

Boehm zufolge ist der Text einer der "glänzendsten unter jenen Texten der Moderne, die sich mit der Reflexion bildender Kunst befassen." (S. 213f)

 

Die Produktivität der Sokrateskritik

In Valérys Geschichte hätte Sokrates auch Künstler werden können. Mit 18 Jahren stand er an einem Scheideweg und wählte die Philosophie. Nun aber, im Hades, bricht sich der Wunsch Bahn, sich damals anders entschieden, die Kunst gewählt zu haben.

Der Scheideweg wird markiert durch die Begegnung mit einem nicht weiter definierten, faustgroßen, weißen "Gegenstand", der sich jeder begrifflichen Annäherung und Fixierung entzieht. Er bleibt "ungegenständlich". Damals hatte Sokrates den Gegenstand nach einer kurzen, geistigen Auseinandersetzung ins Meer geworfen, hatte sich abgewandt und war Philosoph geworden. Nun aber, im Hades, erkennt er den "Gegenstand" als Herausforderung, die darin bestanden hätte, die althergebrachte, festgefügte, philosophische Ordnung zu verlassen und gewissermaßen vollkommen neu, ohne strikte Raster, stattdessen auf sinnliche Weise zu denken. "Die Welt der Ideen aber derart in Bewegung zu versetzen, sie mit Veränderung, Zufall, Sinnlichkeit und Neuerung zu durchtränken - das hätte ihre stabile Ordnung einstürzen lassen." (S. 216)

Der von der Natur geformte Gegenstand, den er vorschnell der Natur zurückgegeben hatte, hätte Sokrates damals darauf aufmerksam machen können, dass das schöpferische Prinzip nicht nur in der Natur, sondern ebenso im Künstler wirksam ist, der anders als die Natur allerdings nur eine begrenzte Lebenszeit zur Verfügung hat. "Die schöpferische Unendlichkeit der Natur, die gut und gerne mit Jahrmillionen rechnet, gewinnt ein Äquivalent in der unendlichen Sinnfülle des Artefakts." (S. 216)

Und plötzlich - Boehm beschreibt nicht den Weg, den Valérys Geschichte dorthin nimmt - entsteht eine Konkurrenz zwischen dem Erkenntnis schaffenden Werk des Philosophen und dem künstlerischen Schaffen, zwischen theoretisierendem und künstlerischem Tun, wobei sich - überraschenderweise - erweist, dass "die Fähigkeit des künstlerischen construire [...] gegenüber derjenigen des theoretischen connaître bei weitem überlegen" ist. (S. 217)

 

Was den Hauptunterschied zwischen Philosophie und Kunst ausmacht, so könnte man jenseits der Person des Sokrates sagen, ist die Art und die Zielrichtung des Fragens. Philosophie zielt auf Bestimmtheit, Eindeutigkeit, auf den genau definierten Begriff ab, während die Kunst  - jedenfalls die moderne - gerade die Unbestimmtheit, das Diffuse, Schwebende, Vieldeutige zum Gegenstand macht, eben gerade keine Eindeutigkeit anstrebt. In der Tat erfordert Kunst "ein anderes Fragen, andere Organe der Wahrnehmung" als die Philosophie. (S. 217)

 

Fragen an Bildwerke

Boehm möchte nun das sokratische Fragen auf ein Kunstwerk anwenden, und nimmt dafür Constantin Brancusis Skulptur "Der Anfang der Welt" (1924).

 

 

 

 

 

 

 

 

Constantin Brancusi, Der Anfang der Welt (Sculpture pour les aveugles), Marmor, 1924; Philadelphia, Museum of Art (Arensberg-Collection)

Diese Marmorskulptur scheint jenem "Gegenstand" zu gleichen, den Sokrates einst am Strand gefunden hatte und über den er nun nachdenkt.

Sokratische Fragen, angewendet auf dieses Werk, wären - Boehm zufolge: "Was ist das - was wir da sehen? Ist es Ergebnis einer Hervorbringung? Wessen? Ist es ein Werk? Welcher Art?" (S. 218) Und Boehm meint, feststellen zu müssen, "dass diese Art des Fragens den erstrebten Aufschluss in der Sache nicht erzielt." (S. 218) Boehm geht sogar unmittelbar vom "Scheitern" dieses Ansatzes aus.

Allerdings stehen nun auch wir als Leser an einem Scheideweg: Wir können entweder Boehm in seiner Darstellung weiter folgen - wir können ihm glauben - oder eben nicht. Jedenfalls mögen uns weder die Fragen, die Boehm in sokratischer Manier an Brancusis Skulptur richtet, noch seine Antworten bzw. der Beweis des Scheiterns der Fragetechnik, zwangsläufig zu sein. Beispielsweise beantwortet Boehm die Frage, "was ist das, was wir da sehen?" mit der Feststellung, bei dem Gebilde handle es sich "um die Idee eines Eies, die sich in einer steinernden Darstellung manifestiere." (S. 218)

Aber ist das wirklich die einzig mögliche Antwort? Oder ist es nicht vielmehr die Antwort eines Philosophen, der auf etwas Bestimmtes hinaus will und ein Kunstwerk dafür benutzt, einen keineswegs alternativlosen Weg als alternativlos erscheinen zu lassen?

 

Da wir indessen neugierig sind und wissen wollen, was das denn ist, worauf Boehm eigentlich hinaus will, folgen wir ihm noch ein Stückchen weiter auf seinem Weg - wir sind ja schon häufig von ihm mit unvorhersehbaren Erkenntnissen überrascht (und bereichert) worden.

Die Antwort bezüglich der "Idee des Eies" bleibt also vage, ebenso wie Boehms hypothetischer Antwort-Vorschlag aus den Reihen einer fiktiven Schar von Mathematikern, es handle sich um ein mathematisches Konstrukt, oder aus den Reihen nicht weniger fiktiver Brancusi-Kenner, es handle sich um die abstrahierende Darstellung eines liegenden Kopfs, wie er in Brancusis OEuvre verschiedentlich begegnet, zumal der imaginäre Sokrates nun weiterfragen und damit die Unhaltbarkeit auch dieser letzten Hypothgese evident machen würde.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Constantin Brancusi, Schlafende Muse, 1909/10; New York, Guggenheim Museum

Wobei sich zumindest die Erkenntnis durchzusetzen beginnt, dass eine eindeutige Antwort auf die sokratischen Fragen vom Künstler offensichtlich gar nicht beabsichtigt war. "Brancusi schuf [mit "Anfang der Welt"] ein Gebilde niedrigen Diffenzierungsgrades (das heißt ohne Glieder und Details), aber mit einer hohen Sinnfülle. Sein logischer Status ist der eines 'Sowohl-als-auch'." (S. 220) Das Programm scheint geradezu in der Uneindeutigkeit zu bestehen.

Damit scheinen wir uns nun dem anzunähern, warum Boehm seine sokratischen Fragen an Kunst unbedingt scheitern sehen will: weil das sokratische Fragen, wie Plato und Aristoteles noch präzisiert haben, auf Eindeutigkeit hin ausgelegt sind. In diesem - philosophischen - Kosmos sind Uneindeutigkeit oder Mehrdeutigkeit usw. schlicht nicht vorgesehen.

 

Aber: "Das Schwanken, die sinnliche Vielfalt, die dem Logiker ein Greuel sein mag, ist des Kunstfreundes Entzücken und tiefe Erleuchtung." (S. 221)

 

In der Tat! Kunst seit dem Beginn der Moderne bezieht ihren Reiz nicht zuletzt aus ihrer Offenheit, der Uneindeutigkeit, die dem Betrachter Raum lässt, eine ganz persönliche Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk zulässt. Die Offenheit des modernen Kunstwerks ist nicht etwa ein Defizit an Eindeutigkeit, sondern gerade einer seiner programmatischen Wesenszüge. Sie ist kein Accessoire, das zu allem anderen noch hinzukommt, sondern geradezu der Grund, auf dem das Fundament des (eigentlichen) Kunstwerks errichtet worden ist (das im Kopf des Betrachters erst entsteht). Suggestion ist dabei gefragter als ein eindeutig dechiffrierbares System von Zeichen, die zudem ihren Reiz verlieren, sobald ihre Botschaft entschlüsselt ist. Boehm auf die Frage nach der Wirkung eines modernen Kunstwerkts: "Eine augenfällige, sinnliche Totalität hat sich etabliert, in der verschiedene Bedeutungsanklänge interferieren. Vielfältige Bedeutungsspuren durchkreuzen sich, leuchten auf und versinken wieder - Sternschnuppen vom Himmel der Ideen. Mag ein 'Platoniker' darüber gering denken, ihr trügerisches und unstetes Erscheinungsbild kritisieren - zweifelsfrei stellt sich eine neue Art von Evidenz ein. Mit den Mitteln der 'Theorie' lässt sie sich weder relativieren noch überbieten." (S. 222)

Dieser grundlegende Zug moderner Kunst aber ist tatsächlich nicht auf dem Weg sokratischen Fragens erschließbar. Hierfür sind andere Fragen notwendig, bildreflexive, künstlerische, ästhetische, interpretierende, und sie zielen nicht auf begrifflich klare Bestimmung. "Der Künstler arbeitet nicht mit der Prämisse Wahr oder Falsch, Einheit versus Vielheit, nicht unter der Alternative begründbares Wissen oder unbegründete Doxa, er arbeitet - traditionell gesprochen - in einem Kontinuum des Wahrscheinlichen. Das Paradox, auch das visuelle, ist ihm ein vertrautes und produktives Vehikel des Ausdrucks." (S. 224)

 

 

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