Wie Bilder Sinn erzeugen - Prolog

Man kann die Frage, was eigentlich Kunst sei (die uns bisher beschäftigt hat), auch ein wenig 'tiefer hängen'. Man kann sie einschränken und konkretisieren. Auf diese Weise werden kleinere Schritte hin zur Beantwortung der 'großen' Frage möglich, die uns vielleicht weiter bringen als die Frage, die auch weiterhin über dem Ganzen steht.

Statt sich abstrakt mit 'Kunst' zu beschäftigen, kann man sich auch zunächst fragen, was eigentlich ein Bild ist, was es auszeichnet, welche Abgrenzungen man vornehmen kann und was das künstlerische Bild beispielsweise von einem technischen Bild unterscheidet. Denn Bild ist ja nicht gleich Bild, und nicht nur ein Gemälde, sondern auch die Aufnahme eines Ultraschall- oder eines Röntgengeräts ist ein "Bild" (und welche ästhetische Faszination letzteres ausüben kann, hat schon Thomas Mann im "Zauberberg" [1924] vorgeführt).

 

Um die Frage, was eigentlich ein Bild sei und wie es funktioniert, hat sich in den vergangenen 30 Jahren ein eigener Zweig der Wissenschaft gebildet und etabliert. Er hat sich den schlichten Namen "Bildwissenschaft" gegeben. Bedeutende Wissenschaftler haben sich Gedanken um das Bild gemacht, was umso wichtiger war (und ist), als seit einiger Zeit der Begriff des iconic turn durch die Kulturwissenschaften geistert und den Eindruck vermittelt, als habe nach der Hinwendung der abendländischen Kultur zur Schrift im 16. Jahrhundert nun, im 20. Jahrhundert, eine Hinwendung zum Bild stattgefunden, die die abendländische Kultur in ebenso grundlegender Weise neu prägen wird, wie es das Pendant im 16. Jahrhundert bewirkte.

 

Die Beobachtung des iconic turn, der Hinwendung unserer Kultur zum Bild, berührt also unmittelbar unser kulturelles und soziales Selbstverständnis. Wir sind Bildmenschen, suggeriert diese These, das Bild prägt unsere Kultur und damit unseren Umgang mit uns selbst in einer Art und Weise, die in seiner Bedeutung gar nicht überschätzt werden kann. Eine der Schlüsselkompetenzen unserer Zeit, darüber scheint man sich allgemein einig zu sein, besteht gerade im richtigen, d.h. kritischen, mündigen Umgang mit dem Medium 'Bild', mehr noch als in dem des Mediums 'Schrift'.

 

Wie aber geht das vonstatten? Wie ist es möglich, dass das Medium der Schrift, das die Geschichte des Abendlands einst revolutioniert hat, von einem so andersartigen Medium wie dem Bild verdrängt wird? Was macht die Faszination dieses 'neuen' Mediums aus? Und was sind die Konsequenzen für unsere Kultur und für uns selbst?

 

Der renommierte Bildwissenschaftler Gottfried Boehm, bis 2012 über 26 Jahre hinweg Ordinarius für Kunstgeschichte an der Universität Basel und von 2005 an Direktor des Schweizerischen Nationalen Forschungsschwerpunkts 'Bildkritik', hat sich seit den späten 1970er Jahren intensiv Gedanken über eben diese Fragen gemacht. In seinem 2007 erschienenen Buch "Wie Bilder Sinn erzeugen" hat er eine Reihe seiner seither entstandenen, grundlegenden Texte im überarbeiteter Form zusammengestellt.

 

In den folgenden Wochen möchte ich mich in einer Art Lektüreseminar (bzw. -blog) gern mit diesem Buch beschäftigen. Wie Bernd Stiegler in der Neuen Zürcher Zeitung schrieb, scheint auch mir dieses Buch programmatischen Charakter zu haben - es lohnt sich also, es genau zu lesen.

 

Dazu möchte ich Sie einladen: Lesen Sie mit - ob das Buch oder diesen Blog -, denken Sie mit, diskutieren Sie mit! Der Umgang mit Bildern geht weit über Kunst und Kunstbetrachtung hinaus. Er betrifft letztlich unser Verhältnis zur Wirklichkeit, die uns häufig durch Bilder erst vermittelt wird.

 

 

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0