Angesichts einer ungewohnten Fülle erschütternder Ereignisse in der Weltgeschichte wie der jüngsten Attentate in Paris, aber auch der anhaltenden Konflikte in der Ukraine, in Syrien und in Afrika und der daraus resultierenden Ströme flüchtender Menschen stellt sich die Frage: Warum eigentlich Kunst? Gibt es in diesem Augenblick nichts Wichtigeres, mit dem wir uns beschäftigen sollten, als ausgerechnet Kunst? Ist es nicht egozentrisch und ignorant, ins Museum oder in Ausstellungen zu gehen, schöne Bilder anzusehen und schöngeistige Diskussionen zu führen, während anderswo Menschen sterben oder um ihr Überleben kämpfen müssen?
Die Antwort auf diese Frage kann eigentlich sehr kurz ausfallen, es braucht dazu keine kunsttheoretische Diskussion, wenn überhaupt, dann eher eine anthropologische oder psychologische: Kunst ist eines der wirksamsten Mittel, mit denen wir unser Inneres - unseren Geist und unser Gemüt, unser Empfindungs- und Einfühlungsvermögen, unsere Art zu denken und zu fühlen - pflegen können. Und es tut gut, sich einzugestehen, dass wir es nötig haben! Ja, all die in jüngster Zeit aufflammenden Konflikte zeigen sogar, wie sehr wir es nötig haben.
Die fahrlässige Vernachlässigung unseres 'Innenlebens' ist kein neuartiges Phänomen. Schon seit geraumer Zeit wird sie von feinfühligen Menschen angeprangert. So ist schon in einem 1852
erschienen Buch zu lesen: "Wir verwenden fast auf jeden Gegenstand unserer körperlichen Ernährung oder Pflege mehr als auf unsere geistige Nahrung." Damit legt der Autor den
Finger genau auf den wunden Punkt: Auch in unserer Gesellschaft am Beginn des 21. Jahrhunderts ist es möglich, dass jemand mit 16 oder 19 Jahren die Schule verlässt und nie wieder etwas für seine
'geistige Nahrung', oder anders formuliert: für die Pflege und Weiterentwicklung seines Geists, seines 'Innenlebens' tut. Er wird im Laufe seines Lebens auf viele Dinge unendlich viel Energie,
Geduld und finanzielle Mittel verwenden - auf den Bau und den Erhalt eines Hauses, auf Ernährung, Kleidung und die Gesundheit seines Körpers, auf die Pflege seines Autos, auf eine
Computerausstattung und den Konsum von Unterhaltungsmedien -, aber möglicherweise tut er nie wieder bewusst etwas zur Pflege seines Geists, so dass sich dieser nach einiger Zeit in einem "traurig
verwahrlosten Zustand" befindet, wie es in dem Buch von 1852 weiter heißt. Denn auch die Seele leidet, wenn sie nicht gepflegt wird, ganz so, wie es ein Haus oder ein Auto tut, das immer
nur benutzt, niemals aber gepflegt und instandgesetzt wird. Der Unterschied besteht darin, dass wir die Verwahrlosung von Haus und Auto sehen, während die unseres Geists und
Gemüts dem äußerlichen Blick verborgen bleibt. Wir erkennen sie nur indirekt, wenn wir beispielsweise Aggression, Ignoranz, Intoleranz, Herrschsucht, Egozentrik bemerken.
Die Kunst ist eines der wirksamsten Mittel zur Pflege unseres Geists und unserer Seele. Sie fördert die Sensibilität, die Bereitschaft zum Fragen und zum genauen Hinhören, den Wunsch sich einzufühlen und sich ein Urteil erst langsam entwickeln zu lassen, statt im ersten Augenschein bereits zu einer festen Meinung zu kommen, die sich nicht mehr revidieren lässt. Weil Kunst dies tut, musste sie früher einmal notwendigerweise schön sein. Die Schönheit sollte den Menschen besser machen, so lautete der 'Sinn' der Kunst didaktisch formuliert. Heute arbeitet Kunst auch mit dem Hässlichen und dem Schockierenden, aber es geht noch immer darum, den Menschen aus seiner lethargisch-passiven Konsumhaltung herauszuholen und seine inneren Kräfte zu aktivieren, und seien es die des Widerspruchs. Kunst belebt!
In der Konsequenz kann das beispielsweise heißen: Wir bräuchten weniger Psychotherapien, wenn wir uns mehr mit Kunst beschäftigen würden. Und mit Blick auf die
'Flüchtlingsströme' heißt es außerdem: Kunst macht sensibler für die Menschen und ihre Nöte. Sie macht uns offener für das Leid der anderen und weckt gelegentlich sogar die Leidenschaft, nach
Möglichkeiten zu suchen, ihnen zu helfen - hier in Europa oder in den Heimatländern der Flüchtlinge. In diesem Sinn brauchen wir die Kunst so nötig, wie das tägliche Brot.
Anmerkung:
Die Zitate "Wir verwenden ..." und "in einem traurig verwahrlosten Zustand" stammen aus: Henry David Thoreau, Walden oder Leben in den Wäldern, Zürich 1979/2004, S. 166f.
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