Lektüre-Blog: Diedrichs liest Boehm - Teil 6

Das bildnerische Kontinuum - Gattung und Bild in der Moderne

 

Ein interessanter Text! Letztlich geht es um die Frage: "Was ist moderne Kunst?" Auch: "Wodurch unterscheidet sich moderne Kunst von vormoderner Kunst?" Und schließlich: "Wie sollte moderne Kunst angemessen ausgestellt werden?"

Um allerdings zu dieser Frage zu kommen, arbeitet sich der Leser zunächst durch Passagen hindurch, in denen nicht klar ist, worum es eigentlich geht. Am Beginn kann er sich sogar fragen, was Boehm hier eigentlich tut. Denn in diesen Passagen bleibt er in einer für Boehm ungewöhnlichen Weise an einer recht willkürlichen erscheinenden Äußerlichkeit hängen ...

 

Boehm beginnt mit Ausführungen zu den klassischen künstlerischen Gattungen - die Gattungen der Bilder. Man lernt es schon im Kunstgeschichte-Grundstudium: In der vormodernen Kunst gehörten die Bilder einzelnen Gattungen an, die hierarchisch genau abgestuft waren:

  1. Historienbild
  2. Aktbild
  3. Genre
  4. Porträt
  5. Landschaft
  6. Stillleben

Was Boehm nun an dieser Aufstellung und Hierarchisierung besonders auffällt, ist die Tatsache, dass viele Bereiche des Lebens - des Alltagslebens - mit Hilfe dieser Bildgattungen nicht darstellbar waren. Diese Bereiche sind gewissermaßen nicht kunstwürdig, sie fallen aus der Aufmerksamkeit der Kunst heraus.

Die Hierarchie der Gattungen - und dies ist einer jener Punkte, an dem man sich fragt, was Boehm hier eigentlich tut - entstehe durch den Anteil, den Handlung in einem Bild habe. Je mehr Handlung, desto höher der Rang innerhalb des Gattungssystems. "Alles, was sich außerhalb dieser Hinsichten und ihrer Spezifikationen befindet, entzieht sich der Darstellung." (S. 161) Dabei muss sich Boehm beispielsweise im Zusammenhang des Porträts einige argumentative Kapriolen ausdenken, um auch hier Handlung festmachen zu können. Seine Lösung: das Porträt einthalte "ein Handlungspotential, ohne welches es starr erschiene, nicht zu jener Lebendigkeit gelangte, die Individualität auszeichnet." (S. 163) Und selbst im Stillleben ließen sich "Spuren menschlichen Tuns" finden, die Ergebnis einer Handlung seien.

 

Bis hierhin erscheinen seine Ausführungen irgendwie fragwürdig und - ein wenig - an den Haaren herbeigezogen, wenig überzeugend. Zumal man nicht weiß, worauf Boehm eigentlich hinaus will. Handlung im Stillleben? Zumindest mag das ein Aspekt sein, der eher marginal zu sein scheint, nebensächlich, nicht der Rede wert. Man fragt sich die ganze Zeit, worum es Boehm mit diesen Bemerkungen eigentlich geht. Denn dass es ihm letztlich nicht um das Handlungspotential des Stilllebens geht, ahnt man.

 

Der nächste Abschnitt ist mit "Entgrenzungsprozesse der Moderne" überschrieben. Wieder erinnert Boehm daran, dass aus dem System der Gattungen viele Bereich des Lebens als 'nicht kunstwürdig' herausfielen.

Das aber - und nun nähern wir uns langsam dem 'springenden Punkt' - ändere sich in der Moderne. Nun werde "jeder Quadratzentimeter der sichtbaren Welt, fast alles, was irgendwo sichtbar ist oder sichtbar gemacht werden kann, [...] auch ein möglicher Gegenstand für ein Bild." (S. 168)

Damit aber würden die althergebrachten Gattungen sukzessive obsolet. Nur noch selten passten die neuen, die modernen Bilder noch in die alte Logik der Gattungen.

 

In einem kurzen Exkurs nimmt Boehm eine wichtige Definition bzw. Klärung vor. Der Begriff der Gattungen nämlich werde nicht einheitlich verwendet. Häufig werde damit schlicht ein Medium  - die Medien - oder eine Technologie gemeint. 'Skulptur' oder 'Fotographie' aber sind nicht im eigentlichen Sinn Gattungen der Kunst. Vielmehr: "Man kann es nicht oft genug betonen: Medien sind keine Bilder!" (S. 169) Die Medien seien lediglich deren techchnische Voraussetzungen, sie ermöglichen Bilder, sind selbst aber keine.

 

Zurückgekehrt zu seinem eigentlichen Argumentationsgang beschäftigt sich Boehm im Folgenden mit dem Phänomen der Abstraktion, die er als "Autonomisierung der Formen" bezeichnet. Auch sie könnten noch immer Bezüge zur Welt haben, wie sich beispielsweise an Bildern Kandinskys sehen lässt.

 

Wassily Kandinsky, Improvisation 26, 1912; München, Galerie im Lenbachhaus

 

Hier sind unschwer Berge, die Umrisse von Menschen, auch eine Hand mit einem Stift zu erkennen - Bezüge zur Wirklichkeit also, die in dem abstrakten (nicht 'gegenstandslosen') Bild verarbeitet werden.

 

Mit der Abstraktion, so Boehm, verschwinde die klassische Gliederung der künstlerisch darstellbaren Wirklichkeit nach Geschichte, Individuum, Körper, Natur und Ding, die althergebrachte Gliederung nach Gattungen also. "Jetzt ist jedes einzelne Bild Metapher der Wirklichkeit schlechthin." (S. 171)

Was in der Vormoderne 'Gattung' war, also Gliederung, Unterscheidung, Klassifizierung, wird Boehm zufolge nun 'bildnerisches Kontinuum', das sich nicht mehr in eine jener Schubladen - und nur in diese - stecken lässt, sondern immer das Ganze im Blick habe. Darüber hinaus werden die alten Gattungen überschritten, es werden neue (Techniken) entwickelt, die dem Erleben des 19. und 20. Jahrhunderts näher sind. So entstehen Installationen und Performances, die nicht mehr Darstellung von Handlung, sondern Vollzug, also selbst Handlung sind.

"Es bleibt eine große zu bewältigende Aufgabe, das gattungslose bildnerische Kontinuum in seiner Beschaffenheit und Eigenart zu verstehen", (S. 172) jenes Phänomen also, das letztlich "die Moderne" ist.

 

Und damit beginnt gewissermaßen der wirklich spannende Teil des Aufsatzes, denn nun geht es um Boehms Konzept der Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts. Was Boehm hier und im Folgenden beschreibt, scheint eine veritable Epochenschwelle zu sein: mit der Aufhebung der Gattungen, die Boehm etwas angestrengt beschrieben hat, gehe nämlich die Verwandlung des distanzierten Betrachters, des unbeteiligten Beobachters in den aktiven Teilnehmer einher, in einen Akteur innerhalb des Kunstwerks. Hier erst innerhalb der (abendländischen) Kunstgeschichte scheint das Konzept der Performativität in vollem Umfang umgesetzt zu werden.

 

Das neue Konzept lässt sich besonders gut erkennen an Kunstwerken wie El Lissitzkys "Prounenraum" (1923; nicht erhalten). Dabei handelte es sich nicht um ein Werk, das an der Wand hing und aus der Distanz betrachtet werden konnte, sondern um einen Raum, den der Betrachter betreten musste. In diesem Augenblick wird aus dem Betrachter ein Akteur, ein Teilnehmer, ein Handelnder. "Was immer hier Raum ist", analysiert Boehm, "er ist nicht vorhanden, sondern er entsteht" - nämlich im Erleben des Betrachters (tatsächlich existiert eigentlich kein Raum, es existieren nur Wände; 'Raum' wird daraus erst, indem der Betrachter eine Beziehung zwischen diesen Wänden herstellt, die es aber nur in seinem Bewusstsein gibt, nicht in der äußerlich sicht- und messbaren Wirklichkeit).

Das bedeutet: Der Künstler setzt bestimmte, künstlerische Mittel ein, um "visuelle Energien zu leiten". Indem diese Energien des Betrachters/Teilnehmers zu fließen beginnen, wird er selbst "zum Teil, zum Generator der bildlichen Erfahrung." (S. 175)

Was El Lissitzky damit tut, ist nichts anderes, als den neuen, abstrakten, 'entgrenzenden' Tafelbildern ein angemessenes Ambiente zu verschaffen, das ihre Betrachtung bzw. ihr Erleben erleichtert. Das erscheint wie eine Vorwegnahme der berühmten "Rothko-Chapel" in Houston.

 

Marc Rothko, "Rothko-Chapel", fertiggestellt 1971; Houston (Texas)

 

Bei der Rothko-Chapel handelt es sich um einen kapellenartigen Raum, in dem nur einige wenige Werke Rothkos zum Teil wie Altarbilder aufgestellt sind. Bänke und Sitzkissen laden den Betrachter zum Verweilen und zur Meditation ein.

Auch hier schuf der Künstler - in diesem Fall Marc Rothko, einen angemessenen Raum für die Betrachtung, besser: das Erleben von Kunstwerken, der jenseits der gängigen, musealen Konzepte liegt, einen Raum, in dem das Kunstwerk als Ausgangspunkt für die Versenkung des Betrachters in sich selbst wird. Angesichts dieser Konzepte wird einsichtig, dass ein solches Kunstwerk, eine solche Installation, tatsächlich erst dann vollendet ist, wenn ein Betrachter kommt und in sie eintritt - ihr Angebot annimmt und sie gleichsam 'nutzt'. Ohne diesen 'Teilnehmer' ist ein solches Kunstwerk nichts weiter als die Ansammlung von weitgehend beziehungslosen Materialien.

Werke wie der "Prounenraum" oder die "Rothko-Chapel" also schaffen Raum - für Kunst und für die Fantasie des Teilnehmers. Vor diesem Hintergrund wird auch die 'Entgrenzung' deutlich, von der Boehm spricht: Die Kunst verbleibt nicht mehr in ihrem Rahmen, der die Leinwand einst einfasste und dem Bild seine Grenzen setzte. Sie geht nun darüber hinaus , hinein in den Lebensraum des Menschen, will auf diese Weise ein Kontinuum werden, das den Teilnehmer auch über die eigentliche Installation hinaus begleitet.

Boehm sieht in El Lissitzkys Werk eine Vorform von Brian O'Dohertys "White cube" als neuem, der Kunst angemessenen Ausstellungsraum für die neueste (moderne = offene) Kunst: Nicht mehr wie in "einem Zoo, wo die Besucher gleichzeitig von tausend verschiedenen Bestien angebrüllt werden" (El Lissitzky), sondern als ein Raum, in dem die Ausstellungsobjekte Platz und die Zeit und die Möglichkeit zu ihrer Entfaltung haben.

 

Boehm hat damit über den - etwas umständlichen - Umweg der klassischen Bildgattungen das grundlegende Problem der angemessenen Ausstellung von Kunst angesprochen.

Wenn sich ein Museum als 'Archiv' versteht, in dem Kunstwerke vor allem aufbewahrt werden, ihre Betrachtung und 'Nutzung' dem Besucher selbst überlassen und vor allem sein bildungsbürgerlicher Anspruch berücksichtigt wird, reicht es aus, die Museumswände möglichst ökonomisch zu nutzen, also möglichst viele Bilder auszustellen. Moderner Kunst, die sich vor allem durch ihre Offenheit, ihre 'Unfertigkeit' auszeichnet, geht es jedoch nicht mehr um einen solchen Anspruch. Sie will vielmehr als Medium für Erfahrungen dienen, die auch beispielsweise in einer Art Meditation bestehen kann. Dem ist eine 'antiquarische' oder 'archivalische' Ausstellung mit ihren "tausend verschiedenen Bestien" jedoch eher hinderlich.

Räume, wie sie El Lissitzky, Mark Rothko und Brian O'Doherty entwickeln, ermöglichen eine Kunstrezeption, die über eine bloße Betrachtung hinaus geht. Kunstbetrachtung wird auf diese Weise zu einer Art Selbsterfahrung des Betrachters bzw. Teilnehmers.

Nur in Parenthese gesagt erscheint mir dieser Ansatz moderner Kunst(ausstellung) nicht so weit entfernt zu sein von der Kunst(ausstellung) früherer Jahrhunderte. Auch Kunst beispielsweise im 16. Jahrhundert wollte ja nicht einfach nur belehren, sondern sie wollte klassische Stoffe (aus der Bibel, der antiken Mythologie) aktualisieren und konkretisieren: Der Betrachter sollte sich in sie versenken und in der Betrachtung (im doppelten Wortsinn verstanden) die Bedeutung des historischen Geschehens für seine eigene Gegenwart erkennen. Gelang diese Transformation, konnte er beispielsweise Trost oder Ermutigung erfahren. Ohne diese Versenkung und die daraus resultierende Erfahrung blieb auch ein Kunstwerk, das als Altartafel in einer Kirche stand - und damit den ihm angemessenen Rahmen und Raum hatte - unvollständig und damit unvollendet.

(Das Problem ist also tatsächlich der Raum: Ein Altarbild in einem Museum ist einfach fehl am Platz!)

 

 

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