Lektüre-Blog: Diedrichs liest Boehm - Teil 3

S. 34-53: Jenseits der Sprache? Anmerkungen zur Logik der Bilder

 

Möglicherweise das wichtigste Kapitel dieses Buchs: Es geht um die Frage, warum eigentlich Bilder fälschlicherweise unterschätzt werden. Zweifellos ist die Schrift das angesehenere Medium. Der Schrift oder einem Text kommt gewissermaßen von Natur aus ein höherer Wert zu, im Grunde geht es um die uralte philosophische Frage, was zuerst war: das Wort oder das Bild.

Die Grundthese Boehms lautet, dass nicht das Wort dem Bild, sondern dass das Bild dem Wort zugrunde liegt, dass der Mensch eigentlich nicht primär in Worten denkt, sondern in Bildern, dass diese die Grundlage für sein Denken bilden, welches eigentlich nichts weiter als die Zergliederung und Ordnung des in Bildern Gedachten darstellt.

 

Allerdings setzt Boehm noch früher an: Er beginnt damit, das Bild - Deixis, das Zeigen - als ein eigenständiges Medium darzustellen, das nicht etwa ein defizitäres Denken oder Sprechen ist, sondern ein vollständig eigenständiges Medium mit ganz eigenen Möglichkeiten und entsprechend eigenen Gesetzmäßigkeiten. Bilder erzeugen, so Boehm, nicht auf die gleiche Weise Sinn, wie es Worte tun. Sie besitzen vielmehr "eine eigene, nur ihnen zugehörige Logik. Unter Logik verstehen wir: die konsistente Erzeugung von Sinn aus genuin bildnerischen Mitteln." (S. 34)

Die Bedeutung dieses Hinweises ist wohl nicht zu unterschätzen. Immerhin wird das Bild noch immer häufig mit dem in Verbindung gebracht, der zum Lesen nicht in der Lage ist. Entsprechend betont Boehm nachdrücklich: Diese Logik funktioniere nicht wie die der Sprache, ihre Erzeugung und ihr Verständnis verlaufe auf eine ganz andere Weise, weniger systematisch und zergliedernd, stattdessen wahrnehmend. Sie wird nicht verstanden, sie wird stattdessen wahrgenommen, ist daher ein Medium mit einer wahrscheinlich viel höheren Komplexität, als es das Wort bzw. die Schrift ist, einer Komplexität, die über das Zergliederbare und Eindeutige weit hinaus geht.

 

Diese Einsicht ist umso wichtiger, als Bilder - nicht allein die künstlerischen, sondern überhaupt alle möglichen Formen des Bilds - häufig unterschätzt werden. Ein Bild, so ist landläufig zu hören, bedürfe keiner Erläuterung, es sei 'einfach' und jedem gleichermaßen zugänglich. Dies ist, wie Boehm zeigt, eine geradezu naive Sicht auf die Bilder. "Man weiß, dass Bilder eine eigene Kraft und einen eigenen Sinn haben" (S. 34), und sich mit diesem nicht eigens zu beschäftigen, heißt, sich dieser Kraft ungeschützt auszusetzen, sich ihrer Manipulationsmöglichkeiten geradezu auszuliefern - wie das in der Realität leider ja nur allzu häufig geschieht. (Die gesamte Werbung basiert auf dieser Voraussetzung, nicht zuletzt auch politische Propaganda.)

 

Auch dieser letzte Hinweis ist wichtig: Es geht längst nicht mehr nur um Kunstwerke, um Bilder also aus dem geschützten Bereich des 'Ästhetischen' und der 'Freizeitwelt'. Im Zuge der so genannten digitalen Revolution seit dem späten 20. Jahrhundert ist der Mensch vielmehr Bildern in allen Bereichen seinesLebens ausgesetzt: sie sind "zu einem flexiblen und weltweiten Kommunikationsmittel" geworden, Kommunikation läuft inzwischen zu einem nicht unwesentlichen Teil über Bilder ab, umso mehr, wenn man technische Bilder und Diagramme mit hinzurechnet (und Diagramme sind Bilder!).

 

"Das Nachdenken über Bilder wurde damit zu einer dringenden Forderung. Aufklärung tut not. Bildkompetenz und Bildkritik werden sich nicht entfalten lassen, wenn der Status des Ikonischen unscharf bleibt, Bilder zwar allerorten eingesetzt werden, ohne dass wir hinreichend genau wüssten, wie sie funktionieren." (S. 35)

 

 

Was meinen wir, wenn wir vom "Bild" sprechen?

Ein Bild ist, Boehm zufolge, ein Gegenstand, der auf rätselhafte Weise "Macht auf Körper, Seele und Geist" des Menschen ausübt. (S. 36) Ein Bild

 

"ist ein Ding und ein Nicht-Ding zugleich, befindet sich in der Mitte zwischen schierer Tatsächlichkeit und luftigen Träumen: das Paradox einer realen Irrealität" (S. 37)

 

- solche paradoxen Formulierungen sind in der Wissenschaft beliebt, und da auch Boehm diesem Wissenschaftsbetrieb angehört, begegnen sie hin und wieder in seinen Texten, unabhängig davon, ob sie wirklich Sinn machen. Immerhin aber bezeichnet er damit die Tatsache der "Zwitterexistenz des Ikonischen" (S. 37), also eines Changierens des Bilds zwischen einem Gegenstand der realen Welt und dem Auslöser von Gedanken, Empfindungen, Assoziationen, Träumen, wobei anstelle von "Irrealität" wohl besser vom "Imaginatven" gesprochen würde: Ein Bild ist gewissermaßen ein Steigbügel, der vom Boden der greifbaren Wirklichkeit in die Welt der Phantasie führt.

 

Oder, um wieder näher an die Boehm'sche Terminologie zu kommen: Ein Bild zeigt etwas, es weist über sich hinaus auf etwas, dass dahinter liegt. Der Anblick verweist auf einen Sinn, bringt einen Gehalt hervor.

Wobei der Verweischarakter des Bilds etwas sichtbar oder präsent werden lässt, das ohne ihn unsichtbar oder sogar abwesend bliebe. Bilder schaffen also Gegenwart, schaffen Zugänge zu Abwesendem oder Abwesenden (Personen), wenn es sich beispielsweise um ein Erinnerungsbild an einen Verstorbenen handelt.

 

"Die Macht des Bildes bedeutet: zu sehen geben, die Augen zu öffnen. Kurzum: zu zeigen." (S. 39)

 

 

Warum aber kann dennoch, bei aller programmatischen Abgrenzung, die Sprache bzw. Sprachkritik dem Verständnis des Bilds dienen?

Tatsächlich bestand zwischen Sprache bzw. Wort und Bild seit dem Beginn unserer Kultur vor gut 5000 Jahren ein spannungsvolles Verhältnis. Boehm zeichnet die wesentlichen drei Stationen auf diesem Weg auf:

 

1. Das Bilderverbot im Buch Exodus

Das erste fassbare Dokument über dieses Verhältnis ist das Buch Exodus (2. Buch Mose). Als Gott Mose am Berg Horeb die Gesetzestafeln mit den Zehn Geboten übergibt, steht ganz an dessen Beginn dass Verbot von Bildern. Und während Mose sich von nun an ganz auf das bildlose Wort konzentriert, wird dieses Verbot von seinem Bruder Aaron postwendend übertreten, indem er das Goldene Kalb gießen lässt und es den Israeliten zur Anbetung zur Verfügung stellt.

 

Emil Nolde, Tanz um das Goldene Kalb, 1910; München, Staatsgalerie Moderner Kunst - Die Komplexität des Mediums Bild wird u.a. in Noldes "Tanz um das Goldene Kalb" deutlich. Das Bild ist unverkennbar weit davon entfernt, eine Illustration zum Text zu sein, appelliert stattdessen auf dem Weg über die Sinne an die Gefühle, Ängste und Sehnsüchte des Betrachters, weit über eine sprachliche Fixierung oder einen sprachlichen Appell hinaus.

 

2. Platos Ideenlehre

Plato, der für die folgende Geschichte der Philosophie maßgeblich sein wird, kennzeichnet Bilder als sinnlich und als trügerisch; sie seien "von der Wahrheit doppelt weit entfernt" (S. 41). Einzig der Logos der Ideen führe zur Wahrheit.

 

3. Die Lehre der Kirchenväter

Erst unter den Kirchenvätern etwa seit dem 5. Jahrhundert n. Chr. gewinnt das Bild eine gewisse Rechtfertigung: immerhin ist Gott in menschlicher Gestalt herabgestiegen: er ist 'Fleisch geworden', wie es in der theologischen Literatur heißt, und damit auch bildlich darstellbar. "Die Unsichtbarkeit und Undarstellbarkeit Gott-Vaters gewinnt jetzt durch Christus, den Sohn, einen sichtbaren Repräsentanten." (S. 41) Die Inkarnation rechtfgertigt also auch seine Darstellung in menschlicher Gestalt.

 

Kopie nach Jan van Eyck, Vera icon bzw. Christusporträt, 1438; Berlin, Gemäldegalerie SMB-PK - Die vera icon ist nicht nur ein Beleg dafür, dass Gott in menschlicher Gestalt zum Bild beworden ist. Die Entstehungslegende des Veronika-Bilds (Christus drückt während seines Kreuzwegs sein Gesicht in das Tuch, auf dem ein Abdruck zurück bleibt) erzählt zugleich davon, dass Christus selbst ein Bild geschaffen hat, das sein Abbild zeigt.

 

Seit etwa dem 15. Jahrhundert entwickelt sich dann auch ein säkulares Bildverständnis. Allerdings haftet auch diesem noch immer der Verdacht der 'Dienstleistung' an, so als sei das Bild, das zweifellos meist eine Art 'Botschaft' übermitteln will, nichts weiter als die illustrative - und damit eingängigere, leichter verständliche - Darstellung dieser ursprünglich sprachlich fixierten Botschaft in einem anderen Medium.

 

"Wer aber", so Boehm, "den Text hinter dem Bild allzu stark betont, landet unweigerlich bei einer Dominanz der Sprache, die das Bild - im wörtlichen Sinne - in seinen Möglichkeiten übersieht." (S. 43)

 

Wobei Boehms Kritik an dieser Einstellung noch weit früher ansetzt als bei der Kritik der Dominanz der Sprache über das Bild.

 

"Kein einziges Ding in der Welt schreibt [nämlich] vor, in welcher Form es angemessen darzustellen sei." (S. 43)

 

Auch die Sprache könne demzufolge keine angemessene Darstellung garantieren. Im Grunde ist dies nichts anderes als die berühmte Frage des Pilatus: 'Was ist Wahrheit?' (Johannes-Evangelium, Kapitel 18, Vers 38) Wenn also selbst Begriffe wie "Realität" oder "das Reale" in Frage stehen - wie kann dann ein Medium den Anspruch erheben, diese fragwürdige "Realität" angemessener dazustellen als ein anderes?

Wobei sich Bilder, wie Boehm betont, ohnehin nicht auf die Illustration eines Hintergrundtexts beschränken, sondern "sie bringen ein Zeigen eigenen Rechts zustande". (S. 43)

 

Zwar habe, so führt Boehm weiter aus, die Philosophie im 20. Jahrhundert im Zuge des linguistic turn versucht, das Primat der Sprache über das Bild, die Abhängigkeit aller Erkenntnisse von der Sprache nachzuweisen, doch habe die Gegenbewegung im Zuge des iconic turn wenig später die Bildlichkeit gerade als Grundlage der Sprache herausgestellt. "Begriffe sind für sie erkaltete Metaphern", mithin Bilder (S. 44).

 

In der Folge sei das Ikonische in der philosophischen bzw. wissenschaftlichen Erkenntnisbegründung wiederentdeckt worden. Als Kronzeugen gelten Boehm Edmund Husserl und Ludwig Wittgenstein ["denk nicht, sondern schau!"]. Die Sprachkritik, die diese Zeugen betrieben hätten, führte zu der Erkenntnis, in welchem Maß die Sprache tatsächlich auf der Bildlichkeit beruhe:

 

"Es sind anschauliche und ikonische Evidenzen, die der Sprache zu ihren Möglichkeiten verhelfen." (S. 45)

 

Und damit wiederum deute sich eine "epochale Verschiebung" an:

 

"Der Logos dominiert nicht länger die Bildpotenz, sondern er räumt seine Abhängigkeit von ihr ein. Das Bild findet Zugang zum inneren Bereich der Theorie, dem die Erkenntnisbegründung obliegt." (S. 45)

 

Oder, um es einfacher zu sagen: Auch die Philosophie entdeckt, dass mithilfe der Bilder eigene Erkenntnismöglichkeiten gegeben sind, die nicht etwa defizitäre sprachliche Erkenntnisse sind, sondern eine ganz eigene Qualität haben, die also nur über sie möglich sind. - Wobei im Übringen die Annahme des Primats der Sprache über das Bild ohnehin nur für das Philosophieren gilt, wie beispielsweise ein Blick auf den Umgang der Nachrichtenmedien mit den Bildern belegt: Hier gilt nach wie vor ein Bild - trotz allen Wissens um seine Manipulierbarkeit - als authentisches, evidentes Beweismittel.

 

"Jenseits der Sprache", so fasst Boehm seine Ausführungen zusammen, "existieren gewaltige Räume von Sinn, ungeahnte Räume der Visualität, des Klanges, der Geste, der Mimik und der Bewegung. Sie benötigen keine Nachbesserung oder nachträgliche Rechtfertigung durch das Wort. Der Logos ist eben nicht nur die Prädikation, die Verbalität und die Sprache. Sein Umkreis ist bedeutend weiter." (S. 53)

 

 

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